Wir sind dem Aufwachen nah, wenn wir träumen, daß wir träumen.
[Aus: Novalis »Vermischte Bemerkungen, 16« (1797 – 1798)]
Wir träumen von Reisen durch das Weltall: Ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht.
[Aus: Novalis »Blüthenstaub §16« (1798)]
Die Romantiker eint das Unbehagen an der Normalität, am gewöhnlichen Leben. Was ist ihr Leben in Deutschland um 1800? Zunächst einmal: Es ist das gewöhnliche Leben von Schriftstellern, von Leuten also, für die geistige Angelegenheiten nicht eine schöne Nebensache, sondern Hauptsache sind und denen das Geistige noch mit dem Geistlichen verbunden ist. Kein Wunder, stammen doch viele von ihnen aus Pfarrhäusern. Zwar hat auch bei ihnen die Aufklärung den alten Glauben ausgehöhlt. Eben darum halten sie, um das gewöhnliche Leben vor der Entzauberung zu schützen, Ausschau nach neuen Quellen des Geheimnisvollen. Die finden sie im poetischen Geist, in der Phantasie, in der philosophischen Spekulation und manchmal auch in der Politik, allerdings einer phantastisch zurechtgemachten Politik. [Rüdiger Safranski »Romantik. Eine deutsche Affäre«; Zehntes Kapitel (2007)]
O Traum der Wüste, Liebe, endlos Sehnen
O Traum der Wüste, Liebe, endlos Sehnen,
Blau überspannt vom Zelte, Stern an Stern;
O Wüstenglut voll Tau, o Lieb voll Tränen,
Weil sich unendlich Nahes ewig fern.
O Wüstentraum, wo Lieb auf Herzschlag lauschet,
Wenn flüchtgen Wildes Huf die Wüste drischt,
O Traum, wo der Geliebten Schleier rauschet,
Wenn Geierflug im Sandmeer Schlangen fischt.
O Wüstentraum, wo Liebe träumt zu fassen
Jetzt Josephs Mantelsaum mit durstger Hand,
Da geißelt wach, verhöhnt halb, ganz verlassen
Ihr Herz, der Wüste Geißel, glüher Sand.
O Liebe, Wüstentraum der Sehnsuchtspalme,
Die blütenlos Gezweig zum Himmel streckt,
Bis segnend in des höchsten Liedes Psalme
Der Engel sie mit heilgem Fruchtstaub weckt.
O Wüste, Traum der Liebe, die verachtet
Vom Haus verstoßen mit der Hagar irrt,
Wo schläft der Quell? da Ismael verschmachtet,
Bis deine Brust ihm eine Amme wird.
O Wüstentraum der Liebe, die sich sehnet,
Steigt nie ein Weiherauch aus dir empor?
Geht duftend, auf den Bräutigam gelehnet,
Nie meine Seele heil aus dir hervor?
O Wüste, wo das Wort der ewgen Liebe
Im unversehrten Dorn vor Moses flammt,
Ein Zeugnis, daß die Mutter Jungfrau bliebe,
Aus deren Schoß der Sohn der Gottheit stammt.
Lieb′, Wüstentraum, so laut des Rufers Stimme,
»Bereit′ den Weg des Herrn!« dir mahnend schallt,
Summt in des Löwen Schlund dir doch die Imme,
Die Süßes baut im Rachen der Gewalt.
O Durst der Liebe, Wüstentraum, wann spaltet
Der Herr den Fels, daß Wasser gibt der Stein,
Wann deckt in dir den Tisch, der gütig waltet,
Wann sammle ich das Himmelbrot mir ein?
Durst, Liebe, Wüstentraum, dort scheint am Hügel
Der Morgenstrahl, ein Hirtenfeuer weiß,
Wo Durst gewähnt des Wasserfalles Spiegel
Fand Liebe ein Geschiebe Fraueneis.
O Liebe, Wüstentraum des Heimatkranken,
Ihr Paradiese, schimmernd in der Luft,
Ihr Sehnsuchtsströme, die durch Wiesen ranken,
Ihr Palmenhaine, lockend in dem Duft.
O Liebe, Wüstentraumquell, beim Erwachen
Rauscht dir kein Quell, es wirbelt glüher Sand,
Es saust das Haus der Schlangen und der Drachen
Und prasselt nieder an der Felsenwand.
O Wüstentraum, wo Sehnsucht Feuer trinket,
Und Liebe angehaucht vom giftgen Smum,
Ohn Trost und Hoffnung tot zur Erde sinket;
O Tod ohn Liebe, Hoffnung, Ehr und Ruhm!
O Wüstentraum der Lieb! in der Oase
Labt dich am Quell, der zwischen Palmen glänzt,
Ein schlankes Kind - die Schlange ist′s im Grase,
Der Räuber Kundschaft′rin, ein Truggespenst.
O Liebe, Wüstentraum, nach kurzem Gasten
Sprengt dich der Räuber gastfrei an mit Hohn:
»Mein Brüderchen! entlaste dich zum Fasten,
Wo denkest du hinaus, mein lieber Sohn?«
O Liebe, Wüstentraum, du mußt verbluten,
Beraubt, verwundet, trifft der Sonne Stich,
Der Wüste Speer dich, und in Sandesgluten
Begräbt der Wind dich, und Gott findet dich!
[Clemens
Brentano
(09.09.1778
- 28.07.1842)]
[»Turnermania«, Goedart Palm (2021)]
Zwischen 1750 und 1800 verdoppelt sich die Zahl derer, die lesen können. Ungefähr 25% der Bevölkerung gehören am Ende des Jahrhunderts zum potentiellen Lesepublikum. Langsam vollzieht sich im Leseverhalten ein Wandel: Man liest nicht mehr ein Buch viele Male, sondern viele Bücher einmal. Die Autorität der großen, wichtigen Bücher – die Bibel, Erbauungsschriften, Kalender -, die mehrfach gelesen und studiert werden, schwindet, man verlangt nach einer größeren Masse von Lesestoff, nach Büchern, nicht dafür geschaffen, daß man darin liest, sondern daß man sie verschlingt. Zwischen 1790 und 1800 erscheinen zweieinhalbtausend Romantitel auf dem Markt, genau so viele wie insgesamt in den neunzig Jahren zuvor. Das wachsende Angebot will bewältigt sein. Das Publikum lernt die Kunst des schnellen Lesens. [Rüdiger Safranski »Romantik. Eine deutsche Affäre«; Drittes Kapitel (2007)]
[»Rote Erde«, Goedart Palm (2021)]
Der erste Akt der Französischen Revolution konnte noch als Akt der Vernunft gelten – die Welt stand auf dem Kopf (Hegel), der Gedanke triumphierte -, aber die tumultuarischen und terroristischen Folgen mußte man wohl als Zeichen dafür nehmen, daß die Geschichte der planenden Vernunft aus dem Ruder läuft und eher unsere dunkle Natur als unseren hellen Verstand zum Zuge kommen läßt. Das alles erschüttert das Vertrauen in ein aufgeklärtes Denken, das sich die Sache zu leicht macht, was bedeutet: unfähig ist, die Tiefe des Lebens und seine Nachtseiten zu erfassen. Es wird der Ehrgeiz der Romantiker sein, das Denken und die Imagination auf das Ungeheure einzustimmen, das in uns und um uns geschieht. Daß der Fortschritt immer das Bessere bringt, beginnt man zu bezweifeln. [Rüdiger Safranski »Romantik. Eine deutsche Affäre«; Drittes Kapitel (2007)]
[»Tankstelle«, Goedart Palm (2021)]
Die Romantiker, und das macht ihre Modernität aus, waren metaphysische Unterhaltungskünstler in einem sehr anspruchsvollen Sinn, denn sie wußten nur zu genau: Unterhalten oder genauer: unter-gehalten werden müssen die Absturzgefährdeten. So aber empfanden sich die Romantiker: als absturzgefährdet, und das macht sie zu unseren Zeitgenossen. Das vormoderne Bewußtsein konnte sich nicht vorstellen, aus der Welt zu fallen. Irgendein Jenseits gab es immer. [Rüdiger Safranski »Romantik. Eine deutsche Affäre«; Zehntes Kapitel (2007)]