Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist. Eine wohlthätige Gottheit reiße den Säugling bei Zeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn mit der Milch eines bessern Alters und lasse ihn unter fernem griechischen Himmel zur Mündigkeit reifen. [Friedrich Schiller »Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen; Neunter Brief« (1795)]
[»Adjourned II«, Lorena Kirk-Giannoulis (2020)]
Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf; leiste deinen Zeitgenossen, aber was sie bedürfen, nicht was sie loben. [Friedrich Schiller »Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen; Neunter Brief« (1795)]
Hängepartie
„Unerwarteter Nahschuss, so nannten die das in der Zentralen Hinrichtungsstätte …“, sagt mein Gegenüber.
Ich hasse Konversation. Lese gerade Luhmanns Das Recht der Gesellschaft. Das Deckblatt des Buches scheint ihn angesprochen zu haben. Suhrkamp, Ferrari-Rot. ... eine Norm schreibt vor, was gesollt ist …
„Im Erdgeschoss der Leipziger Arndtstraße 48 wurde eine Hausmeisterwohnung umgebaut.“
Ich reagiere nicht. Will keine Konversation. ... in interdisziplinäre Kontaktsuche getriebene Reflexionstheorie des Rechtssystems mit …
„Der Staatsanwalt hat lediglich mitgeteilt, dass das Gnadengesuch abgelehnt wurde und die Hinrichtung unmittelbar bevorstand.“
Die Ansichten der Leute interessieren mich nicht. Habe genug mit meinen Gedanken zu schaffen. Und den Meinungen meiner Studenten, meiner Frau. Ich möchte nur in Ruhe lesen.
„So war das damals in der DDR.“
Normalerweise würde ich jetzt meine Sachen packen und den Platz wechseln. Oder in den Speisewagen gehen – der Kaffee ist zwar ungenießbar, aber fünf Euro soll mir meine Ruhe wert sein. Stattdessen blicke ich in sein Gesicht und sage: „Sie kennen sich mit der Materie gut aus …“, vielleicht war er mal ein DDR-Henker – vom Alter her könnte es passen.
„Ach wo! Das kann man im Internet nachlesen.“
Auf Familienfesten entkomme ich dem Smalltalk, indem ich den Kindern Geschichten erzähle. Ihre Gesellschaft ist mir auch sonst lieber.
„72 wurde der Kindermörder Erwin Hagedorn hingerichtet …“
Der Schaffner schiebt den schwer beladenen Servierwagen, eckt an Hindernissen an.
Wenn der Zug im letzten Bahnhof vor der Endstation hält, wird mein Gegenüber von einem Jungen erzählt haben, den er mal kannte.
„Er war immer schon ein Außenstehender. Die anderen Jungs in der Vorstadt waren Fußballbegeisterte ...“; er sagt es, als müsste der Junge verteidigt werden, „er musste für eine große Zukunft üben ...“
Er blickt durch das Fenster und schweigt. Als suchte er jene große Zukunft, da draußen.
„Die Züge nach Berlin sind immer überfüllt. Die Klimaanlage ist wohl auch ausgefallen ... Die Bahn könnte da mal was tun", sage ich.
„... Schach spielen. Mit seinem Schachlehrer. Privat. Während Mutter …“
Der Schaffner hält an unserem Tisch den Servierwagen an. Das Fenster spiegelt das Getränkesortiment.
Mein Gegenüber blickt auf. Beunruhigend, der Glanz in seinen Augen.
„Sie wünschen …?“, fragt der Schaffner.
Er nimmt Kaffee im Pappbecher – ohne Milch, mit viel Zucker. Seine Stimme kratzt wie Sandpapier. Klingt gehaucht, wie seine Brust die Luft – fast alles – zurückhält, was drängt und droht zu entweichen.
Während er lächelnd bezahlt, sagt er: „Es war nicht alles schlecht in der DDR.“
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