[»Theobromin«]
Daimones
Für den Fall, dass einige der Dämonen, bei der letzten Zählung waren es dreizehn an der Zahl, die mir gelegentlich zusetzen, allzu aufdringlich werden, habe ich stets die Rufnummer eines Exorzisten griffbereit; meist genügt es allerdings, wenn ich mich in feierlichem Ernst mit hoch erhobenem Kopf und geschlossenen Augen in alle vier Himmelsrichtungen verneige und in scharfem Flüsterton viermal hintereinander etwa ausrufe: „Weiche von mir, Dämon der Liebe!“ Das Blinzeln ist hierbei wohlgemerkt strengstens untersagt. Um bei der Wahrheit zu bleiben, den Mentalisten habe ich bisher nie wirklich benötigt, da ich Dinge an und für sich gern selbst im Griff habe, zumal ich den Kerl ohnehin für einen Scharlatan und Halsabschneider halte. Würde ich die Spur ernsthaft verfolgen, wozu ich, offen gesagt, überhaupt keine Lust habe, erwiese sich die mir vorliegende Bankverbindung gewiss als eines dieser Offshore-Konten auf den Cayman Islands. Übrigens ist es schon eine ganze Weile her, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, spielte sich die Sache auf irgendeiner Brücke in Berlin ab, dass mir ein besorgter Passant besagte Rufnummer kommentarlos zugesteckt hatte. Offenbar erweckte ich damals den Anschein, dass ich springen wollte, und tatsächlich quälte mich seinerzeit ein geradezu fataler Liebeskummer, den ich mir, wie so oft, durch mein zügelloses Wesen selbst eingebrockt hatte. Möglicherweise, und das kommt mir erst jetzt nach all den Jahren in den Sinn, handelte es sich ja bei dem Passanten, der mir seine Anteilnahme bloß vorgegaukelt hatte, um den Exorzisten selbst, der sich auf diese Weise um Kundschaft bemühte. Dass es allerorts von Hochstaplern und Betrügern nur so wimmelt, davor hatte mich schon meine hochverehrte Großmutter im Vorschulalter gewarnt, die mir, und dies nur am Rande, auch beibrachte, wie man einen Dämon selbstständig und nachhaltig zügeln kann. Zugegebenermaßen sind dreizehn Dämonen gelegentlich recht lästig, die meisten Leute, mit denen ich zu tun hatte, plagten sich, so viel ich weiß, allerhöchstens mit zwei oder drei herum und empfanden dies schon als Qual. Manchen hatte ich den Rat gegeben, ganz im Geiste meiner Großmutter und freilich umsonst, sich am besten mit ihren Dämonen auszusöhnen oder, sofern gerade ein neuer hinzugekommen war, sich mit diesem unvermittelt anzufreunden, noch bevor er anfangen konnte, irgendwelche Mätzchen zu machen.
Häufig erwiesen sich die Biester im Laufe der Zeit als weitaus harmloser, als man vielleicht anfangs anzunehmen geneigt war. An langatmigeren Tagen, angeblich sind Weihnachtsfeiertage in besonderem Maße für derartige Rituale geeignet, rede ich den Geistern gut zu oder gebe ihnen Namen; hie und da ist es durchaus auch einmal sinnvoll, den einen oder anderen mit scharfen Worten anzuherrschen: „Benimm dich anständig, Don Alfonso!“ Im Normalfall hat man dann umgehend seine Ruhe. Der Dämon der Liebe ist allerdings, insbesondere bei älteren Herren, ein wahrer Plagegeist, dem man unter gar keinen Umständen respektvoll begegnen darf. Schon in frühester Jugend hatte ich mir angewöhnt, diesen Racker zu duzen, ganz gleich, wie verspielt oder erhaben er sich auch aufzuplustern verstand, woraus ich bis zum heutigen Tag die Lehre zog, dass falsche Scham und Ehrfurcht vor den Dämonen die Seele vergiften und allein schon aus diesem Grund wäre ich auch damals schon sicherlich niemals in die Spree gesprungen, zumal ich unter erheblicher Höhenangst leide, auch dies ein Geniestreich eines Vertreters dieser Schicksalsmächte, den ich Erdwin nenne. Den Geist der Liebe nenne ich seit kurzem kameradschaftlich Hardy und denke dabei, was ich ihn natürlich nicht wissen lasse, an Novalis. Beunruhigend, selbst für mich, wird die Sphäre des Dämonischen, wenn die für gewöhnlich männlichen Kräfte in weiblicher Gestalt als Musen auftreten; oft entpuppen sich jene ideellen Wesen nämlich schlicht als identisch mit ihren männlichen Kollegen. Mit einigen dieser im Grunde genommen herzerfrischenden Erscheinungen, deren gewöhnliche Namen im Übrigen seit rund drei Jahrtausenden dieselben geblieben sind, sollte man es sich erfahrungsgemäß keinesfalls verscherzen, da man sich sonst rasch auf irgendeiner viel zu hohen Brücke wiederfinden könnte. Das bewährteste Heilmittel, wobei hier guter Rat durchaus sehr teuer werden kann, ist bekanntermaßen die Musik, die abhängig von Dosierung und Dauer der Behandlung noch so tiefe Schürfwunden kuriert; bedauerlicherweise wird auch mit diesem Tonikum viel Schindluder getrieben.
Immer wieder suchte mich in den vergangenen Monden eine Maid in meinen Träumen heim, die sich aller griechischen Mythologie zum Trotz mit einem Antlitz eher aus dem nordafrikanischen Raum als Esmeralda zu erkennen gab, auch wenn kein Zweifel daran bestehen konnte, dass sie Erato, wie wir sie mit ihrem durchsichtigen blauen Gewand, einer Art Negligée, und dem knabenhaften Gesicht von dem antiken Fresko aus Pompeji her kennen, täuschend ähnlich sah. Sie, die Liebevolle, trug eine Brille, spielte statt auf der Harfe auf einer Rasem, und ihr Busen wirkte sehr viel voller als der auf dem Fresko, wenn auch durchaus noch nicht üppig. Als sich unsere Lippen auf dem Höhepunkt der traumhaften Begegnung beinahe berührten, fragte sie brüsk, aber nicht ohne eine gewisse Koketterie: „Wann haben Sie zum letzten Mal einen Zahnarzt aufgesucht, Wertester?“ Der Schmerz darüber, dass mich Esma, die Erhabene, wie ich sie fortan zärtlich nannte, siezte, begleitete mich bis zu unserer nächsten Begegnung.
Nur wenige Eingeweihte wissen, dass schon ein einziger Akkord auf dem Blasinstrument genügte, um nicht nur alle bösen Geister, sondern vor allem die zum Teil wohlgesonnene Schar der Musenkonkurrenz ein für allemal aus dem Verkehr zu ziehen, vorausgesetzt natürlich, man gelobt der Erhabenen, ihr und ihrem Spiel nicht mehr zu entkommen zu versuchen. „Meine Ergebenheit und Treue, o Sia“, beteuerte ich alsbald, „gehören dir allein.“
Träume brechen in der Regel jäh ab, so auch diese wahre Begebenheit; der weiche und feine Klang der Kürbismundorgel begleitet den Erzähler jedoch seitdem ohne Unterlass.
Streicherquartett
Der Kontrabass, durch und durch loyal, eröffnet den Sinnenkitzel mit einem langen Bogenstrich, dem, wenn man ihn in Worte übersetzte, und nichts anderes ist hier der Fall, der Geruch des gekauften Brotes vom Vorabend noch anhaftete. Sein Pizzicato mischt sich unter die stummen Mitwirkenden, weitere fünfzehn an der Zahl, ganz ohne Instrument, und zieht sich bis ans Ende der Komposition, den Duft frisch gezapften Weizenbiers verströmend, bis sich die Stimme der Bratsche in die gezupften Saiten des blonden Hünen mengt, zunächst kaum hörbar, nach und nach betonter, virtuos ausgeführt im Tempo des Wischens auf dem Smartphone und den Schattierungen unzähliger Netflixserien, stets taktvoll, mit gelegentlich argwöhnischem Blick auf die Violine, deren zu Gehör gebrachte Vierteltöne im Geiste der Arabeske ihr gänzlich unzugänglich sind – ein hoffnungsloser Fall im ¾-Takt der beiden Herzen, wie man sagt, am rechten Fleck. Der Einsatz des Violoncellos ist an Virtuosität, jedenfalls wenn es mit rechten Dingen zugeht, unerreichbar, ohne sich indessen in den Vordergrund drängen zu wollen, sodass stets Raum für das fortfolgende Col-legno-Spiel der Ausführenden bleibt. Im Stil knüpfen die Darbietungen des Instruments an die Tradition höfischer Musik, aber auch an die erlesensten Klänge später Romantik an, um so in vollendeter Weise Neues entstehen zu lassen. Stolz und erhaben wirken die für den unbeteiligten Außenstehenden mikrokosmischen Verzierungen der Violine, die ganz entfernt und dunkel, andeutungsweise vielleicht, teils undurchsichtig, teils zart, an eine Variation über die Mondscheinsonate erinnern mögen, bei genauerem Aufmerken und Aufhören aber den verschwommen heimatlosen Zauber der Reisenden verrät, deren Sehnsucht nach Rückkehr unstillbar bleibt, dem wandernden Stern gleich, dessen Anziehung auf seiner Unnahbarkeit beruht, was, ganz im Sinne der Komposition, allenfalls für das aus Leidenschaft mit Humor gesegnete Ohr einen tieferen sympathetischen Sinn ergibt. Sie entsprechen im gedämpften Tonfall und unnachahmlichen Klang dem universellen „Ya Rayah“ des Einwanderers sowie dem leisen Einwand des tagträumenden Mondkindes, dem man nachsagt, es wandere mit rötlichen Augen durch die Krater der Mondlandschaften, deute die Geheimnisse des Donners, umgeben von Hexen und Magiern, deren Zeit in den wenigen bewohnbaren Regionen der unwirtlichen Wälder nunmehr, entgegen vehementer Interventionen der zuständigen Bauämter, wieder gekommen zu sein scheint; es übersetze die Sprache der Farne, Moose und Pilze, zähme die Blitze, den Graupel und den Hagel, wettere wider die Götter der Technokratie, gegen die Strahlung und die Statistik, hüte den Tau, den Nebel und den Regen. Manche fürchten sein vernarbtes, verhärtetes Gesicht (Xeroderma pigmentosum), andere widmen ihm Tänze und Gesänge: „Wie schön scheint der Mond! Wirklich, wie schön!“ Trotz präzise notierter Abweichungen und Abschweifungen endet die west-östliche Komposition im Unisono als Lobgesang auf den Golestān: „Gibt es eine Rose, im Rosengarten dieser Welt, ohne Dornen?“ Da capo.
Wolga wohl gar?
Du hast im Himmel viel' Engel bei dir
Schick' doch einen davon auch zu mir.
[Bela Jenbach]
Hast du in den Medien verfolgt, dass seit Tagen die Wolga dunkelblutrot durch Moskau strömt? Ein Rätselraten sondergleichen, die CIA sei es gewesen, was allerdings auch die russische Führung heftig dementiert. Die hätten vielleicht die Nordstreamröhren gesprengt, ja, in der Ostsee. In Moskau liefen wohl auch genügend schräge Spione der USA herum, aber richtig etwas zustande gebracht hätten die doch noch nie.
Die Regierung hat nun provisorisch die Wolga mit farbigem Licht angestrahlt, herausgekommen ist dabei aber kaum etwas Vernünftiges, zumal das Phänomen ja nachts sowieso weniger auffällt. Wie überhaupt derart große Mengen Farbe und auch wo in den Fluss kämen, kann sich keiner erklären. Die Leute fangen jetzt an über Heuschrecken und Frösche zu fantasieren, was aber schon unter Strafe stehen soll. Es sind ja auch böse Scherze, und besonders erbost darüber soll der Patriarch von Moskau sein. Fehlte nur, dass jemand angesichts des Heldentods so vieler russischer Jungen beginnt von massenhaftem Sterben der Erstgeburt zu faseln. Wenn der Satz nicht mal nach hinten losgeht!
Jemand hätte also irgendeinen Farbmist in die Wolga gekippt. Verdammt, wer sich dabei erwischen lässt! Die Leute sind nämlich abergläubisch, besonders in Fragen der Religion. Was wäre die Religion ohne Aberglaube! Mein Onkel Karl Ludwig hat als Teenager mit ein paar Kumpels einen Eimer Seifenpulver bei uns im Dorf in den Springbrunnen geschüttet. Der Schaum soll weiß Gott wie weit überall rumgeflockt sein. Wobei die Leute damals fanden - oder war das bloß ich, ich meine, einen ganzen Eimer Seifenpulver einfach so verpulvern, als Gag! Oder später, das Auto, das sie zerdeppert haben, mit Vorschlaghämmern, ich glaube tatsächlich in Rüsselsheim. Das sollte Kunst sein? Die Opelaner haben sich ganz schön aufgeregt. Erstens, bau mal so einen Wagen zusammen, das sind so und so viele Arbeitsstunden! Und leisten konnte sich der Durchschnittsopelaner den Kadett mal gerade eben so. Aber Künstler haben ihre Mäzene. Die kaufen so einen Kadett wie nichts, und dann wird der zusammengedroschen, mit Vorschlaghämmern! Die Stadt erlaubt sowas, und dabei war der Kulturdezernent von der SPD. Ja, Tatsache! Der Arbeiter sollte befreit werden vom Fetisch der Wohlstandsgesellschaft. So ist es immer, wenn man von etwas befreit wird, klar, von Leuten, die schon befreit sind, Papa hat's bezahlt. Ein weißer Kadett war's, ich seh' ihn noch vor mir wie heute.
Und das geht bestimmt auch dem Putin durch den Kopf. Blut in der Wolga ist nochmal eine ganz andere Sauerei als Waschpulver im Springbrunnen im Dorf. Aber doch auch ein Dreck, schon aus Umweltsgesichtspunkten. Das machen dann solche „Aktivisten“. Da hat er schon recht, der Putin, und dafür lieben ihn auch die Leute. Auch in Russland müssen die Leute sparen, der Putin selber jetzt nicht, aber sonst schon viele. Autos zu zertrümmern ist definitiv keine Kunst, jedenfalls keine richtige, über die die Nachwelt staunt. Und die Sache mit dem Blut in der Wolga, es ist ja kein richtiges Blut, aber schon ein ziemliches Zeug, denn Tatsache, der Fluss ist seit Tagen ritzerot, also das ist auch irgendwie gegen die kleinen Leute. So wie sie jetzt in Museen Spaghetti oder sonstwas auf kostbare Gemälde schmeißen. Sollte das nun auch in Russland damit losgehen, dazu wird ein Präsident gebraucht, der durchgreift. Soll er die komplette Feuerwehr entlassen, wenn die die Wolga nicht mehr sauber kriegen. Überhaupt, irgendwo müssen die doch das Zeug permanent reinkippen. Aber das ist es ja gerade, sie finden die Stelle nicht, der ganze Fluss übelst rot, es ist nicht zu fassen!
* * *
Die Zeitungen überschlugen sich, obwohl eigentlich von Anfang an klar war, dass das schon mal nicht stimmte. Der Witz war, dass es auf seine Weise durchaus seine Wirkung erzielte. Zum Beispiel wurde ein Weiterleiten der "Nachricht" sofort unter Strafe gestellt. Und die russischen Medien überschlugen sich vor Beweisen, dass es sich hier um Fake News handelte. Das wiederum rief etliche Witzbolde auf den Plan, zum Beispiel sollen Jugendliche in irgendeinem Kaff im Ural oder weiß Gott in welcher Pampa rote Farbe in einen dörflichen Springbrunnen geschüttet haben. Das Zeug hatte die Umwälzpumpe verstopft und klumpte bald nur noch erbärmlich in dem verschrammten Becken aus irgendeiner Vorzeit. Nichtsdestotrotz fuhren sie ganz großes Geschütz auf. Ein paar bleiche, spillerige Jungen wurden in Polizeiautos gezerrt und müssen mit mittelalterlich martialischen Strafen rechnen. Irgendein Provinzgeistlicher wetterte etwas von westlicher Verwahrlosung und Schändung heiliger Symbole. Die Seelen der Jugend verrotteten unter der Flut amerikanischer Verderbnis. Mit Stumpf und Stiel müsse ausgerottet werden, was an der gesunden Volksseele nage. Richtig in Rage hatte sich der Typ geschimpft. Eigentlich hörte ihm keiner zu, denn die dummen Jungen taten doch allen leid. Es war ein Dummerjungenstreich und nichts weiter. Gut, betete man halt für ihre armen Seelen. Vielleicht ließ sich auch bei der Polizei etwas machen, ordentlich verdienen tat man da schließlich nicht. Und die Polizisten hatten selber Kinder, und die waren auch keine Engel. Ich war ja selber dabei, damals bei dieser Aktion mit dem Seifenpulver. Mit Politik hatte das nichts zu tun, für uns jedenfalls nicht. Wir waren einfach übermütig, wenn du mich fragst. Aber das hätten wir ja nicht so genannt. Wie das eben so geht unter Jugendlichen, einer hat eine verrückte Idee, und dann schaukelt sich die Sache hoch. Einer allein hätte das Geld nicht ausgegeben für den Eimer Waschmittel. Da aber jeder etwas gab, war am Ende sogar etwas mehr da, als der blödsinnige Eimer kostete. Dash, weißer geht's nicht. Das Zeug hat am Anfang gar nicht richtig geschäumt. Weil wir auch zu zaghaft waren. Dann hat einer von hinten geschubst, und der ganze Eimer ist mit reingefallen. Den haben wir rausgefischt. Sah irgendwie nicht richtig aus mit dem schaukelnden Eimer. Und dann ging ja auch wie auf Kommando die Fontäne los. Klar, dann hat's geschäumt. Aber wie! Nicht die ganze Straße runter, wie's nachher geheißen hat, aber schon ganz ordentlich. Irgendwann, als alles schon mehr oder weniger vorbei war, ist auch die Polizei gekommen. Richtig aufgeregt haben die sich auch nicht.
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