Mittwoch, 9. Februar 2022

Z. Z. XXIX [»Endlich arbeitslos. Tödliches Glück« - Kapitel 1 aus einem bisher unveröffentlichten Roman von Friedrich-Karl Praetorius]

 


[»Ping Pong für die Neue Sachlichkeit« (2015), Goedart Palm]



Ich bin allerdings arm und an Erfolglosigkeit hat es mir bis heute nie gefehlt, aber das Leben kann auch ohne Erfolg hübsch sein.

[Aus: Robert Walser »Der Spaziergang« (1917)]




[»Sozioanalyse« (2020), Goedart Palm]




Endlich arbeitslos


Tödliches Glück


Roman

von

FRIEDRICH-KARL PRAETORIUS




Kapitel 1





Als Kessler, der in einem privaten Internat immerhin zehn Jahre lang als Lehrer angestellt war, fristlos gekündigt und damit in die freie Welt der Arbeitslosen ohne Bezüge, auch ‚stille Reserve’, genannt, überführt worden war, ein Schritt, der nach Meinung der überwiegenden Anzahl seiner Kollegen längst fällig war, ging ein großes Aufatmen durch den Lehrkörper wie durch die Schülerschaft.

Wie er es überhaupt schaffen konnte, über einen so großen Zeitraum sein Lehramt auszuüben, erschien vielen jetzt wie ein Rätsel.

Seine Gewaltbereitschaft und sein unberechenbares Verhalten waren allgemein bekannt und gefürchtet. Kessler besaß das Geschick, seine Entgleisungen unmittelbar von physikalischen Gesetzen abzuleiten und in Lehrstoff umzuwandeln.

Wenn Kessler zuschlug, folgte gleich die Belehrung. Ein Schlag sei dann gerechtfertigt, wenn er das Gehirn des Schülers in Bewegung setze. Er sei als dosierter Impuls zu werten, der den Schüler an die von ihm, Kessler, gewünschte Wellenlänge erneut anbinde und so den weiteren Transfer von Daten garantiere.

Einmal, nachdem er einen Witz erzählt hatte, über dessen Pointe keiner seiner Schüler lachen wollte, ließ Kessler sich von einem Schüler die Jacke geben, hielt sie für alle sichtbar hoch und forderte die Schüler auf, sich die Jacke als Witz vorzustellen.

Dann warf er sie mit den Worten auf den Boden, er werde jetzt aus dieser Jacke, die ein Witz sei, die Pointe heraustreten, die als Jackensaft bald sichtbar werden müsse.

Das sei ganz ähnlich wie beim Traubentreten. Den Besitzer der Jacke werde er entschädigen, sofern die Jacke nicht schon vor dieser ‚rituellen Betretung’ als ein geschmackliches Desaster zu bewerten sei.

Kessler trampelte auf der Jacke herum und versprach, dies solange zu tun, bis der Jackensaft herausgepresst sei. Die Schüler könnten sich selbst überzeugen. Bisher sei noch kein Tropfen Jackensaft zu sehen. Und eine saftlose Jacke habe überhaupt keinen Wert.

Ob denn alle Kleidungsstücke saftig seien, wollte einer wissen.

Kessler brach das Trampeln ab, riet dem Jackeneigner, beim nächsten Jackenkauf auf mehr Qualität zu achten. Und, was den Geschmack anginge, so bediene er sich gern eines Gleichnisses, das ihn schon als Kind überzeugt habe. Mit dem Geschmack, so hieße es in diesem Gleichnis, verhielte es sich wie mit dem Hintern. Was er auch hervorbringe, am Ende bliebe er immer geteilt.

Mittlerweile boten Schüler Kessler ihre Jacken für eine Saftprobe an. Andere simulierten Wissbegierde und fragten, ob vielleicht alle Dinge Saft enthielten.

Von Friedhelm Kessler, der Physik und Chemie lehrte, waren beim Verlag Schrader&Schrader immerhin zwei populärwissenschaftliche Bücher erschienen und erfolgreich im Umlauf. Denn Kessler verfügte über die besondere Fähigkeit, komplizierte und exotisch anmutende Neuigkeiten aus der Welt der Teilchenbeschleuniger und den Radioteleskopen spektakulär aufzuarbeiten und auf diese Weise neue Leser zu gewinnen.

Er habe, antwortet er dem Schüler, der gefragt hatte, nicht nur auf Fragen wie diese gewartet, sondern, was ihn besonders entzücke, sei diese plötzliche Neugier, dieses aufrichtige Interesse fast aller Schüler, die seine saftigen Ohrfeigen zu würdigen verstünden.

Auch japanischen Mönchen, deren Geist während einer Meditation herumirre, würde der Meister mit einem Stockschlag auf den Hinterkopf unmittelbar zurück in die Mitte des Geistes verhelfen. Wenn man also statt Saft Essenz sage und sich vorstelle, zwei starke Hände könnten das Universum zusammenpressen, dann, und dies sei durch Berechnungen bewiesen, bliebe am Ende nicht einmal der Saft.

Im Verhältnis zur Größe der Raumzeit falle die sichtbare Materie nicht mehr ins Gewicht. Sie schrumpfe auf einen Wert von nahezu Null.

Doch kaum wurde zur Pause geläutet, brach wieder das gewohnte Chaos aus.

Kessler schaltete schlagartig um, und sein Blick traf kalt und tödlich die Schüler, die wie versteinert innehielten. Er stellte dann fest, dass hoffentlich selbst die ‚Saftratten’, unter den Schülern heute gelernt hätten, dass eine einfache Ohrfeige ihnen das Geheimnis des gesamten Universums offenbaren kann.

Schüler, die mit Kesslers Anschauungsunterricht vertraut waren, verfuhren mit Kessler bald ähnlich wie er mit ihnen.

Nicht nur seine Unberechenbarkeit war für Lehrer wie für Schüler kaum zu ertragen.

Ein besonderes Kennzeichen war sein starker Mundgeruch, der ihm angeblich vorauseilte.

So entstand bald der Begriff von einem vorauseilenden Mundgeruch, für den der Lehrer exemplarisch sei.

Kessler kommt!“, schrien vorlaute Schüler und brachten sich in Sicherheit.

Ob ein Mundgeruch überhaupt vorauseilen könne und nicht vielmehr träge hinter der beweglichen Quelle zurückbliebe, darüber zerbrachen sich einige Schüler den Kopf.

Man zog ein paar pfiffige Köpfe der Oberstufe zu Rate und der Witz war, dass nach Gründung einer Projektgruppe namens ‚Mundgeruch’ die Frage zu einem ernsthaften Anliegen heranreifte, das man schlecht, ohne Kesslers Intimsphäre zu beschädigen, lösen konnte.

Einige Schüler behaupteten, Kessler verfüge sogar über die Fähigkeit, seinen Mundgeruch zu beschleunigen. Denn diese Fähigkeit allein führe zu einer Vorauseilung, der seine Person dann folgen würde.

Kessler und sein Mundgeruch wurden zu Zaungästen eines Phänomens, für das der öffentliche Lehrauftrag, an den auch eine private Lehranstalt gebunden war, kein Fach vorgesehen hatte.

Ein Schüler vertrat die Ansicht, es sei gar nicht der faulige Geruch, der Kessler ankündige. Sein Kommen werde über den Gehörgang vermittelt.

Unter den Hacken seiner Cowboystiefel habe er Plättchen anbringen lassen, die ganz offensichtlich sein Herannahen betonen sollten. Sein Schritt halle durch die Gänge. Gelassenheit und Gleichmäßigkeit flankierten ihn.

Der Widerhall seiner Schritte treibe die Schüler bereits in die Klasse und rufe unmittelbar den üblen Mundgeruch wach. Dann erst erscheine Kessler.

Ein Neunmalkluger vertrat die Ansicht, man müsse das Phänomen aus holistischer Sicht betrachten. Was Kessler vorauseile, sei sein schlechter Ruf, von dem der Mundgeruch nur ein Bestandteil sei.

Wieder ein anderer meinte, mit Kesslers Herannahen sei ein deutlicher Klimawechsel zu registrieren. Man möchte sich warm anziehen, wenn er herannahe.

Können Gedanken eigentlich denken, Herr Kessler? Oder werden sie gedacht?“

Mit solchen Fragen konnte man bei Kessler auf eine saftige Abreibung rechnen.

Denn Kessler war nicht dumm. Bevor er zuschlug ließ er den Schüler nicht wissen, ob und wenn ja, auf welche Art die Abstrafung erfolgte.

Sie können beides, mein Junge. Und zwar zur selben Zeit“, lautete Kesslers Antwort, während er sich dem Schüler näherte. „Der Gedanke entsteht, und, während er sich aktiv seinen Weg durch die vielfältigen Wege in den Arealen der Hemisphären im Neokortex sucht, fällt er ins Gewicht. Und zwar so.“

Kessler schlug zu und fuhr fort: „Dies ist der Augenblick, wo der Gedanke gleichzeitig denkt und gedacht wird.“

Wenn Kessler einen dieser vorwitzigen Schüler erwischte, konnte er gnadenlos sein.

Seine Neigung zu effizienten Faustschlägen ins Gesicht nahm zu und widersprach zu deutlich den Gepflogenheiten, um nicht endlich auch im Lehrerzimmer thematisiert zu werden.

Dort fragte ihn ein älterer Kollege, ob Kessler nicht bekannt sei, dass sein brutales Verhalten strafbar sei.

Grundsätzlich ja“, gab ihm Kessler zur Antwort. „In einigen Fällen führt aber nur der gezielte Faustschlag zum angestrebten Erfolg.“ Eine Ermessensfrage sei das nicht, erläuterte Kessler, denn für Erwägungen brauche man Zeit, und gerade die passe als kleinstes Segment nicht mehr in den Ermessensspielraum. Einer vollendeten Tatsache wie dieser könne keine Entscheidung vorausgehen.

Was essen Sie bloß zum Frühstück“, fragte ihn derselbe Lehrer. Kessler erwiderte verschwörerisch: „Da müssen Sie meine Frau fragen, denn auch mit Brille ist es nicht zu erkennen. Aber es schmeckt wie Ratte. Lecker!“

Witzig, dieser Kessler, dachte vielleicht in den ersten Jahren mancher Kollege oder Direktor Körber, der einen Narren an dieser merkwürdigen Persönlichkeit gefressen hatte.

Ein anderer Kollege, auf den Kessler nicht so gut zu sprechen war, sagte: „Versuchen Sie es doch mal mit Dorschleber, die gibt’s auch in Dosen“.

Kessler blickte hoch und antwortete: „Schon mal was von Aura gehört, Herr Beierlein? Sie unterrichten doch Mathematik, welche geometrische Form würden Sie einer Aura am ehesten zuordnen?“

Annähernd kreisförmig!“

Sehen Sie! Das denken die meisten. Es gibt aber – selten zwar – eine Aura, die länglich ist und schmal und bis zu drei Metern in Mundhöhe vorauseilen kann.“

Wenn Kessler vor der Klasse stand, und einige, die Kesslers Gewaltbereitschaft noch nicht kannten, sich demonstrativ die Nase zuhielten, sagte Kessler: „Ist es nicht schön, einen Lehrer zu haben, der nicht nur im sichtbaren Licht und durch die Vibration im Trommelfell wahrzunehmen ist, sondern der sich zusätzlich noch wittern lässt?“

Nachdem die Schüler gelacht hatten, packte Kessler sich diejenigen, die sich die Nase zugehalten hatten.

Sie mussten sich in einer Reihe aufstellen, und Kessler rammte jedem einmal sein Knie in den Bauch.

Bei einer solchen Abstrafung hatte ein Schüler sich reflexartig über Kesslers Hose erbrochen.

So, Freundchen, das gibt eine Sonderbehandlung!“

In Anwesenheit der ganzen Klasse hatte er dem Jungen immer wieder ans Schienbein getreten.

Die einseitige Ausrichtung seines tretenden Fußes erklärte er mit den Worten: „Ich trete deshalb nur gegen dieses eine Schienbein, damit mir später niemand Vorsätzlichkeit vorwerfen kann. Mir ist eben mal der Fuß ausgerutscht.“

Kessler, der sein Opfer immer wieder dazu nötigen musste, das Schienbein frei zu geben, war nicht aufgefallen, dass ein Mitschüler bereits den Direktor gerufen hatte.

Gemeinsam mit zwei weiteren Lehrern stand man sprachlos in der geöffneten Tür.

Kessler registrierte schließlich ihre Anwesenheit und sagte mit ruhiger Stimme: „Ich bin gleich für Sie da, meine Herren“.

Er beugte sich zu dem verletzten Schüler, zog ihm die Brille von den Augen und zerbrach sie. „Vielleicht lernt er jetzt endlich, wie schmerzvoll Unkenntnis ist.“

Dies war der Augenblick, dem Kesslers fristlose Kündigung aus dem Lehramt folgte.





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