Mittwoch, 20. Oktober 2021

Z. Z. XXIV [»Compañeros« aus Val Sidals »Zeit. E - Voicings« (2013)]

 


[»Family Affair«, Lorena Kirk-Giannoulis]





zeichen

zeichnen in

zeiten –

zwischen

zeilen

zart ruht

welt.

 

[Val Sidal]





Compañeros



Ein langer, beschwerlicher Weg, Compañero!“, stöhnte Opa Emilio und sog kräftig am Mundstück seiner mit roten Rosen verzierten Porzellanpfeife, als glühte sie immer noch, die alte Flamme der Revolution. Sebastian wusste, das zierliche Gefäß hatte seit vielen Jahren kein einziges Tabakblatt mehr gesehen, seitdem die Ärzte Opa das Rauchen verboten hatten. Wegen des Hustens und Blutdrucks.

 

Auf dem Balkon des Plattenbaus in Monterrubio de la Serena wucherten Basilikum und Rosmarin im Blumenkasten. Ihr Duft verschmolz mit dem Dunst der Tomatensoße aus der Küche.

Die Nachmittagssonne der Extremadura war heute gnädig, verzog sich hinter einem dünnen, sehr weiten Wolkenschleier und ließ dem leichten Wüstenwind etwas Luft. Sebastians Atem stockte: Opa hatte ihn noch nie Compañero – Genosse – genannt.

 

Früher kam Sebastian mit seiner Mama aus Duisburg oft nach Spanien, damit sie sich von Papa erholte – und damit sie wieder gesund werde. Opas kastilianischen Geschichten vom berüchtigten Anarchisten Compañero Durruti kannte er auswendig. Aber Mama wurde und wurde nicht gesund. Im Gegenteil.

Opas Gesicht verfinsterte sich. „Es geht um dich, Compañero, darum, wer du bist ...“ Sein trauriger Blick verriet seinen inneren Film nicht. Er hielt jetzt die Pfeife vor seinem Gesicht. Die Hand zitterte. „Weißt du, wenn ihr in Deutschland seid, dann läuft hier das Leben weiter. Die Leute gehen ihren Geschäften nach, als wäret ihr nie da gewesen. Ich erstarre auch nicht, wie das eingebrannte Zelluloid eines zu oft gezeigten, gerissenen Films.“

Was willst du mir sagen, Opa?“

Lange war ich unterwegs – du hast davon nichts mitbekommen. Aber nun ist es soweit. Du musst es erfahren, bevor es zu spät ist!“

Wovon sprichst du die ganze Zeit? Ist das wieder einer deiner Compañero-Krimis? Glaubst du, ich weiß nicht, dass du sie alle erfunden hast?“ Obwohl es durchaus möglich ist, dachte Sebastian, dass der junge Emilio dem Anarchisten begegnet war, in jenem kurzen »Sommer der Anarchie« innerhalb des spanischen Bürgerkriegs in den selbstverwalteten Fabriken und landwirtschaftlichen Kollektiven.

Opas Augen strahlten. Als hätte er gewettet und gewonnen. Er zwinkerte mit dem linken Auge und hob seinen gichtgebogenen Zeigefinger:

Diesmal geht es um das 7. Gelass!“

Das 7. Gelass? Was soll das sein?“ Sebastian kannte das Wort la trastienda gar nicht.

Du wirst es noch rechtzeitig erfahren, Sebastian. Morgen brechen wir auf!“

 

Aber aus dem Aufbruch wurde nichts.

 

Nachts, gegen halb zwei, wurde Sebastian von hektischem Geschrei geweckt. Schon auf dem Sprung, zog er sich die Hose an und stieß vor der Tür seine Mutter fast um: „Was ist los?“

Es ist ...“, sie presste die Faust auf ihre zitternden Lippen, „Opa ...“

Sebastians Atem stockte. Heiser, schwer schluckend: „Was ist mit ihm?“ Er stürmte schon zu Opas Schlafzimmer.

Er liegt in der Küche! Schrecklich!“, schrie Mutter.

Opa Emilio schien zu lächeln. Als hätte er auf Sebastian gewartet, nur auf ihn, vor seinem letzten Aufbruch.

Seine grauen Haare zerwühlt und zerquetscht, als wäre er gerade aus dem Bett gestiegen und hätte sich nur kurz auf die kühlen Steine gesetzt, um sich auf den rechten Arm gestützt, auszuruhen. Sein linker Arm hing ungespannt und irgendwie entfernt zum Boden herab. Auf der Wange und an dem weit hängenden Mundwinkel verdickten sich Rinnsale aus Speichel und Tränen.

Was hast du, Opa?“, schrie Sebastian und kniete nieder, griff nach der schlaffen Hand und fand sie sonderbar weich und schwer.

Wir haben schon ... Der Notarzt ist unterwegs!“, hörte Sebastian Mutter stammeln. Opas Augen blitzten auf, als hätte er einen guten Witz gehört.

Seid still!“, fauchte Sebastian, „Er will etwas sagen!“

Opas Lippen vibrierten – gehorchten ihm aber nicht mehr. Angestrengt versuchte er genügend Luft zu holen, um seine Stimmlippen in Schwingung zu versetzen.

Er stirbt! Mein Gott! Er stirbt!“. Mutter deutete das Gemurmel als Röcheln.

Sei doch endlich still, verdammt!“, brüllte Sebastian und strafte seine Mutter mit einem giftigen Blick. Er bückte sich ganz nah zu Opas Mund und fixierte seine Aufmerksamkeit auf die leisen Wellen, die noch entweichen konnten: „Er singt ...“, flüsterte Sebastian, „wirklich!“.

Der sanfte Luftzug hatte gereicht, um Opas Widerstand gegen die allmählich allumfassende Schwere zu brechen.

Er sank langsam zum karierten Fliesenboden, wie ein gefallener König – würdevoll aber matt.

Jetzt erst bemerkte Sebastian das zerknüllte Papier in Opas rechter Faust – ein vergilbtes, pergamentartiges Produkt aus früheren Zeiten. Er riss den Zettel aus Opas Hand und steckte ihn hastig in seine Hosentasche. Er sollte die nächste Zeit seine ganze Aufmerksamkeit und Kraft in Anspruch nehmen. Und seine Selbstbeherrschung. Die Überschrift lautete: Das 7. Gelass.

 

Das Martinshorn des Rettungswagens heulte höher. Für einen Moment übertönte es alles.

Dann wurde es still.

Bald stampften die Schritte des Notarztes auf Treppen makabren Fandango – immer lauter.

Mutter rannte zum Eingang, riss die Tür auf und zeigte stumm in Richtung der Küche. Nur keine Zeit verlieren.

Der Notarzt befahl Sebastian und seiner Mutter, die Küche zu verlassen. Sebastian rannte auf die Straße und stützte sich auf die Motorhaube seines Sportwagens. Ließ seinen Tränen freien Lauf. Mutter blickte versteinert durch die offene Haustür und hoffte, bald würde jemand lächelnd herauskommen.

Aber der Notarzt schüttelte den Kopf, als er zum Abschied Mutter die Hand reichte. Sebastian erkannte Opas Gesicht hinter der Maske und den Schläuchen nicht; die Sanitäter schoben ihn ohne Hast in den Rettungswagen.

 

Das Blaulicht warf unheilvolle Strahlen stumm auf die Straße, während der Compañero davonfuhr – leise, um die Nachbarn nicht ohne Not zu beunruhigen.

 

Drei Tage später wurde Opa auf dem schattenfreien Friedhof von Monterrubio de la Serena begraben. In der gleißenden Sonne blieb niemand länger als es Anstand und Sitte gebieten.

Sebastian war nicht bereit und nicht in der Lage, auf Mutters Einwände einzugehen: „Ich fahre nach Segovia, Punkt! Es ist Opas letzter Wille!“

 

Das war so nicht ganz wahr. Opa hatte zwar in der Nacht seines Todes einen Brief verfasst, aber zweifellos kein Testament. Der Brief endete so:

Im 7. Gelass findest du Antworten auf die Fragen, die du mir schon als kleines Kind gestellt hast. Es zerriss mir immer das Herz, dir nicht antworten zu können. Aber es ist deine Entscheidung: Den Gewinn der Wahrheit wirst du mit einem hohen Verlust in Zukunft bezahlen. Was wiegt schwerer? Ich weiß es! Aber wirst du es auch wissen? Du kannst es nur herausfinden, wenn du nach Segovia aufbrichst.“ (...)

PS: Sag’s bitte deiner Mutter nicht und verbrenne den Brief, nachdem du ihn gelesen hast. Ich weiß, du wirst das Richtige tun, und ich werde dort, wohin ich bald gehen werde, sehr stolz auf dich sein.

Dank der PS unter der Haube seines Sportwagens benötigte er für die über vierhundertfünfzig Kilometer nach Segovia weniger als vier Stunden. Zwar hatte er, wie von Opa gewünscht, den Brief verbrannt, aber alles was darin stand, hatte sich Wort für Wort eingeprägt. Der Inhalt lag ihm schwer im Magen.

Opa, der listige Compañero! Er wusste, niemals würde ich mit dieser Last leben wollen, leben können; dafür kannte er mich zu gut, dachte Sebastian.

Im 7. Gelass findest du Antworten ... Warum ist Mama immer traurig und weint so viel? Warum bin ich immer alles Schuld? Warum schlägt mich Papa? Wieso ist Papa immer so gemein? Wieso kommt er nie mit uns nach Spanien? Warum trinkt er so viel? Warum ist Mama krank?

Opa hatte eine Kirche bei Segovia als Ziel angegeben. Sebastian hatte es natürlich gegoogelt:

Die Kirche La Vera Cruz liegt nördlich des Alcázar der spanischen Stadt Segovia. Sie hat einen zwölfeckigen Grundriss, wurde möglicherweise vom Orden der Tempelritter gegründet. Wahrscheinlicher aber vom Orden vom Heiligen Grab, in dessen Besitz die Kirche 1229 war. Die Kirche soll errichtet worden sein, um eine Reliquie vom wahren Kreuz zu beherbergen.“

 

Das Navi führte treffsicher zum Kalksteinbau der Kirche:

Links abbiegen –

Das Ziel befindet sich auf der rechten Seite.

Die Kirche zeigte vier der zwölf verwitterten Kalksteinmauern – links, an der Straße und ganz rechts, neben dem rechteckigen Glockenturm, je ein schweres Holztor mit Rundbogen.

Auf dem Parkplatz neben dem Tor parkte nur ein weißer, verstaubter Caddy, als hätte er die letzten Sandstürme unentwegt dort verbracht. Ein Hinweisschild – die Spitze zeigte nach links: Convento del Carmelitas DescalzasKloster der unbeschuhten(barfüßigen?) Karmeliter – was ist das für ein Schwachsinn?

 

Seinen Blick auf den Eingang neben dem Glockenturm gerichtet, hat er die moderne Videokamera des Klosterüberwachungssystems nicht bemerkt.

 

Aus einem unerfindlichen Grund parkte er seinen BMW ziemlich eng neben den Caddy, stieg aus, streckte sich, gähnte einmal: Auf zum 7. Gelass!

Zunächst versuchte er das südliche Portal neben dem Glockenturm; als es auch nach kräftigem Drücken nicht nachgab, ging er zum westlichen Eingang, unmittelbar an der schmalen Bergstraße. Er war nicht wirklich überrascht, sogar beinahe erleichtert, dass auch das zweite Tor geschlossen war. Vielleicht gibt es einen Hintereingang. Gemächlich, wie ein Tourist, begab er sich auf den Rundgang. Okay, keine Hintertürchen.

 

Vor dem Turm blieb er ratlos stehen. Opa hatte ihm für den Fall, dass die Kirche geschlossen war, keinen Hinweis hinterlassen. Im Brief stand nur: Gehe in die Kirche! Verlegen näherte er sich dem ersten Tor, um noch einen letzten Versuch zu wagen.

Zu seiner Überraschung gab das Tor nach.

Komm herein, Sebastian!“, hallte es plötzlich im angenehm kühlen Schiff der Kirche – eine bekannte Stimme. Trotzdem erstarrte er zunächst.

Die Stimme verteilte sich im Rund des Haupthauses polyphonisch: „Ich habe dich schon erwartet!“

Jetzt konnte er die Richtung peilen: irgendwo rechts vom Eingang, hinten, nah am Altar. An der Wand waren mehrere Beichtstühle nebeneinander angeordnet. Er ging langsam los, zählte ab und blieb vor dem siebten stehen.

Am Tage vor seinem Tode kündigte mir Emilio an, dass du kommen wirst. Er kannte dich besser, als jeder auf der Welt.“

Sebastian öffnete die Tür. Auf der Bank neben dem Stuhl bemerkte er sofort eine einfache Holzkiste, kaum größer als ein Schuhkarton.

Einen weiten Weg bist du gegangen, für die wahrscheinlich seltsamste Beichte deines Lebens.“

Sebastian wusste nicht, wie eine Beichte vonstattengeht. Wozu auch? Er war sich keiner Schuld oder Sünde bewusst.

Du musst nichts sagen, Sebastian, Gott sieht deine Absichten genauer, als du sie jemals ausdrücken könntest. Hör nur einfach zu.“

Sebastian räusperte sich.

Und zum Abschied nimm die kleine Holzkiste mit: das ist der Wille deines Großvaters – Gott hab ihn selig.“

Die Stunden vergingen, und Sebastian erkannte allmählich den Sinn seiner Reise.

Doch die Antworten, die sich nach und nach offenbarten, führten zu neuen Fragen. Die Stimme antwortete ruhig, immer im gleichen, warmen Ton. Sebastian hatte geweint und zwischendurch auch das Gefühl gehabt, aufspringen zu müssen, um abzuhauen – einfach nur weg von hier. Weg von überall. Die Winde auf den Anhöhen Segovias trieben munter durch die Öffnungen des Turms, brachten die Glocke kaum hörbar zum Schwingen. Manche von ihnen – die Fallwinde – stürzten in die riesige, angrenzende Kiesgrube. Oder war dort das Becken eines längst verstorbenen Sees? Sie wirbelten viel Staub auf – zahllose Staubteufel, die, mit leichtem Unrat versetzt, zur Kathedrale in der Altstadt zu fegen schienen.

 

Er war schon Richtung Monterrubio unterwegs, als er plötzlich eine Vollbremsung machte. Zum Glück hatte er die kleine Holzkiste mit der Hand festgehalten, sonst wäre sie womöglich gegen die Frontscheibe geflogen.

 

Die Holzkiste ließ ihm keine Ruhe. Er hatte beschlossen, im erstbesten Hotel eine Unterkunft zu finden, und sich sofort dem Inhalt zu widmen.

 

Das Hotel Alcazar lag kaum einhundert Meter unterhalb der Kirche La Vera Cruz.

Es sind Briefe, hatte die Stimme gesagt, alte Briefe, die bis zu jenem Tag niemand außer mir und deinem Opa gelesen hat. Und ein Foto ...

Dass die Übernachtung einhundertfünfzig Euro kosten würde, hatte er nicht registriert. Inklusive eines reichhaltigen Frühstücks, ab sieben Uhr ... Er reichte seine Kreditkarte, nahm die Keycard entgegen und eilte auf sein Zimmer.

Dort angekommen, warf er sich aufs Bett entstaubte und öffnete die Holzkiste.

Das kleine Foto lag oben, auf den mit einem Gummiband gebundenen Briefen. Er nahm es in die Hand und betrachtete es lange. Es zeigte zwei Jünglinge mit nacktem Oberkörper, in einem innigen Kuss eng umschlungen. Schwarz-weiß.

Sein Herz trommelte in seinem Ohr, begleitet von heftigem Sausen und einem dumpfen Druck.

 

Du musst das verstehen, hatte die Stimme gesagt, Emilio und ich – wir waren gleichaltrig, in der Calle Baleares aufgewachsen. Gute Freunde. Sehr gute. Wir hatten uns lieb, das kann man sagen – aber wir waren nicht schwul! Weißt du, wer das Foto geschossen hat – die Stimme schien zu schmunzeln. Es war deine Großmutter Maria, in die wir damals, mit zwölf, beide verliebt waren. Ich denke manchmal heute noch, wäre ich nicht Priester geworden, dann hätte sie vielleicht mich gewählt. Gott sieht meine Seele: wir waren Kinder und es war nur eine alberne, unschuldige Laune!

 

Sebastian las die Briefe der Reihe nach, dann übersprang er zwei, drei. In ihrer Abfolge stellten sie eine Art Dialog dar. Begann ein Brief mit: Allerliebster José, so antwortete der nächste mit: Allerliebste Carmen – Liebesbriefe.

 

Wir durften uns nicht sehen, es wäre zu gefährlich geworden, damals unter Franco. Compañero Durruti hatte Emilio auf die Idee gebracht. Eine einfache verschlüsselte Kommunikation; sicher, aber auch lustig, sagte die Stimme. Niemand konnte damals ahnen, was viele Jahre später geschehen würde. Als Juan Carlos den Thron bestieg, wollte Emilio die Briefe verbrennen. Ich widersetzte mich: Wir leben in unsicheren Zeiten. Vielleicht können die Briefe irgendwann – falls nötig – beweisen, dass wir keine Faschisten waren, dass wir im Widerstand gekämpft haben. Gott ist mein Zeuge, wie oft ich diese Entscheidung bereut habe.

Es war eine Pause entstanden. Sebastian hätte schwören können, dass er den Pastor schluchzen hörte.

Er nahm sich noch einmal das Foto vor, drehte es zum Licht, um vielleicht irgendeine Spiegelung erkennen zu können. Wie gerne hätte er jetzt auch die Fotografin gesehen! Sie soll ein bildhübsches, feuriges Mädchen gewesen sein. Sebastian hatte seine Großmutter nie zu Gesicht bekommen. Seine erste Reise mit Mutter nach Monterrubio de la Serena führte ihn zu Omas Beerdigung.

 

Sebastian legte sich auf den Rücken, schloss die Augen und verdeckte die Stirn mit seinem Unterarm. Die Stimme: Dein Vater war gerade fünfzehn geworden. Er hatte, neugierig und frühreif, wie er war, in Emilios Sachen herumgestöbert ... Vor seinem geistigen Auge wiederholte sich eine Sequenz in einer Endlosschleife, und Sebastian konnte sie nicht unterbrechen:

Die Kiste ... Das Foto ... Sie umarmen sich ... Der Kuss ... – und von vorne: Der lange, innige Kuss ...

 

Dann die Stimme in der Kirche: Als er mit der Kiste in der Küche vor Emilio stand, zitterte dein Vater am ganzen Körper. Sein Gesicht aschfahl, tränenverschmiert. Dein Großvater hatte gerade angesetzt, alles aufzuklären, da knallte dein Vater die Kiste auf den Boden, schlug Emilio mit der Faust ins Gesicht und schrie immer wieder: Du schwule Sau! Ihr gottverdammten, elenden Arschficker! Spuckte ihm vor die Füße und flüchtete aus dem elterlichen Haus für immer. Sie waren sich nie wieder begegnet.

 

Kurz vor der Frühstückszeit schlief Sebastian endlich ein. Als er gegen ein Uhr wach wurde, schaute er sich für einen Moment desorientiert um. Dann hörte er wieder die Stimme im Beichtstuhl:

 

Dein Vater hat sich davon nie mehr erholt. Er ist daran zerbrochen. Emilio hat viele Versuche gestartet, um an ihn heran zu kommen – ohne Erfolg. Da hätte er schon die entschlossene Kraft deiner Großmutter gebraucht.

 

Die Stimme stockte ...

 

Deine Großmutter, Maria, hat uns für den Leichtsinn gehasst. Mit mir hat sie bis zu ihrem Tode kein Wort mehr gewechselt. Sie gab uns die Schuld. Wir wussten nie genau, wo sich dein Vater aufhält, wie es ihm geht, auch wenn wir über Verwandtschaft und Bekannte manchmal Hinweise bekamen. Er sei in Südafrika gewesen, arbeitete im Bergbau, erzählte einmal ein Cousin von Maria.

 

Das ist wahr! Er war in Südafrika, davon hat er mir oft erzählt“, sagte Sebastian aufgewühlt, „und er hat viele Jahre auch in der Fremdenlegion gedient!“ Die Bilder, die besten Bilder seiner Kindheit überfluteten sein Herz im Kirchenschiff. „Manchmal, wenn ich müde und verzweifelt aus der Schule kam, brachte er mich zum Lachen, indem er sich ein Badetuch um den Bauch wickelte, einen Kochtopf auf den Kopf setzte, „habt acht!“ brüllte, salutierte und zu singen begann:

 

Nun, das ist die Blutwurscht, das ist die Blutwurscht, das ist die Blutwurscht,

für die Elsässer, die Schweizer und die Lothringer,

für die Belgier gibt es keine, für die Belgier gibt es keine, sie sind Drückeberger.

 

Sebastians Brust verschaffte sich etwas Luft; seine Stimme hallte durch das Kirchenschiff bis zum Altar und zurück: Für die Belgier gibt es keine, für die Belgier …

Die Stimme im Beichtstuhl lachte. Eine einsame Kerze flackerte kurzatmig, bis ein schwerer Wachstropfen den kalten Rand durchbrach und doch noch den Weg in den Sand fand.

 

Es entstand eine längere Pause: Sebastian war mit seinem guten Vater gerade unterwegs ins Wedau Stadion zu einem Heimspiel der „Zebras“.

 

Er hat sich versündigt, Sebastian – das Blut vieler Menschen klebt an seinen Händen, sagte die heisere Stimme unsichtbar –, das verletzt die Seele. Er wurde zum grausamen Monster, mit einem hilflosen, verzweifelten Kind im Kern.

Dein Großvater war in die Hoffnung geflüchtet, dass die Zeit bald alle Wunden heilen würde. Aber als deine Mutter eines Nachts mit einem Koffer und mit dir auf dem Arm vor der Tür stand, ihm die Narben zeigte, die ihr dein Vater zugefügt hatte, da wusste er, sein Sohn, sein geliebter Sohn war verloren. Emilio hat nie aufgehört ihn zu lieben, das kann ich dir versichern. Was er auch anstellte, Emilio schaffte es nicht, sich gegen ihn zu stellen. War es nur Liebe? Waren es auch Feigheit oder Angst? Oder einfach Schuldgefühle? Er wollte es auch deiner Mutter sagen ... Aber er hat es nie fertiggebracht.

 

Sebastian unterschrieb die Rechnung für zwei Übernachtungen, stieg in seinen Wagen.

In der Nacht – selten aber nicht außergewöhnlich für diese Jahreszeit – hatte ein kräftiges Gewitter mit starken, schauerartigen Regenfällen die Straßen überflutet.

Im Autoradio hörte er vom katastrophalen Hochwasser auf Mallorca. Von den Überschwemmungen. Der Staub wurde durch die sich aufheizenden Reifen zu einem glitschigen, schmierigen Brei verrührt.

Mit Segovia im Rücken, hörte er nur noch die Stimme beim Abschied aus der Kirche: Maria ... Die Stimme stockte ... deine Großmutter starb ein Jahr, nachdem dein Vater für immer aus unserem Leben verschwand.

Er ist verdorben, hatte Emilio gesagt, seine Seele ist krank und böse! Er wird sie alle vernichten, seine Frau, Sebastian und schlussendlich auch sich selbst. Sebastian muss das unbedingt verhindern! Wäre ich dazu in der Lage, würde ich es eigenhändig tun!

Ich war entsetzt: „Emilio, das kannst du Sebastian nicht aufbürden! Du kannst von ihm keine Entscheidung abverlangen, die nur Gott und dem Teufel zusteht! Jeder muss sein eigenes Kreuz tragen!“. Ich werde das Bild nie mehr los – das verzweifelte Gesicht deines Großvaters, seine zitternde Stimme: „Sebastian muss meinen Sohn töten!“

 

Sebastian bog auf die Autobahnauffahrt ein. Jetzt wusste er: die Medizin für Mamas Krankheit war nicht in Segovia und auch nicht in Monterrubio de la Serena zu finden. Er hatte sie bei sich getragen – immer schon, überall. Die Stimme in der Tür der Kirche Das Wahre Kreuz hallte nach: Du sollst nicht töten!

Seine Antwort auch:

Das werden wir noch sehen, Compañeros ...


Sonntag, 10. Oktober 2021

Z. Z. XXIII [Vier Texte aus Val Sidals »Zeit. E - Voicings (2013)«]

 


[»Shadow World«, Lorena Kirk-Giannoulis]



sprich --
nimm ein
wort für alles
was geld nicht
zählt


[Val Sidal]





[»Fraktalette II«, Val Sidal]





NGAYA I


Ngaya* hatte auf dem Hügel unter der alten Eiche auch seine letzte Frau begraben. Ein hungriges Wildschwein hatte ihn dabei beobachtet. Nun saß er alleine in der Grotte. Wild fuchtelnd scheuchte er den Qualm aus dem Lager. Seine Augen brannten. Böses verzehrte ihn. Es trieb in seinen Gliedern auf und ab. Seine Zähne klapperten. Er zitterte am ganzen Körper. Müde hob er die feine Elfenbeinflöte und setze sie mit geschlossenen Augen an seine schuppigen Lippen.

Ngaya – ich nenne ihn Ngaya, weil er keinen Namen hatte. Weil zu dieser Zeit Namen noch nicht gegeben waren, wusste er nicht, was er war. Aber die Sippe wusste, wer er war: Er war der, der das Recht hatte – als Erster die Wahl und als Letzter die Tat.

Wenn er nach einigen Tagen der Jagd vor allen die Grotte betrat, jubelten sie vor Freude. Die jungen Mädchen, die in ihren Träumen Ngaya verwöhnt und liebkost hatten, liefen ihm, der sie alle kennen durfte, entgegen, um sich ihm hinzugeben und ihm das Lachen auf das müde Gesicht zu zaubern. Sie zerrten ihn in die dunkelste Ecke der Grotte, in die Gemächer der Lust und der Erneuerung.

Doch Ngaya trieb sie diesmal fort. Die Hetzjagd und das Schleppen der Beute hatten seine Kräfte geraubt. Er wollte nur noch schlafen.

Die Kräftigeren seiner Gefolgschaft witterten ihre Chance. Mancher, der glaubte, sich schon mit Ngaya messen zu können, aber noch nicht den Mut der Tat in den Adern verspürte, suchte die Gelegenheit.

Als Ngaya träumte, dem größten und wildesten aller Mammuts, den tödlichen Stoß versetzt zu haben, wurde er von lautem Geschrei geweckt: Er war sofort hellwach; er hatte einen leichten Schlaf.

Die Mitglieder des Clans schrien und sprangen verzweifelt hin und her. Die Älteren saßen starr am Feuer. Die Älteste jammerte kraftlos. Mit dem leblosen Leib eines kleinen Jungen in den Armen rannte jemand von einem zum anderen und zeigte mit entsetztem Gesicht und verzweifeltem Geschrei auf den entstellten Körper.

Das Kind atmete nicht mehr. Seine Augen waren verdreht und blutunterlaufen. Seine Haut befleckt, verletzt und zersetzt. Auf dem kleinen Körper klebten, verschmiert und festgetrocknet, Überreste von Erbrochenem.

Die jungen Männer der Sippe fuchtelten mit ihren Speeren und mit lodernden Fackeln, trauten sich aber nicht vor die Grotte. Das unbekannte Tier, das das Kind getötet hatte, konnte noch da sein.

In den nächsten Tagen griff das unsichtbare Ungeheuer jeden an. Zuerst die Kinder, dann die Alten und dann die anderen. Ngaya hatte sie alle begraben. Nun waren sie alle fort.

Er saß vor dem Feuer und blies seine Seele in die Flöte. Er wähnte sich kampfbereit – doch ein Gefühl, das er noch nie zuvor erlebt hatte, lähmte ihn. Sein Kopf bedeutete ihm, dass er das Ungeheuer besiegen könnte, hatte er doch bis heute alle wilden Tiere besiegt. Er merkte, dass etwas sein Innerstes verzehrte: Seine Muskeln erschlafften allmählich. Etwas in seinem Bauch ließ ihn ahnen, dass er diesmal verlieren würde; dass es einen Feind gab, dem selbst er nicht gewachsen war.

Es muss das größte aller Tiere sein, dachte er noch, denn er spürte schon den heißen Hauch des Ungeheuers in seinem Gesicht und seinen frostigen Griff am ganzen Körper. Mühsam drehte er sich um. Unsichtbar versetzte ihm der Feind einen heftigen Schlag auf den Kopf.

Jetzt gab es niemanden mehr, der die sieben leisen Töne seiner Flöte hätte hören können. Niemanden in der Grotte, niemanden auf der ganzen Welt, dem das Lied ein Zeichen gewesen wäre: hier sind wir und nicht ihr. Aber wie es bei euch ist, ist es auch bei uns.

Ein Wolf entdeckte Ngaya in der Grotte in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Sein lebloser, fürchterlich gezeichneter Körper lag neben der Asche der Feuerstelle, in die seine Flöte gefallen war. Der Wolf schnupperte vorsichtig an Ngayas Gebeinen. Sein Nackenfell richtete sich auf. Den Schwanz zwischen den Beinen, scheute er langsam zurück. Das unsichtbare Ungeheuer hauchte immer noch das Unheil ins Tal.

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* In einem Aborigine-Dialekt bedeutet Ngaya sowas wie „Selbst“





[»Fraktalette III«, Val Sidal]




LAUF DER DINGE



Mama sagt, ich komme nächstes Jahr in die Schule. Ich weiß nicht, wo die Schule ist.

Ich weiß, wo der Spielplatz ist. Ich weiß, wo der Kindergarten ist, weil ich jeden Tag dort bin. Bei Fräulein Silke.

Fräulein Silke ist nett. Gestern hat sie geweint. Sie hat gesagt, Tränen sind auch nur Wasser – salzig, wie das Meer.

Ich musste auch fast weinen. Achim hat mich gehauen. Mein bester Freund heißt Demirkan. Er beschützt mich vor Dragan.

Papa hat gefragt, ob ich Angst habe auf der Straße. Ich habe gesagt, nein. Ich habe nur vor Dragan Angst. Und manchmal nachts.

Wir wohnen auf der Neißestraße.

Opa sagt, die Neiße und die Oder gehören uns, aber man darf das nicht sagen.

Papa sagt, die Straße gehört den Türken.

Ich glaube, das darf man sagen.

Ich sehe gerne fern. Nicht nur Kindersendungen. Ich spiele auch gerne.

Mama hat gesagt, wenn ich groß bin, werde ich lesen. Darum muss ich in die Schule. Mama sagt – ach egal …

Wir wohnen im Erdgeschoss. Und dort sind Treppen. Wenn wir die Treppen runter gehen, dann kommt manchmal die U-Bahn. Wir fahren in die Stadt mit der U-Bahn. Ich kann auch nachts die U-Bahn hören. Die U-Bahn heißt U-Bahn, weil sie unter der Erde fährt. Sie heißt Straßenbahn, wenn sie aus dem Tunnel rausfährt. Dann kann ich Menschen sehen und Autos. Wenn ich am Fenster sitzen darf. Papa sagt, wenn ich groß bin, darf ich alleine mit der U-Bahn fahren. Aber ich will nicht.

Wo wir aussteigen, das ist keine Haltestelle. Dort ist Bahnhof. Und auf der Straße ist der Dom. Der Dom hat zwei Türme, sagt Mama.

Fräulein Silke hat einmal gefragt, ob ich den Dom malen kann. Ich habe gesagt, nein. Aber zu Hause habe ich doch den Dom gemalt. Es war ganz einfach! Papa hat gesagt, der Dom ist eine Kirche. Die Türken haben eine andere Kirche, die heißt anders. Ich weiß nicht …

Fräulein Silke hat gesagt, in der Kirche kann man zu Gott beten. Es ist sein Haus. Mama hat gesagt, man kann überall zu Gott beten.

Ich kann nicht überall beten. Ich kann nur im Bett beten. Auch gestern.

Mama hat mit Papa geschimpft. Sie hat gesagt, du verspielst unser ganzes Geld. Aber das ist nicht wahr! Papa arbeitet immer nur und spielt am Wochenende mit mir. Und nicht mit Geld. Aber Mama hat geweint. Ich weiß nicht …

Papa hat früher Autos gebaut. Ford. Ich weiß nicht, was er jetzt baut. Ich habe sicherheitshalber im Bett gebetet, dass Papa nicht unser ganzes Geld verspielt. Damit Mama nicht weint. Und weil Geld wichtig ist, hat Fräulein Silke gesagt.

Mit Geld kann man Sachen kaufen.

Am Dom ist McDonalds. Dort kann man mit Geld BigMäc kaufen. Und Fritten mit Ketchup und Majo. Das mag ich.

Opa sagt, McDonalds ist nicht gesund, macht fett. Aber ich bin nicht fett. Oma war fett. Aber sie ist tot. Tot ist, wenn Gott ruft. Mich hat Gott nicht gerufen. Ich höre immer genau zu, aber er hat mich nicht gerufen. Ich bin nicht tot.

Wenn Gott ruft, dann kommt man in den Himmel. Wenn man brav war. Ich bin meistens brav. Wirklich!

Opa sagt, wenn man nicht brav ist, dann holt einen der Teufel. Aber Opa sagt auch, in der Stadt stinkt’s. Ich glaube, er macht immer nur Witze. In unserer Stadt stinkt’s nicht. Opa wohnt in der Eifel. In den Bergen und Wäldern. Er sagt, dort ist die Luft noch rein. Er sagt, der Rhein stinkt. Aber ich glaube, er sagt immer stinkt, stinkt, stinkt, damit die Leute lachen. Aber nur Papa lacht.

Mama sagt oft zu Opa, lass das sein, hör damit auf! Opa hat mich lieb, das weiß ich. Er hat keine Haare mehr. Aber Mama sagt, das liegt in der Familie.

Oma ist jetzt im Himmel und schaut von oben auf den Dom, hat Opa gesagt. Ich schaue noch von unten auf den Dom. Weil er so groß ist. Wenn ich tot bin, dann schaue ich auch von oben.

In der Stadt gehen wir dann spazieren.

Mama sagt auf der Hohestraße, aber ich finde sie ist nicht hoch, es sind nur so viele Menschen. Und Geschäfte. Wir gehen in ein Geschäft, weil Mama einen Pulli anprobieren muss. Aber Papa gefällt es nicht. Mir gefällt es. Ich finde, Mama sieht toll aus.

Dann spazieren wir auf der Schildergasse. Aber ich habe nicht mehr Schilder gesehen als auf der Hohestraße. Wirklich! Ich habe Papa gefragt, warum die Straßen so heißen, wenn es gar nicht wahr ist. Das sind nur Namen, hat er gesagt.

Einmal hat mich im Kindergarten Murat gehauen. Ich habe geweint, weil es wehgetan hat. Wirklich!

Papa hat geschimpft: Heul nicht! Du lässt dich nie mehr von einem Türken verhauen! Du bist Russe!

Ich wusste es!

Ich bin anders.

...

Ich weiß nicht ...