Unterunten
Lars will den Beginn der Diplomarbeit nicht abwarten und beschließt, Australien auf eigene Faust zu erkunden. Im Flüchtlingslager in Traiskirchen bei Wien täuscht er vor Flüchtling zu sein, um die Reise nach Australien durch die Caritas finanzieren zu lassen. Er ahnt nicht, dass es zu einem Bumerang werden könnte.
Weißt du, umgeben von zweifelhaften Individuen wachte Lars schweißgebadet auf. Jetzt bildeten sie einen Kreis um sein Bett. Er wusste, sie würden ihm solange nicht mehr von der Seite weichen, bis er gefunden hatte, was zu suchen war.
Der Meister und seine Tochter sprachen leise: „Erkenne, damit du glauben kannst! Werte Worte nach ihrem Wesen, denn sie sind das Werden!
Du sollst sie lieben wie sie sind; ein Nicht-Gott, ein Nicht-Geist, eine Nicht-Person, ein Nicht-Bild, mehr noch: wie sie ein lauteres, reines, klares Eins sind, abgesondert von aller Zweiheit.“
„Und in diesem Einen sollen wir ewig versinken, vom Etwas zum Nichts, um wieder Etwas werden zu können“, sagte einer, der sich Lövenix nannte.
„Das Senfkorn zeigt hier Tiefe ohne Grund. Schach und Matt der Zeit, den Formen, dem Ort! Der Wunderring ist Ursprung, unbeweglich steht sein Punkt. Werde wie ein Kind, werde taub, werde blind! Dein eigenes Ich muss zunichtewerden, alles Etwas und alles Nichts treibe hinweg! Lass Raum, lass Zeit, meide auch das Bild! Gehe ohne Weg den schmalen Pfad, dann findest du der Wüste Fußspur.“
„Wie wünschte ich, ich wüsste, wer ich bin! Was in der Welt ist, welche ich will!“, seufzte Lars.
„Bekenne dich doch zu deiner Unwissenheit!“, sagte der, der sich Krebs nannte.
„Und doch gibt es in der Natur eine gewisse reine Substanz, welche, wenn sie entdeckt und durch Kunstfertigkeit in ihren vollkommenen Zustand gebracht wird, alle unvollkommenen Körper, welche sie berührt, zur Vollkommenheit verwandelt!“
Die Stimme klang streitlustig. Es war einer, der aus der neuen Stadt kam. Sein Freund ergänzte: „Man findet sie auf dem Land, in Dörfern und Städten, in allen Dingen. Reich und Arm legen gleichermaßen jeden Tag Hand an sie, Diener werfen sie auf die Straße, und Kinder spielen damit. Niemand schätzt sie, obwohl sie das kostbarste auf Erden ist, das Könige und Prinzen vernichten kann. Aber man betrachtet sie als das gemeinste, niedrigste aller Dinge.“
Lars erschauderte, heiße und kalte Wellen strömten durch seinen Körper, von vorne nach hinten, von oben nach unten – immer wieder. Er bekam eine Erektion.
„Warum quält ihr mich, da ihr wisst, keine Gewissheit konnte mein Geist empfangen, ohne auf dem Prüfstand meiner Seele als zu leicht befunden und abgestoßen worden zu sein?“ Eine Eruption – ein kalter Samenerguss raubte ihm für den Bruchteil einer Sekunde den Verstand. „Wer bin ich, dass Ihr glaubt, die Kraft und die Weisheit zu besitzen, eurem Widerstreit entfliehen zu können? Gott, bin ich ein Schwachkopf, dass ich glaube, über meinen Geist überhaupt sprechen zu können!“
Einer aus der Runde kam näher und legte seine Hand auf seine Stirn. „Es ist der Geist Gottes, der uns ein Ding auf eine bestimmte Weise und ein zweites auf eine andere Weise verstehen lässt“, verteidigte Krebs die Gruppe.
„Wie ein in einem Kreis beschriebenes Vieleck, das die Zahl seiner Seiten vermehrt und doch nie ein Kreis wird, so nähert sich deine Erkenntnis der Wahrheit an, stimmt aber nie ganz mit ihr überein... Wissen ist also im besten Fall Vermutung.“, ergänzte ruhig Lövenix.
„Jawohl - coincidentia oppositorum, die Vereinigung von Gegensätzen führt zur Vereinigung von Gegensätzen: ein Kreis mit unendlich großem Radius hat eine Gerade als Umfang!“
„Als Luther der Medizin kann ich dir sicher helfen“, sagte bombastisch einer aus der Gefolgschaft von Hermes, einem stummen Beobachter der Szene zugewandt, der eine Smaragdtafel vor sein Gesicht hielt, um sein amüsiertes Lächeln zu verbergen. Er wusste ja, was kommen würde.
„Laudatus Laudanum!“, schrie also Luther und holte aus einem Beutel ein golden glänzendes Kügelchen, das wie Mäuseexkremente geformt war.
Lars schluckte die bittere Pille. Er fiel erneut in einen tiefen Schlaf – um zu träumen.
Als er wieder aufwachte, waren die Individuen verschwunden. Stattdessen kam seine Mutter auf ihn zu und reichte ihm ein mit Schinken belegtes Sandwich und Lars erzählte ihr von den Figuren seiner Traumzeit.
Wie sollte sie Ihn bloß beruhigen, fragte sie sich. „Auch große Geister unterliegen Irrtümern, weißt du? Täuschungen aus der Tiefe dieser Individuen sind wirr und vielfältig; ihre Dogmen trennen, was nicht zu trennen ist und führen zusammen, was nicht zusammengehört – sie bringen alles durcheinander. ie tragen ihre Trugbilder auf den Markt und beschädigen dabei das wichtigste Instrument des zwischenmenschlichen Verkehrs – die Sprache. Auch unser Verstand macht Fehler – und diese Fehler sind am schwierigsten zu erkennen und zu vermeiden.“ Mutters Stimme wirkte wie Balsam auf sein entzündetes Gemüt. „Du solltest mal wieder malen, es entspannt dich doch so schön“, empfahl sie.
„Das ist nicht mehr so. Das Monster in mir zwingt mich in der letzten Zeit immer wieder zu versuchen, mich selbst zu malen. Könnte ich doch nur meinen Geist erfassen! ES malen!“
Gib nicht auf, hätte sie gerne gesagt …er hört ja nie zu!
„Ich kann die Welt nicht malen, weil ich sie nicht ertragen kann! Im selben Maß, in dem wir durch Technik die Welt und das All eroberten, haben wir auch begonnen, die Welt und uns selbst zu zerstören!“
Mutter schüttelte nur den Kopf – Lars trat ihr in den Bauch und schnürte ihr den Hals zu. Er nahm eines seiner Selbstporträts in die Hand und zerschnitt es.
„Ich habe den Schinken selbst gemacht. Schmeckt er dir?“, fragte die Mutter ihren Sohn, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.
„Durchwachsen...“, antwortete er.
Vaters Worte kamen ihm in den Sinn: „Die Menschen verstehen nicht was sie denken. Sie hören sich sprechen, verstehen aber nicht, was sie sagen. Hüte dich vor ihnen. Hüte dich vor denen, die sagen, die Wahrheit zu kennen. Zeige ihnen aber das Gegenbeispiel, das du findest nicht. Sie könnten dich dafür töten. Halte dich fern von denen, die in spitzfindigen Diskussionen nach dem Ersten Beweger oder nach der Weltseele suchen. Wenn du etwas finden möchtest, suche es. Wenn du eine Vorstellung hast, probiere es aus. Der Traum wird dir immer den Weg weisen.“
Um seine Gedanken zu ordnen, begann er all das, was er zu wissen glaubte, in einer Tabelle, mit der Überschrift „Entitäten“ zu sammeln. Er zählte sie, ordnete sie immer wieder neu, suchte das eine Bild, welches seinen Geist befriedigte und seine Seele besänftigen würde. Als die Tabelle eine Größe erreicht hatte, die auch mehrfach gefaltet, den Boden des ganzen Zimmers abdeckte, hielt er inne.
Du bist auf dem Holzweg. Sein und Denken sind unvereinbar. Alles, was du in die Tabelle eingetragen hast, sind Verallgemeinerungen, sie haben mit den Einzeldingen nichts mehr zu tun. Das Bild, das ich entworfen habe, kann zwar in sich logisch sein, es hilft mir aber nicht, die Wirklichkeit zu erkennen. So bleibt die Welt für dich unergründlich. Ich muss sie als unverstanden hinnehmen. Ich bin unfähig, eine göttliche Ordnung in der Welt zu erkennen, so ist für mich auch der Wille Gottes unergründlich. Die Welt ist durch die Vernunft nicht beweisbar. Man kann über die Welt also nichts wissen. Du musst glauben!
Hier angekommen, begann er zu weinen. Nach einer Suche, die Tage und Nächte der letzten Monate gedauert hatte, war er an seinem Ausgangspunkt angekommen.
Mutter versuchte ihn zu trösten.
Er stand auf, ging ins Bad und holte Vaters Rasiermesser. Ein sehr scharfes Gerät der Marke Ockham.
„Was machst du da?“, schrie Mutter verängstigt.
„Sei ruhig, ich bringe mich schon nicht um!“
Ich hoffe, der Junge kommt mit heiler Haut davon, sagte sich die Mutter und ließ ihn mit seiner Pubertät allein.
Er verbrachte noch einmal Wochen und Monate damit, Zellen der Tabelle mit dem Rasiermesser aus- oder abzuschneiden.
Übrig blieb etwas, was er ohne Mühe auf dem Wohnzimmertisch ausbreiten konnte – eine Tabelle mit achtzehn Spalten und sieben Zeilen. In den Zellen hatte er nur noch Buchstaben und Zahlen mit tiefer Bedeutung eingetragen – Schönheit und Einfachheit! Die Tabelle begeisterte ihn. Ein Traum – Mendelejews Traum. Er sah schon fast das Ende des Tunnels.
Dann meldeten sich die Geister wieder. Sie ließen nicht locker.
„Und was ist mit der Zelle in der Spalte vierzehn und Zeile sieben? Warum hast du dort keinen Buchstaben eingetragen?“
„Ich hätte schon die Buchstaben dafür, wenn ich nur wüsste, was in die Zelle gehört“, antwortete er. „Dann finde es! Und denk dran es ist die magische Zelle, sogar die doppeltmagische!“
„Wo soll ich es denn finden?“
„Wo du es suchst, dort findest du es.“
„Wie soll ich es denn finden?“
„Wie du es suchst, so findest du es.“
„Was soll ich denn suchen?“
„Was du suchst, das findest du.“
„Wann soll ich denn suchen?“
„Wenn du suchst, dann findest du.“
„Warum soll ich suchen? Wozu?“, fragte er schließlich.
„Wer ist du eigentlich?“
„Wessen Geist Kind?“, antworteten die Geister.
Gequält von den Geistern, die er rief, sah er die einzige Chance ihnen zu entkommen in der Flucht.
Ohne etwas mit zu nehmen, oder zu prüfen, wieviel Sprit noch im Tank seines Geländewagens war, fuhr er einfach los.
Nach etwa drei Stunden Fahrt auf dem Highway bog Lars in einen sandigen Weg ab. Hätte ihn jemand gefragt: „Mensch, warum verlässt du die Hauptstraße, ist das nicht gefährlich?“, hätte er geantwortet: „Gefährlicher als der Busch ist die Hauptstraße, die mich zur Umkehr bewegen versucht: Wende, fahr nach Hause, trink ein kaltes Bier und genieße die Kühle der Klimaanlage. Sei nicht dumm! Es geht nicht um das Wissen. Nur um die Wissenschaft. Klug ist nicht wer erkennt, sondern der Wissen Schaffende!“
Der aufgewirbelte Staub markierte seinen Pfad, wie ein roter Faden. Hätte er es sich anders überlegt, dann hätte er, auch nach dem er diesen schmalen, einspurigen Buschweg verlassen hatte, vom Ariadnefaden des Staubes geleitet, zurückgefunden.
Lasst ihn! Er hatte es sich noch nicht anders überlegt! Und als es so weit war, als Hunger, Durst und die Hitze gesiegt hatten, hatte er seinen Wagen schon längst, mit leerem Tank, irgendwo unauffindbar liegen gelassen.
Für die Fledermäuse war die Zeit gekommen, aufzuwachen und in einem Schwarm mit tausenden Flügelpaaren sich auf Nahrungssuche in die Eukalyptusweiten aufzumachen. Jetzt hätte er gerne die arrogant-klugen Stimmen seiner Geister gehört. Aber das Schreien der Tiere übertönte alles.
OK. ich gebe auf. Ich bin zu schwach und zu feige für diese Welt. Ich werde ein paar Stunden schlafen und beim Sonnenaufgang werde ich nach Hause gehen.
Seht ihr? Er gibt doch auf!
Python beobachtete sehnsüchtig seinen kleinen, verzweifelten Freund.
Die Geister waren ihm nie von der Seite gewichen, weißt du? Sie wandelten nicht ihr Wesen, sondern nur ihre Form. Bei dem Gedanken erschauderte Lars. Am Abend des nächsten Tages wusste er, dass sein „Zuhause“ etwas Fernes, Unerreichbares und Fremdes geworden war.
„Wo du suchst, dort findest du. Was du suchst, das findest du…“, hallte es nun aus jener Ferne. Er folgte der Stimme, der einzigen und letzten Verbindung zu seiner alten Welt, denn der Busch, in seiner eintönigen Gleichförmigkeit, machte den Unterschied nicht mehr. Länge und Breite verloren das Maß. Tiefe und Höhe, die wahrnehmbar übrigblieben, waren ihm nicht vertraut. Er hatte sich verlaufen. Man kannte die Geschichten von Leichtsinnigen, die im Outback die Orientierung verloren hatten und häufig erst nach aufwändigen Suchaktionen in der Regel nur noch tot gefunden werden konnten.
Ich habe Angst! Er spürte aber zugleich, dass das Wort sein Gefühl nicht richtig beschrieb. Es war nämlich ein neues, fremdes Gefühl. Das Atmen fiel ihm schwer, aber das erste Mal in seinem Leben bemerkte er überhaupt die einströmende Luft – mit Haut und Haar. Immerhin! Die Luft… Seine Augen brannten. Er fühlte sich von seinen Augen im Stich gelassen. Hatten sie früher alles Wichtige über die Welt blitzschnell weitergeleitet, so versagten sie nun. Trugbilder und Schwärze wechselten sich ab. Fehlgeleitet von den sich nicht mehr auffällig genug abhebenden Ähnlichkeiten, beschlossen sie, ein Standbild zu zeigen. Seine Ohren sendeten nur noch das Brummen eines Lautsprechers mit verstärkten Wackelkontakten. Noch einmal drang eine Stimme zu ihm. Sie kam aber diesmal von weit draußen: „Wer bist du?“
Es war eine weiche, zarte Stimme.
In Sydney, hatte ich noch einen klaren Auftrag im Sinn: Eine Mission. Auf dem Flug verblasste aber alles. Nach der Landung in Düsseldorf wusste ich nur noch, dass ich alles daransetzen musste, den Auftrag zu erfüllen.
Denk an den Auftrag! – hallte ES hohl.
Nicht, dass ICH etwas vergessen hätte. ES war nur, als hätte jemand während des Fluges an ihm herumgeschnipselt: ICH fand darin immer weniger Sinn. Die Bedeutung schien allmählich den Worten zu entweichen – sie verloren ihre Tiefe:
Tu, tu, scerpa, tu!
Scerpaforma lucitu!
Lumiscerpa cogitu!
Scerpatempo fugitu!
Tu, tu, locco tu!
Ob das hier ein Albtraum ist?
Weißt DU, als ICH merkte, dass die Worte nicht Sinn machten, war ICH besorgt: Was, wenn alles verloren wäre, was ICH in Australien erreicht hatte?
Wie konnte ES unbemerkt passieren?
War ES die Bruderschaft von Thalibali?
Es war eine traumhafte Zeit ... – die irgendwo im endlosen Outback endete.
[»Car Tire Print«, Lorena Kirk-Giannoulis (2021)]
Weg
Nach Mira-Maries und Ramonas Tod folgt eine tiefe Krise. Die Zwillinge kommen in die Obhut des Jugendamtes. Durch das Tuba-Studium findet Lars den Weg aus der Depression und begegnet dabei Larissa.
Wir trockneten uns gegenseitig ab und legten uns nackt auf das Bett.
„Ich bin froh, wieder in der Heimat zu sein …“
„Es könnte sein, dass du dir alles nur eingebildet hast. Niemand außer dir hat irgendwas gesehen, und du hast eine lebhafte Phantasie…“, antwortete Larissa vorsichtig.
„Es kann nicht sein! Ich kann sehr wohl unterscheiden. Außerdem gibt es einen eindeutigen Beweis.“
„Welchen?“
„Ich wusste vorher das Was, das Wo, das Wann und das Wie!“
„Das ist ja gerade das Problem. DU wusstest es, und DU hast es gesehen. Wenn es aber niemand sonst gesehen hat, dann ist das kein Beweis…“, sagte Larissa sanft, offensichtlich bemüht, mich nicht zu verletzen.
„Das ist Blödsinn. Dann kann nie etwas bewiesen werden. Schon Heraklit wusste, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann. Wenn alle Dinge sich verwandeln und nichts beharrt, so ist es nicht möglich zu behaupten, es gebe von irgendetwas ein Wissen. Das, was wir Sein nennen, hat eben Gemeinschaft mit dem Denken, und das, was wir Werden nennen, mit dem Wahrnehmen. Das Chaos des veränderlich Werdenden zu Gestalt zu bannen, zu Ruhe, zu Sein, zu Ewigkeit ist Funktion des Denkenden Ichs. Dadurch erst entsteht Erkenntnis, und darum verhält sich das Sein zum Werden wie die Wahrheit zum Wähnen.“
Rangurrayi hatte mich gelehrt, dass nur das Träumen das Erkennen im Fluss möglich macht. „Es geht nicht um die Wahrheit, denn die Geschichte ist ungeteilt, sie ist nicht wahr oder unwahr; sie ist ein Fluss ohne Ufer.“
ICH kann den Fluss kreuzen oder nicht.
DU kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, weil ICH dafür einmal aussteigen müsste.
ICH kann nicht aus dem Fluss der Geschichte aussteigen. DU kann nicht in den Fluss steigen.
ES gibt den Fluss.
ES ist nicht möglich oder unmöglich.
GSB sagt, ES gibt den Beweis, Riemanns Hypothese ist bewiesen. Nur— niemand außer GSB versteht ihn.
„Schon gut. Du mit deinem Rangurrayi und deinen Griechen. Ich will nur wissen, ob wir die Steine gefunden haben oder nicht. Ob die Suche aufhört oder nicht“, sagte Larissa.
„GSB ist kein Grieche… Er ist ein Engländer…“
„Ich will es aber wissen…“
„Wenn DU wissen will, dann muss ICH still sein. ES fließt.“
„Wenn es fließt, dann kommt es von A nach B…“
„A und B machen aber keinen Unterschied, sie wählen ihre Geschichten; ES ist dasselbe. Nur die Zeit macht den Unterschied.“
„Wie können dann WIR entscheiden?“, fragte sie.
„ICH kann ent-scheiden. DU weißt. ES ist der Beweis.“
„Sei vernünftig!“
„Nicht alles, was nicht vernünftig ist, ist auch unvernünftig!“
„Der Beweis müsste da sein, auch wenn es dich nicht gäbe, so wie es diesen Tisch gibt, unabhängig davon, ob wir da sind oder nicht…“
„Nur die Geschichte vom Tisch ist unabhängig von uns. Wenn wir nicht da sind, ist er nicht mehr derselbe Tisch, dann ist er der Tisch ohne uns und nicht der Tisch mit uns. Nur der Tisch in der Geschichte ist derselbe Tisch, weil die Geschichte ungeteilt Eins ist. Nur die Zeit macht den Unterschied.“
Ich umarmte sie und wiederholte tausendmal „weiß nicht“, während wir uns liebten.
„Ich habe eine Idee“, sagte Larissa.
„Löst du auch beim Sex Probleme?“, fragte ich.
„Du hast wirklich keine Ahnung von Frauen…“
„Wieso?“
„Ihr Jungs, wenn ihr geil seid, wenn ihr hochkommt, dann habt ihr nur noch das rettende Ufer im Sinn, wie Hunde: je heftiger der Strom, umso schneller wollen sie ans Ufer.
Wir Frauen sind anders. Wir bekommen nie das Gefühl, wir könnten platzen, wenn der Höhepunkt nicht bald kommt. Wir wollen nicht kommen. Und wenn wir kommen, dann ist es wie ein Fluss, in den man nicht zweimal steigen kann, denn dafür müssten wir einmal aussteigen. Wir wollen nicht unbedingt zum anderen Ufer. Wir verlieren nicht den Verstand im Fluss. Mal erleben wir den Fluss als seichtes Bächlein, mal als wilde Flut. Aber es ist immer der Fluss und wir sind der Fluss und unser Verstand beobachtet ihn. Manchmal sagt er, heute plätschert der Fluss seicht dahin – ich sollte vielleicht morgen einen Termin beim Friseur machen.“
Mir wurde bewusst, dass eine unnachahmliche Gelassenheit, mit diesem Werden und Vergehen und Wiederwerden zusammenhängen muss. „Ist es denn verwunderlich, wenn ich auch immer wieder werden möchte“, fragte ich mich. „Ist es verwerflich, dass ich als Krone der Schöpfung, mich nicht mit einem Leben zufriedengeben will?“
In der Tiefe der Nacht kam Mira-Marie dazu. Sie war die ganze Zeit da. Unerwähnt und unerkannt. Larissa trug sie in ihrem Herzen und ich verbarg die Splitter in meinem Kopf. Aber es wurden immer mehr Splitter und ich konnte Mira-Marie immer deutlicher erkennen. Mit jedem weiteren Splitter wurde sie mächtiger und klarer.
„Auf dem Broadway wird heute Das Phantom der Oper aufgeführt“, sagte Larissa und lachte.
„Im Madison Square Garden wird heute Nacht geboxt“, sagte ich.
Wir hatten Tränen in den Augen.
Larissa schwebte mit mir auf Quetzals Wellen und drückte ihre Brüste und ihr Becken fest an mich, um nicht für immer abzuheben.
>Shuffle<
Sie kletterte steif aus dem Bett. Irgendwann wurde es ihr genug. „Du kannst mich mal!“ Sie stampfte barfuß die glatten Stufen der Holztreppe zum Erdgeschoss runter. So duster! Es zieht! Unter ihrem Nachthemd bürstete der kalt-feuchte Novemberwind die dunklen Härchen. Sie erschauderte. Lars hatte das Fenster offengelassen! Schon wieder in der Küche geraucht! Ich hasse diesen Gestank!
Unruhig, als stünde sie vor einer wichtigen Prüfung, verkrampfte sich ihr Magen. Ein nach Außen unmerkbares Wibbern breitete sich wellenartig in ihrem Körper aus und ließ nicht nach. Ihre Knie wurden weich – sie musste sich auf die Tischplatte stützen. Kreislauf?! Ließ den Kopf hängen, richtete dann den Blick auf die Küchenuhr. Die Zahlen konnte sie nicht fixieren – sie entglitten ihrem Blick immer wieder.
Die sonst unsichtbare, runde Glasscheibe schien einen feinen Riss bekommen zu haben. Die Zeiger warfen einen silbrigen Schatten auf das Ziffernblatt, ihre Ränder blitzten und vibrierten quecksilbrig. Sie hörte den Briefkasten klappern, wie ein lautes Hämmern mitten in ihrem Schädel, beugte sich über die Fensterbank und warf einen Blick durch das Fenster. Der Duft des frischen Basilikums. Braucht Wasser! Thymian und Bohnenkraut brauchen weniger.
Der Rentner, der die Tageszeitung austrug, stieg gerade auf sein wankendes Fahrrad, wischte sich das Gesicht und versuchte sich vor dem schneidenden Wind zu schützen, indem er sich tief über den Lenker beugte. Arme Sau! Larissa schloss das Küchenfenster, trank ein Glas Wasser von der Leitung und schaltete die Kaffeemaschine ein.
Lars – war er doch noch eingeschlafen? Lars läge üblicherweise noch im Bett, oder säße gemütlich am Frühstückstisch mit einem Pott Kaffee, während Larissa frühstückte.
Heute kam Lars mit Mira-Marie gleichzeitig zum Frühstück.
Als sie dann im Begriff waren loszufahren, hatte sich der Wind etwas gelegt. Dass sich die Kleine nicht erkältet!
Lars stieg ins Auto und dachte mit Grauen daran, dass die Tage noch immer kürzer werden und die allmorgendliche Düsternis noch trister wird. Am liebsten wäre er im Bett geblieben, aber er hatte es Larissa fest versprochen. Er würde Mira-Marie im Kindergarten absetzen, Larissa zum Institut fahren und dann beim Arbeitsamt vorsprechen.
Wenn sie an Fnugg dachte, kochte Larissa vor Wut. Über die Knie ihrer Tochter gebeugt, fand sie die Stelle auf dem Rücksitz des klapprigen Golf-Kombis nicht, wo der Sicherheitsgurt einrasten sollte. Sie begegnete dem ausdruckslosen Blick ihres Mannes im Rückspiegel. Lars trommelte auf dem Lenkrad: Wird’s bald? Er blickte in den Rückspiegel: Mira-Marie steckte den Daumen in den Mund. Machte einen kräftigen Sog: Mamas Haare kitzeln so! Papakind, sagt Mama immer.
„Der Punkt ist“, fauchte Larissa, „du verschanzt dich in deinem Elfenbeinturm.“ Sie kniete noch auf dem Beifahrersitz, während sie ihn anflehte: „Lars, überleg’ es dir bitte noch einmal! Mensch, du musst dafür nichts anderes tun, als das, was du eh tust: Tuba-Unterricht geben!!“ Ich kann es einfach nicht fassen!!!
„Lass mich damit in Ruhe! Du verstehst nichts davon!“, grummelte Lars. Die Scheißkohle!
Sie setzte sich auf den Beifahrersitz und Lars brauste aus der Einfahrt. Hatte er dabei Gino, den schwarzen Kater der Nachbarn, überfahren, oder hatte er es geschafft, ins Gebüsch zu springen? Jedenfalls war Gino auf einmal verschwunden.
„Darf ich mich bitte zuerst noch anschnallen?“, ätzte sie. „Was ist schon dabei? Fnugg ist ein Stück, wie jedes andere. Ich hab’s mir neulich in YouTube.com angesehen hier:/watch?v=U0qIL2ie-VE“
„So, so ..., Madame interessiert sich plötzlich für Tuba-Musik...“, Lars lächelte verkrampft zu Mira-Marie. Sie hat Angst.
„Es ist ganz nett, klingt lustig ...“
„Hör auf!“, Lars wurde laut. „Das ist keine ernste Musik! Nur blöde Hampelei! Wertlose Clownerie!“
„Wie kannst du bloß so verbohrt sein? Die Musik entwickelt sich auch weiter, die Leute erwarten was Neues!“
In Lars’ Mundwinkeln verdichtete sich der Speichel zu einem kaum sichtbaren, hellen Schaum. Er atmete schwer. Fnugg! Dann haute er aufs Lenkrad: „Ich werde mich nicht zum Affen machen! Ich werde diesen Unfug nicht auch noch fördern! Fnugg ist Verrat am Instrument!“
„Du bist schon ein spießiger Fundamentalist, ein stockkonservatives, arrogantes Arschloch!“
Im Hintergrund begann Mira-Marie zu weinen. Dabei verdrehte sie beängstigend die Augen. Mama! Larissa drehte sich aus irgendeinem Grund.
„Wie zum Teufel konnte ich einen so bornierten, elitären Arsch heiraten?“
Mira-Maries Atem stockte, als Lars voll in die Eisen trat. Die Vollbremsung schleuderte sie nach vorne. Weil er nicht ausgekuppelt hatte, würgte er den Motor mit einem heftigen Nachrucken des Wagens ab.
„Bist du bescheuert? Fahr zur Hölle!“, schrie Larissa.
Mira-Marie atmete nicht mehr. Etwas in ihrer Brust begann, die Luft, die ganze Kraft des kleinen Körpers, in einen Strudel zu wickeln, der immer schneller drehte. Papa!!
Lars öffnete die Tür und sprang auf die Straße, in dem Augenblick, als Mira-Maries Brust die ganze aufgestaute Energie mit einem scharfen Schrei freigab: „Paapaaaaa!!!“
Lars Füße berührten noch nicht den Asphaltbelag der Straße, als er verschwand.
Einfach so.