Culture is shared meaning. Suppose we were able to share meanings freely without a compulsive urge to impose our view or conform to those of others and without distortion and self-deception. Would this not constitute a real revolution in culture? [David Bohm »Changing Consciousness« (1991)]
Profan
Mit Larissas Mutter kam Soljanka nach Kurzweiler. Das tausend Jahre alte Dorf wird Schauplatz eines globalen Konflikts. Als auch noch der Fußballverein verschwindet, verliert Larissa, ein schmächtiger, vorlauter Zappelphilipp, ihren letzten Halt.
Man kennt die Bilder:
In den Gotteshäusern wüst aufgeschlagene Zelte, Matratzenlager und Wäscheleinen, die kreuz und quer gespannt, durch das Kirchenschiff gezogen, die Luft, den Raum zerschneiden wie Hochspannungsleitungen, wie angeblich vergiftete Silberkondensstreifen den Himmel – die Welt – kreuzen.
„Wie diese dunklen Gestalten grinsend in unser Land strömen, uns Not und Leid vorgaukeln!“, schreit ihr Vater den Bildschirm an, während Larissa eher mit der schwarzen Haut hadert: „Vor allem die Haut!“ – wie sie auf den Selfies glänzt! Mutter seufzt und Larissa könnte platzen: Ich hasse den vergeistigten Ausdruck in Muttis Visage bei Berichten über tüchtige, gute Menschen, die dem Teufel mit offenen Armen entgegenrennen!
„Wie krank muss man sein, die Horden von notgeilen Testosteronbomben hereinzulassen? Du würdest dir am liebsten auch ein paar dicke Schwänze ins Haus holen, wie?! Die Beine breitmachen! Fotze!"
In Vaters Augen haben alles die Weiber verschuldet. Sie hätten keinen Sinn für die Realität. Für Fakten. Larissa stimmte Vater zu, wenn er daraufhin Mutter als komplett verblödete Kuh bezeichnete.
„Die Welt ist kein Sandkasten! Und das Land, kein Garten Eden. In der Welt herrscht nun mal der Kampf ums Überleben. Schonungslos. Unfair. Heimtückisch und brutal. Ihr Weiber seid zu einfach strukturiert, um das zu kapieren!" – Solche Ausbrüche trafen sie und Larissa fand sie Mutter gegenüber unfair. So ist sie halt, sie kann auch nicht aus ihrer Haut! Manchmal hätte sie Mutter gerne verteidigt.
Mit heftigem Druck in der Stirn und in den Augen lauschte Larissa heute ihrem Herzschlag, beobachtete das Pumpen und Pochen in der Halsschlagader – rasend oder normal? Regelmäßig oder mit Aussetzer?
Sie hörte sich leben.
Dann brach das Glockengeläut der nahegelegenen Kirche durch das Fenster ein, und Larissa zuckte zusammen. Das Kribbeln in den Armen, in den tauben Fingern hörte sich unter der Haut wie der Gesang von tausend Ameisen an.
Larissa wusste, dass ihre Eltern schon längst die Kirchbank drückten, wie jeden Sonntag – die Ärsche, dachte sie. Dass sie schon lange weder von der Kirche, noch von Gott irgendwas erwarteten, war ihr klar. Es war nur wegen der Leute. Mutter - und das Gerede, als sich Larissa vor zehn Jahren geweigert hatte, jemals wieder eine Kirche zu betreten ... „Sag du auch mal was!", hatte sie ihren Mann angefleht, ihn verzweifelt angebrüllt. „Hat keinen Zweck", raunte er genervt, „es ist deine Schuld, deine Erziehung", und – „die ist nicht normal. Deine schlechten Gene! Lässt sich bemuttern, sich alles in den Arsch schieben … Die wird's nie zu etwas bringen." Vater sprach über Larissa gerne in der dritten Person, würdigte sie aber dabei keines Blickes.
Der Druck auf ihre Blase nahm zu, und Larissa öffnete die Augen, stieg aus dem Bett, stand auf, sank aber gleich wieder auf die Bettkante, weil ihr schwarz vor den Augen wurde – wie jeden Morgen. Es läge am Sauerstoffmangel – vielleicht am niedrigen Blutdruck. „Psychosomatisch. Sie sollten sich mal untersuchen lassen“, hatte die Therapeutin empfohlen.
„Geerbt“, hatte Larissa gesagt – „meine Mutter hat das auch.“ Pech gehabt!
Wie oft musste sie von ihrem Vater hören, dass die Gene ihrer Mutter es schuld seien, und dass sie Pech gehabt hätte. In einer Sitzung hatte die Therapeutin erklärt, dass sie mit ihren Eltern wirklich Pech gehabt habe. „Denken Sie daran: Es ist nicht Ihre schuld!“, sagte sie, „Wiederholen Sie: Es ist nicht meine schuld!“
qui pro nobis sanguinem sudavit – wiederholte Larissa: „qui pro nobis sanguinem sudavit …“
Pech war das Schwarze Loch ihrer Seele, das ihr Selbstbewusstsein – und noch mehr, ihr Selbst und ihr Bewusstsein verschlang. Sie fühlte es. Materiell, heiß und zäh. Manchmal füllte es ihren Schädel ganz aus. Dann wurde ihr schwarz vor den Augen und erstarrt verlor sie sich im Tumult ihrer Stimmen. Pech, und – das Unaussprechliche. Das Teuflische.
„Es ist wie ein Möbius-Band. Tag und Nacht dieselbe Seite, nur verschiedene Schleifen“, hatte Larissa einmal der Therapeutin gesagt. Wenn Mutter – unbeobachtet, wie sie glaubte – mit zitternder Hand, wieder das Cognac-Glas füllte, dann war es Vormittag. Wenn Vater durch die Tür kam, sich aufs Sofa stürzte und die geöffnete Flasche Bier entgegennahm, dann war es Nachmittag. Wenn es im Haus dunkel wurde, und in ihrem Kopfkino Vater und Mutter sich in der Wirtschaft vergnügten, wie es Erwachsene tun, dann brach die Nacht ein – die Zeit des Wartens und der Stimmen.
Irgendwann half auch das Fernsehen nicht mehr. Wenn sie im Treppenhaus saß und auf der letzten Stufe mit automatischen Rhythmen die bösen Geister mit den Füßen verscheuchen versuchte, dann nahte die Zeit der Panik: Hoffentlich schlagen sie sich auf dem Heimweg nicht gegenseitig die Köpfe ein! Lieber Gott, lass sie bald die Tür aufschließen und grölend in die Diele torkeln…
Wenn die Glocken läuteten, dann war es Sonntag. Ihre Eltern beteten wohl gerade das letzte Vater-Unser, dachte Larissa: Die Entweihung der Kirche stand unmittelbar bevor. Der Bischof hatte beschlossen, dass die Profanation der Saint-Bernadette Kirche im Rahmen einer letzten Heiligen Messe vollzogen wird. Die Kirche gilt nach der Profanierung nicht mehr als geheiligter Raum, sondern als gewöhnliches Gebäude, hatte Vater erklärt, aber Larissa wusste, dass sie bereits entweiht wurde, als der Teufel in die Kirche einzog.
Die Schweine onanieren unterm Kreuz! Der fickt seine Frauen vor dem Altar! Und Vater redet nur!
Eine ritualisierte Zerstörung des Kirchengebäudes und des Altars war nicht vorgesehen – „Das wird irgendwann der Riesenbagger des Braunkohletagebaus ganz profan erledigen“, scherzte Vater – „das Problem wird sich von selbst lösen.“
Ob sie eine Freundin oder einen Freund habe, hatte sich die Therapeutin erkundigt. „Meine Freunde stehen zu mir“, hatte Larissa beteuert – allesamt ehemalige Klassenkameraden – „sie haben mich immer auf Schalke mitgenommen. Solange ich es noch schaffte, das Haus zu verlassen.“ Auch gestern musste sie sich überwinden, um nach mehreren Anläufen auf die Straße zu gelangen.
Der nasse Bürgersteig reflektierte verschwommen die Lichter der Straßenbeleuchtung. Obwohl der Wagen wochenlang ungenutzt auf dem Parkplatz gestanden hatte, sprang der Motor sofort an. Larissa lächelte zufrieden, und fuhr die paar hundert Meter zur Tankstelle mit Tempo 30. Bloß nicht auffallen! Nachdem sie den Benzinkanister gefüllt und auf dem Boden vor dem Beifahrersitz abgestellt hatte, blieb sie noch eine Weile sitzen und hörte zufrieden ihre Lieblingsband im Autoradio. Mit einer letzten heiligen Prozession mit dem Allerheiligsten, den Reliquien und Heiligenbildern wird die Profanation inszeniert, das war Larissa klar. Aber dass man das Haus einfach dem Teufel überlassen wollte, fand Larissa unerträglich.
Viele, die an der Prozession teilnehmen würden, kannte Larissa gut. Die meisten waren Vaters Meinung. Aber sie reden nur … Das Haus nicht verlassen zu können – heute war das ihre einzige Sorge.
Normale Menschen könnten sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn schon der Gedanke daran das Herz zum Rasen bringt, die Knie zu zittern beginnen, und …
Ja – mehr hatte die Therapeutin dazu nicht zu sagen.
Larissa öffnete die Sporttasche, warf einen Blick hinein und zog zufrieden den Reißverschluss wieder zu. Es beruhigte sie etwas. Ich werde es heute schaffen! Ich muss!
Die Therapeutin hielt das Bild von Larissa in Stichpunkten fest – mehr war nicht nötig. Larissa sei nun erwachsen und wenn sie wieder auf die Beine kommen wolle, dann müsse sie für sich Verantwortung übernehmen, in eine eigene Wohnung ziehen – sie solle unbedingt aus dem elterlichen Haus ausziehen! Larissa entgegnete erregt, dass sie doch in ihrer eigenen Wohnung lebe – die Einliegerwohnung unterm Dach, zwei Zimmer, Küche, Diele, Bad, war extra für sie ausgebaut und eingerichtet worden. Und ja, sie sei für sich verantwortlich, habe seit zwei Jahren ein eigenes Konto, einen Job in der Firma ihres Vaters, einer kleinen Druckerei, wo sie aus dem Home-Office für die Buchführung zuständig ist, sie zahle Miete.
Die Therapeutin unterbrach sie mit der Frage, wie oft sie im Betrieb anwesend sein müsse. „Nie“ – Larissas zögerliche Antwort – schien sie erwartet zu haben, dennoch rutschte ihr die Bemerkung aus: „Das ist krank!“ Deswegen bin ich ja hier, hätte Larissa gerne gesagt, aber sie bekam keinen Ton heraus.
Wie sie auch sprachlos war, als die Therapeutin wissen wollte, ob sie ihren Vater liebe. „Ich bewundere ihn“, hatte sie geantwortet, „weil er so vielseitig interessiert und so erfolgreich ist. Und so viel weiß.“
Larissa erzählte von Vaters Vorträgen in der Gastwirtschaft beim Bier über Klimawandel und Finanzkrise, Tod und die Steuer, von Flüchtlingen. Von seinem Hass auf die Kirche, weil sie die Abschiebung von abgelehnten Asylanten verhindere und illegales Kirchenasyl gewähre. Juristisch sei es kein Unterschied, ob ein Mensch in einer Kirche, bei einer anderen Institution oder in einem Privathaushalt Zuflucht sucht. Bei dem Thema kochte er vor Wut: „Es gelten die üblichen Regeln wie Hausrecht, aber es gibt keine Sonderrechte für Kirchen! Wo soll das hinführen? Es gibt Härtefallregelungen – und damit basta!“
„Und – stimmen Sie ihm zu?“, fragte bohrend die Therapeutin. „Ah, Vater redet nur...“
Als das Datum der Profanation feststand, fand ein Meeting der KFD statt. Jemand hat es gefilmt und im Internet gepostet. Es wurde heftig darüber diskutiert, was mit den zwei afghanischen Familien in der Kirche geschehen solle, denen die Abschiebung drohte.
Mutter wirkte wie ausgewechselt. So kannte Larissa sie gar nicht. Sie argumentierte leidenschaftlich, aber besonnen. War immer um Ausgleich bemüht. Als Nachbarin Gaby Schlömers den Vorschlag einbrachte, die Flüchtlinge in der Prozession mit zu nehmen, sie zum Schutz vielleicht geheiligte Gegenstände tragen zu lassen, hatte Mutter zunächst verständnisvoll und zustimmend genickt. Die Aufnahme zeigte sie lächelnd, und Larissa musste das Abspielen stoppen.
„Ich hatte Mutter nie zuvor so lächeln gesehen!“, brach es aus Larissa – ihre Augen in feuchtem Glanz.
„Ich konnte kaum aufhören zu weinen“, erstickte Larissa ihr Gefühl. Die Therapeutin nickte einfühlsam.
Am Ende hatte man sich darauf verständigt, dass ein Transporter gemietet werden würde, um nach der Prozession die Asylanten aus der alten Kirche in die Nachbarkirche zu bringen. Es war nicht zu erkennen, wessen Stimme es war, eine leise Stimme aus dem Hintergrund, die bemerkte, dass es eigentlich illegal sei, Flüchtlinge aktiv aus einem Asyl ins andere zu bringen, das sei Fluchthilfe. Sie ging unter, ohne dass jemand darauf reagiert hätte. Zehn Frauen wollten beim Umzug helfen. Selbstverständlich auch Mutter: „Wir müssen anpacken, nicht immer nur reden!“ Wer da wem wohl helfe, hatte sich Larissa gefragt.
Vieles änderte sich, als Larissa Ego-Shooter wurde.
Engel Mike. Immer das gleiche Spiel: Angel Mike soll die Dämonen – den Teufel – vernichten, und scheitert. Oder er steigt eine Stufe auf, und Luzifer wird seine noch hässlicheren Fratzen zeigen, und der Engel wird wieder scheitern. Oder aufsteigen – im ewigen Krieg.
Wenn im Schatten des Dämmerlichts das Bier ihre glühenden Grauen Zellen geflutet und die Angst im Zigarettenqualm erstickt hat, bis sie im Pech der Nacht den Geist – das Spiel – aufgab, konnte Larissa endlich einschlafen.
Eternal War – Nacht für Nacht. Morgen für Morgen.
Eigentlich war Larissa in den Therapiegesprächen immer wortkarg geblieben, antwortete nur knapp, stellte selbst keine Fragen – mit einer Ausnahme.
Larissa wollte wissen, ob die Therapeutin als Seelenspezialistin nicht auch der Meinung sei, dass von den Flüchtlingen akute Gefahr ausginge. Ob nicht doch Vater recht hätte, dass wenn jemand bereits getötet hat, oder töten musste, dann eine Sicherung durchbrannte und die Schwelle mit jedem Male niedriger wäre, bis irgendwann auch eine Kleinigkeit, ein falsches Wort reichte … Ob Kinder, die ihr Leben lang von Morden und Mördern umgeben waren, den Umgang mit der Waffe und das Töten spielend lernten und Gewalt als völlig normal empfänden.
Vater sagte, dass Werte und Überzeugungen, wenn sie geprägt wurden, nicht einfach umprogrammiert werden könnten. So wie uns selbstverständlich erscheine, den Nachbarn anzuzeigen, wenn er seinen Hund in unseren Vorgarten kacken lässt, und uns darauf verlassen, dass wenn einer seine Schulden nicht bezahlt, das Gericht – zur Not mit polizeilicher Gewalt – sie bei ihm eintreibt, so würden die Flüchtlinge auch bei jeder Kleinigkeit zur Waffe greifen. Ist es nicht so, dass bei Ihnen Gottes Wille sowieso allem Willen vorausginge? Ihre Antwort enttäuschte Larissa.
„Scheinbar sucht ihr Vater nach einer Haltung, die immer richtig ist, nach einer für Alle und alle Fälle gültigen Regel, die durchzusetzen gilt. Nach einer für jede neue Situation angemessene moralische Norm. Aber das ist keine Frage der Psychologie oder Psychiatrie. Nicht einmal des Rechts oder irgendeiner Wissenschaft. Wenn sie meine persönliche Meinung hören wollen“, sagte sie lächelnd, „dann geht es hier um Gewissensfragen. Und Gewissen ist individuell und nicht statisch, sondern es entfaltet sich erst, wenn es darauf ankommt. Es gibt keine Gewissenskonserve, aus der wir uns bei Bedarf bedienen könnten. Wenn wir antworten, vergewissern wir uns Selbst. Wie wir antworten, geben wir uns selbst zu erkennen. Wenn es Gott gibt, dann ist sein Geschenk an den Menschen nicht das Gebot, sondern das Gewissen“, sagte sie. So antwortet eine Frau, dachte Larissa und fand sich hundert Prozent auf Vaters Seite. Sie wünschte, sie hätte einen männlichen Psychotherapeuten. Pech gehabt!
Heute nahm sie sich Zeit für die Morgentoilette. Holte sich auch frische Unterwäsche aus dem Schrank, eine weiße Bluse (Mutter hatte sie gebügelt und ordentlich in den Schrank gehängt) mit goldenen Manschettenknöpfen, die Jeans und schwarze Socken dazu, und bereitete sie für später vor. Dann putzte sie sich die Zähne und duschte ausgiebig.
Larissa erinnerte sich dabei an das Schützenbiwak im Mai, als sie gegen drei Uhr morgens, im Festzelt, sich von oben bis unten vollgekotzt und die Jeans mit Urin besudelt hatte. Es war, das letzte Mal, dass sie die weiße Bluse mit den goldenen Manschettenknöpfen trug.
„Was sollen die Leute denken“, hatte Mutter gejammert, und Vater, der ewige Adjutant des Obersts, lachte nur mit seinen Schützenbrüdern, als er spottete: „Mädchen können eben kein Bier vertragen.“
Haha! Hätte er sich wenigstens einmal entschuldigt, einmal zu mir gestanden! Einmal!!
Als die Therapeutin wissen wollte, ob in der Ehe der Eltern Gewalt eine Rolle spielte – und als Larissa stutzte, sie die Frage zuspitzte: „Schlägt er ihre Mutter?“ – weigerte sich Larissa zu antworten. Vater kam nur einfach mit ihrem Helfersyndrom nicht zurecht. Und der Alkohol – natürlich. Sie wollte immer schon jedem helfen, jeden aufnehmen. „Uns geht es gut, wir haben mehr als genug – wir sollten dankbar sein und teilen“, sagte Mutter, und Vater spuckte ihr vor die Füße: „Was hast du, was nicht ich erwirtschaftet hätte? Du verfickte, armselige, russische Hure!“ Als sie ein Blatt mit dem Spruch Glück vermehrt sich durch Teilen! mit Tesafilm auf die Kühlschranktür geklebt hatte, geriet Vater in Rage und klebte ihr eine. „Machst du dir eigentlich klar, warum es uns gut geht? Woher unser Wohlstand kommt? Warum ihr euch den Luxus eurer edlen Haltung leisten könnt? Er wird von Männern wie mir, im täglichen Überlebenskampf errungen und verteidigt! Das sollten die Herrschaften Asylanten erst mal bei sich zu Hause leisten!“
Am Ende stimmte Larissa doch immer Vater zu. Aber der redet nur.
Mit abwesendem Blick stellte sie eine Tasse in die Kaffeemaschine, die ihr ihre Eltern zum zwanzigsten Geburtstag geschenkt hatten – bald fiele ihnen kein Geschenk mehr ein, hatte Vater gesagt, es war als Scherz gemeint. Larissa erstickte damals ihre Wut mit einem Lächeln, weil es stimmte: als sie vor zwei Jahren ihren Wagen zu Schrott gefahren hatte, durfte sie sich ein neues Modell aussuchen – Vater würde es bezahlen, wie das Heimkino, den ultraschnellen Computer, die … – alles, immer schon. Larissa hasste ihn dafür. Und hasste sich, dass sie immer alles angenommen hatte.
Das Krächzen der integrierten Kaffeemühle übertönte das Brummen des Föns. Ihre Hand zitterte beim Anziehen der weißen Bluse und ein goldener Manschettenknopf fiel auf den Boden.
Beim Bücken und Aufheben wurde ihr leicht schwindelig.
Sie durfte die Prozession auf keinen Fall verpassen – wenn sie es überhaupt bis zur Kirche schaffte. Ohne sich zu setzen, nahm sie einen kräftigen Schluck vom frischgebrühten Cappuccino, legte die Tasse auf den Küchentisch und griff nach der Sporttasche. Sie prüfte nochmal den Inhalt und verließ ihre Wohnung.
… der für uns Blut geschwitzt hat …Haha! O Herr! Das ich nicht lache, dachte Larissa. Erst wenn das Möbiusband durchgeschnitten würde, dann wäre alles einfach: mit dem Ende bekäme der Anfang seinen Sinn. Die Dinge klärten sich. Zwei Seiten – oben und unten.
Was, wenn das Leben einfach vorbei wäre, wie ein Gewitter, das seine Kraft und Energie ablädt und für immer vorbeizieht, oder eine Pfütze, die auf dem Asphalt einfach verdampft, ohne ein Zeichen zu hinterlassen, spurlos verschwindet – wenn also der Tod keine Strafe sei, keine Sühne im Fegefeuer verheißen würde – wozu soll das Leiden gut gewesen sein? Warum soll das Überleben erstrebenswert sein? Nicht die Vorstellung, dass sie in der Hölle landen würde ängstigte Larissa, sondern dass sie alle ungestraft davonkommen würden. Wenn nicht nach dem Tod – wann käme die Wahrheit ans Tageslicht, fragte sich Larissa, wo bliebe die Gerechtigkeit?
Der für uns Blut geschwitzt hat … – Hast du mich einmal in den Arm genommen? Gedrückt? Einmal …? Ach! Ich vergaß – du bist ja tot, gekreuzigt! Aber sicher nicht für mich!!
Auf den Treppen wurde ihr wieder schwindelig, sie musste kurz verschnaufen. Die Tabletten schienen noch nicht zu wirken. Aber die Zeit drängte. Wankend erreichte sie die Haustür und atmete tief durch. Auf der Straße war Larissa niemandem begegnet.
Von den ehemals 1.200 Einwohnern des Dorfes warteten nur noch etwa zweihundert Seelen auf die Entschädigung durch die Energie AG und taten heute Gott einen besonderen Dienst: sie entweihten sein Haus.
Ein kalter Wind wehte ihr ins Gesicht, und Larissa fragte sich, ob sie dem Leibhaftigen von Angesicht zu Angesicht begegnen würde. Wäre Sie imstande es zu ertragen.
Der volle Benzinkanister in der Sporttasche wog schwer und sie hörte ihr Herz rasen. Nicht schlappmachen, Mike! Nicht heute!
An der verlassenen Tankstelle vorbei, über den leeren Parkplatz des Supermarktes erreichte sie den Friedhof und hielt zögernd an, entschloss sich dann doch den Umweg in Kauf zu nehmen, um noch einmal einen Blick auf Großvaters Grab zu werfen.
Die Glocken verabschiedeten gerade ein letztes Mal die Gemeinde, als Larissa den Kirchplatz erreichte und erschöpft auf die Bank gegenüber der Kirche sackte.
Als die Ministranten mit dem Allerheiligsten aus der Kirche traten, gefolgt vom Bürgermeister, dem Pfarrer und den Schützenbrüdern in ihren Festtagsuniformen, begann der Umzug, und Larissa fragte sich, wie lange er wohl dauern würde.
Wie ein Wurm kroch die Prozession aus der Kirche, und die Kapelle spielte Musik, die entfernt an Chopins Trauermarsch erinnerte. Sie bog nur wenige Meter vor Larissa ab und nahm den Weg um das Hauptschiff herum, bis die Tuba kaum noch hörbar war.
Als Mutter sie entdeckt hatte, schubste sie leicht Vaters Arm, lächelte – dieses Lächeln! – und winkte Larissa verhalten zu. Vaters flüchtiger Blick wirkte leer, und in seiner Ausdruckslosigkeit hart.
Einzelne Mitglieder scheuten wohl den ganzen Weg, scherten aus und eilten in Richtung Parkplatz, oder nach Hause.
Die Turmuhr zeigte zwölf Uhr siebenundzwanzig, als außer Larissa niemand mehr auf dem Kirchplatz zu sehen war.
Jetzt bemerkte sie den gemieteten weißen Transporter. Er stand im Schatten der Kirche. Ein Fahrer war nicht zu sehen.
Larissa warf noch einen Blick auf die Kirchenuhr – die Leere und Stille fühlte sich endlos und ewig an. Sie schüttelte sich.
So Mike, es ist soweit! Reiß dich zusammen und zieh es durch!
Larissa griff nach der Sporttasche, stand auf, und wollte gerade losgehen, als ein Polizeiwagen mit Blaulicht fast geräuschlos auf den Kirchplatz raste und sich mit quietschenden Reifen quer stellte. Ihm folgten zwei gepanzerte Mannschaftswagen und zwei weitere Streifenwagen. Die Uniformierten brachten sich mit ihren Maschinenpistolen in Stellung.
Aus einem Lautsprecher dröhnten Befehle und aus den Mannschaftswagen sprangen schwarzgekleidete, maskierte Beamte der Spezialeinheit Terrorabwehr, drangen durch die Tür in die Kirche und vollzogen endgültig die Profanation.
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