Samstag, 20. August 2022

Bzw. ۲ ۶ ۲ [»Kleine Glücksmomente und große Monstrositäten«. (Zehn) Bildgedichte von Gerd de Bruyn (für Kuttel Daddeldu)]

 


[»Heldengedenken«, Goedart Palm (2015)]



Was ist denn Leben?

Ein ewiges Zusichnehmen und Vonsichgeben.


[Aus: Joachim Ringelnatz »Turngedichte« (1923)]





Ούτε-ούτε«, Elias Kasselas (2021)]






Was du erwirbst an Geist und Gut


Erwirb dir viel und gib das meiste fort.

Viel zu behalten, hat den Wert von Sport.

Behalte Dinge, die du innig liebst,

Bis du sie gern an Freunde weitergibst.

Liebe und halte frei dein Eigentum.

Besitz macht ruhelos und bringt nicht Ruhm.


[Aus: Joachim Ringelnatz »Gedichte dreier Jahre« (1932)]









Seepferdchen


Als ich noch ein Seepferdchen war,

Im vorigen Leben,

Wie war das wonnig, wunderbar

Unter Wasser zu schweben.

In den träumenden Fluten

Wogte, wie Güte, das Haar

Der zierlichsten aller Seestuten,

Die meine Geliebte war.

Wir senkten uns still oder stiegen,

Tanzten harmonisch um einand,

Ohne Arm, ohne Bein, ohne Hand,

Wie Wolken sich in Wolken wiegen.

Sie spielte manchmal graziöses Entfliehn,

Auf daß ich ihr folge, sie hasche,

Und legte mir einmal im Ansichziehn

Eierchen in die Tasche.

Sie blickte traurig und stellte sich froh,

Schnappte nach einem Wasserfloh

Und ringelte sich

An einem Stengelchen fest und sprach so:

Ich Hebe dich!

Du wieherst nicht, du äpfelst nicht,

Du trägst ein farbloses Panzerkleid

Und hast ein bekümmertes altes Gesicht,

Als wüßtest du um kommendes Leid.

Seestütchen! Schnörkelchen! Ringelnaß!

Wann war wohl das?

Und wer bedauert wohl später meine restlichen Knochen?

Es ist beinahe so, daß ich weine –

Lollo hat das vertrocknete, kleine

Schmerzverkrümmte Seepferd zerbrochen.


[Aus: Joachim Ringelnatz »Allerdings« (1928)]













Die neuen Fernen


In der Stratosphäre,

Links vom Eingang, führt ein Gang

(Wenn er nicht verschüttet wäre)

Sieben Kilometer lang

Bis ins Ungefähre.

Dort erkennt man weit und breit

Nichts. Denn dort herrscht Dunkelheit.

Wenn man da die Augen schließt

Und sich langsam selbst erschießt,

Dann erinnert man sich gern

An den deutschen Abendstern.


[Aus: Joachim Ringelnatz »Kinder-Verwirr-Buch« (1931)]








Natur


Wenn immer sie mich fragen,

Ob ich ein Freund sei der Natur,

Was soll ich ihnen nur

Dann sagen?


Ich kann eine Bohrmaschine,

Einen Hosenträger oder ein Kind

So lieben wie eine Biene

Oder wie Blumen oder Wind.


Ein Sofa ist entstanden,

So wie ein Flußbett entstand.

Wo immer Schiffe landen,

Finden sie immer nur Land.


Es mag ein holder Schauer

Nach einem Erlebnis in mir sein.

Ich streichle eine Mauer

Des Postamts. Glatte Mauer aus Stein.


Und keiner von den Steinen

Nickt mir zurück.


Und manche Leute weinen

Vor Glück.


[Aus: Joachim Ringelnatz »Flugzeuggedanken« (1929)]










[»Ιδού! Ο αποδιοπομπαίος τράγος!«, Elias Kasselas (2021)]









Und ich darf noch


Hie und da, dann und wann

Ein Wehweh. Doch im ganzen:

Ich, der ich nicht tanzen kann,

Sehe gern andere tanzen.


Noch immer in Arbeit gestellt

Und die Arbeit genießend,

Finde ich dich, ausstudierte Welt,

Immer neu fließend.


Gehe durch die Straßen einer Stadt

Um Dinge herum, die stinken.

Was Beine oder keine Beine hat,

Kann blinken oder winken.


Ich kann einen Pflasterstein,

Der am Rinnstein liegt, aufheben.

O schönes Auferdensein!

Und ich darf noch leben.


[Aus: Joachim Ringelnatz »103 Gedichte« (1933)]










[»Old Robot No. 10«, Goedart Palm (2017)]









Die Brüder


Der Weekend traf den Weekbeginn:

»Guten Morgen!«

»Guten Abend!«

Sie mochten sich anfangs nicht leiden,

Und immer hatte von beiden

Der eine ein unrasiertes Kinn.


Trotz dieser trennenden Kleinigkeit

Lernten sie doch dann sich leiden

Und gingen klug und bescheiden

Abwechselnd durch die Zeit


Und gaben einander Kraft und Mut.

Und schließlich waren die beiden

Nicht mehr zu unterscheiden.

Und so ist das gut.


[Aus: Joachim Ringelnatz »Reisebriefe eines Artisten« (1927)]



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