Sonntag, 10. Oktober 2021

Z. Z. XXIII [Vier Texte aus Val Sidals »Zeit. E - Voicings (2013)«]

 


[»Shadow World«, Lorena Kirk-Giannoulis]



sprich --
nimm ein
wort für alles
was geld nicht
zählt


[Val Sidal]





[»Fraktalette II«, Val Sidal]





NGAYA I


Ngaya* hatte auf dem Hügel unter der alten Eiche auch seine letzte Frau begraben. Ein hungriges Wildschwein hatte ihn dabei beobachtet. Nun saß er alleine in der Grotte. Wild fuchtelnd scheuchte er den Qualm aus dem Lager. Seine Augen brannten. Böses verzehrte ihn. Es trieb in seinen Gliedern auf und ab. Seine Zähne klapperten. Er zitterte am ganzen Körper. Müde hob er die feine Elfenbeinflöte und setze sie mit geschlossenen Augen an seine schuppigen Lippen.

Ngaya – ich nenne ihn Ngaya, weil er keinen Namen hatte. Weil zu dieser Zeit Namen noch nicht gegeben waren, wusste er nicht, was er war. Aber die Sippe wusste, wer er war: Er war der, der das Recht hatte – als Erster die Wahl und als Letzter die Tat.

Wenn er nach einigen Tagen der Jagd vor allen die Grotte betrat, jubelten sie vor Freude. Die jungen Mädchen, die in ihren Träumen Ngaya verwöhnt und liebkost hatten, liefen ihm, der sie alle kennen durfte, entgegen, um sich ihm hinzugeben und ihm das Lachen auf das müde Gesicht zu zaubern. Sie zerrten ihn in die dunkelste Ecke der Grotte, in die Gemächer der Lust und der Erneuerung.

Doch Ngaya trieb sie diesmal fort. Die Hetzjagd und das Schleppen der Beute hatten seine Kräfte geraubt. Er wollte nur noch schlafen.

Die Kräftigeren seiner Gefolgschaft witterten ihre Chance. Mancher, der glaubte, sich schon mit Ngaya messen zu können, aber noch nicht den Mut der Tat in den Adern verspürte, suchte die Gelegenheit.

Als Ngaya träumte, dem größten und wildesten aller Mammuts, den tödlichen Stoß versetzt zu haben, wurde er von lautem Geschrei geweckt: Er war sofort hellwach; er hatte einen leichten Schlaf.

Die Mitglieder des Clans schrien und sprangen verzweifelt hin und her. Die Älteren saßen starr am Feuer. Die Älteste jammerte kraftlos. Mit dem leblosen Leib eines kleinen Jungen in den Armen rannte jemand von einem zum anderen und zeigte mit entsetztem Gesicht und verzweifeltem Geschrei auf den entstellten Körper.

Das Kind atmete nicht mehr. Seine Augen waren verdreht und blutunterlaufen. Seine Haut befleckt, verletzt und zersetzt. Auf dem kleinen Körper klebten, verschmiert und festgetrocknet, Überreste von Erbrochenem.

Die jungen Männer der Sippe fuchtelten mit ihren Speeren und mit lodernden Fackeln, trauten sich aber nicht vor die Grotte. Das unbekannte Tier, das das Kind getötet hatte, konnte noch da sein.

In den nächsten Tagen griff das unsichtbare Ungeheuer jeden an. Zuerst die Kinder, dann die Alten und dann die anderen. Ngaya hatte sie alle begraben. Nun waren sie alle fort.

Er saß vor dem Feuer und blies seine Seele in die Flöte. Er wähnte sich kampfbereit – doch ein Gefühl, das er noch nie zuvor erlebt hatte, lähmte ihn. Sein Kopf bedeutete ihm, dass er das Ungeheuer besiegen könnte, hatte er doch bis heute alle wilden Tiere besiegt. Er merkte, dass etwas sein Innerstes verzehrte: Seine Muskeln erschlafften allmählich. Etwas in seinem Bauch ließ ihn ahnen, dass er diesmal verlieren würde; dass es einen Feind gab, dem selbst er nicht gewachsen war.

Es muss das größte aller Tiere sein, dachte er noch, denn er spürte schon den heißen Hauch des Ungeheuers in seinem Gesicht und seinen frostigen Griff am ganzen Körper. Mühsam drehte er sich um. Unsichtbar versetzte ihm der Feind einen heftigen Schlag auf den Kopf.

Jetzt gab es niemanden mehr, der die sieben leisen Töne seiner Flöte hätte hören können. Niemanden in der Grotte, niemanden auf der ganzen Welt, dem das Lied ein Zeichen gewesen wäre: hier sind wir und nicht ihr. Aber wie es bei euch ist, ist es auch bei uns.

Ein Wolf entdeckte Ngaya in der Grotte in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Sein lebloser, fürchterlich gezeichneter Körper lag neben der Asche der Feuerstelle, in die seine Flöte gefallen war. Der Wolf schnupperte vorsichtig an Ngayas Gebeinen. Sein Nackenfell richtete sich auf. Den Schwanz zwischen den Beinen, scheute er langsam zurück. Das unsichtbare Ungeheuer hauchte immer noch das Unheil ins Tal.

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* In einem Aborigine-Dialekt bedeutet Ngaya sowas wie „Selbst“





[»Fraktalette III«, Val Sidal]




LAUF DER DINGE



Mama sagt, ich komme nächstes Jahr in die Schule. Ich weiß nicht, wo die Schule ist.

Ich weiß, wo der Spielplatz ist. Ich weiß, wo der Kindergarten ist, weil ich jeden Tag dort bin. Bei Fräulein Silke.

Fräulein Silke ist nett. Gestern hat sie geweint. Sie hat gesagt, Tränen sind auch nur Wasser – salzig, wie das Meer.

Ich musste auch fast weinen. Achim hat mich gehauen. Mein bester Freund heißt Demirkan. Er beschützt mich vor Dragan.

Papa hat gefragt, ob ich Angst habe auf der Straße. Ich habe gesagt, nein. Ich habe nur vor Dragan Angst. Und manchmal nachts.

Wir wohnen auf der Neißestraße.

Opa sagt, die Neiße und die Oder gehören uns, aber man darf das nicht sagen.

Papa sagt, die Straße gehört den Türken.

Ich glaube, das darf man sagen.

Ich sehe gerne fern. Nicht nur Kindersendungen. Ich spiele auch gerne.

Mama hat gesagt, wenn ich groß bin, werde ich lesen. Darum muss ich in die Schule. Mama sagt – ach egal …

Wir wohnen im Erdgeschoss. Und dort sind Treppen. Wenn wir die Treppen runter gehen, dann kommt manchmal die U-Bahn. Wir fahren in die Stadt mit der U-Bahn. Ich kann auch nachts die U-Bahn hören. Die U-Bahn heißt U-Bahn, weil sie unter der Erde fährt. Sie heißt Straßenbahn, wenn sie aus dem Tunnel rausfährt. Dann kann ich Menschen sehen und Autos. Wenn ich am Fenster sitzen darf. Papa sagt, wenn ich groß bin, darf ich alleine mit der U-Bahn fahren. Aber ich will nicht.

Wo wir aussteigen, das ist keine Haltestelle. Dort ist Bahnhof. Und auf der Straße ist der Dom. Der Dom hat zwei Türme, sagt Mama.

Fräulein Silke hat einmal gefragt, ob ich den Dom malen kann. Ich habe gesagt, nein. Aber zu Hause habe ich doch den Dom gemalt. Es war ganz einfach! Papa hat gesagt, der Dom ist eine Kirche. Die Türken haben eine andere Kirche, die heißt anders. Ich weiß nicht …

Fräulein Silke hat gesagt, in der Kirche kann man zu Gott beten. Es ist sein Haus. Mama hat gesagt, man kann überall zu Gott beten.

Ich kann nicht überall beten. Ich kann nur im Bett beten. Auch gestern.

Mama hat mit Papa geschimpft. Sie hat gesagt, du verspielst unser ganzes Geld. Aber das ist nicht wahr! Papa arbeitet immer nur und spielt am Wochenende mit mir. Und nicht mit Geld. Aber Mama hat geweint. Ich weiß nicht …

Papa hat früher Autos gebaut. Ford. Ich weiß nicht, was er jetzt baut. Ich habe sicherheitshalber im Bett gebetet, dass Papa nicht unser ganzes Geld verspielt. Damit Mama nicht weint. Und weil Geld wichtig ist, hat Fräulein Silke gesagt.

Mit Geld kann man Sachen kaufen.

Am Dom ist McDonalds. Dort kann man mit Geld BigMäc kaufen. Und Fritten mit Ketchup und Majo. Das mag ich.

Opa sagt, McDonalds ist nicht gesund, macht fett. Aber ich bin nicht fett. Oma war fett. Aber sie ist tot. Tot ist, wenn Gott ruft. Mich hat Gott nicht gerufen. Ich höre immer genau zu, aber er hat mich nicht gerufen. Ich bin nicht tot.

Wenn Gott ruft, dann kommt man in den Himmel. Wenn man brav war. Ich bin meistens brav. Wirklich!

Opa sagt, wenn man nicht brav ist, dann holt einen der Teufel. Aber Opa sagt auch, in der Stadt stinkt’s. Ich glaube, er macht immer nur Witze. In unserer Stadt stinkt’s nicht. Opa wohnt in der Eifel. In den Bergen und Wäldern. Er sagt, dort ist die Luft noch rein. Er sagt, der Rhein stinkt. Aber ich glaube, er sagt immer stinkt, stinkt, stinkt, damit die Leute lachen. Aber nur Papa lacht.

Mama sagt oft zu Opa, lass das sein, hör damit auf! Opa hat mich lieb, das weiß ich. Er hat keine Haare mehr. Aber Mama sagt, das liegt in der Familie.

Oma ist jetzt im Himmel und schaut von oben auf den Dom, hat Opa gesagt. Ich schaue noch von unten auf den Dom. Weil er so groß ist. Wenn ich tot bin, dann schaue ich auch von oben.

In der Stadt gehen wir dann spazieren.

Mama sagt auf der Hohestraße, aber ich finde sie ist nicht hoch, es sind nur so viele Menschen. Und Geschäfte. Wir gehen in ein Geschäft, weil Mama einen Pulli anprobieren muss. Aber Papa gefällt es nicht. Mir gefällt es. Ich finde, Mama sieht toll aus.

Dann spazieren wir auf der Schildergasse. Aber ich habe nicht mehr Schilder gesehen als auf der Hohestraße. Wirklich! Ich habe Papa gefragt, warum die Straßen so heißen, wenn es gar nicht wahr ist. Das sind nur Namen, hat er gesagt.

Einmal hat mich im Kindergarten Murat gehauen. Ich habe geweint, weil es wehgetan hat. Wirklich!

Papa hat geschimpft: Heul nicht! Du lässt dich nie mehr von einem Türken verhauen! Du bist Russe!

Ich wusste es!

Ich bin anders.

...

Ich weiß nicht ...




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