[»Mexican Maintenance«, MM]
Merece lo que sueñas.
[Octavio Paz »Libertad Bajo Palabra« (1935 - 1957)]
Die Denunzianten (Der Erzählung tobsüchtiger Teil)
Polizeilich waren die Hinzbergers natürlich bestens bekannt, schon wegen der regelmäßigen Zwangseinweisungen in die Klinik Roswithas, die an Tobsuchtsanfällen litt, wobei nicht geringe Schäden in der Wohnung entstanden, sogar Fensterscheiben gingen zu Bruch, was die auf der Straße versammelten Nachbarn mit fröhlichem Applaus quittierten. Wenn es nämlich wieder einmal soweit war, blieb man zum Plausch stehen, die Kinder an der Hand, sie beruhigend, die böse Frau würde ihnen nichts tun, sondern nur drinnen ihre Sachen kaputtmachen. Das kannten die Kinder von sich selbst, staunten nur, dass Erwachsene wiedermal durften, was sie ihnen verboten.
Der Krankenwagen stand mit laufendem Motor, die Sanitäter kamen aber und kamen nicht wieder heraus. Das Scheppern und Splittern hatte seit Ankunft des Rettungswagens aufgehört, den Herr Hinzberger in solchen Fällen jeweils rief, dafür hörte man die schrillen Schreie Frau Hinzbergers durch das zerbrochene Fenster.
Man rückte zuvorkommend zur Seite, damit das Polizeiauto ordentlich einparken konnte. Die Hinzbergers hatten eine Kette gespannt um klarzustellen, bis wohin ihr Grundstück tatsächlich reichte. Man lief also zwischen Gartenmauer und Kette, wenn man es denn wagte, auf Privatgrund und fühlte sich entsprechend unerwünscht. Die Kettenpfosten krönten apfelsinengroße Messingkugeln, niemals würde sich eine öffentliche Anlage einen solchen Luxus erlauben, so dass man doppelt gemahnt war, dass man sich auf fremdem Eigentum befand. An diese Kette hingequetscht parkten nun Rotes Kreuz und Polizei, man musste entweder darübersteigen oder bis zur Garageneinfahrt darum herum laufen. Die Polizisten trugen vorschriftsmäßig ihre Mützen, Hinzberger hatte sich bereits einmal beschwert über das lässige Erscheinungsbild der Polizei heutzutage. Der Pferdeschwanz der Beamtin, die den Wagen gefahren hatte, hüpfte lustig unter dem Mützenrand hervor. Die jungen Leute grüßten salopp, man kannte sich, halb dienstlich, halb anderweitig, wie das auf dem Land nun einmal war. Die häufigen Anzeigen, mit denen die Hinzbergers die Nachbarschaft überzogen, konnte die Polizei nun einmal nicht unter den Tisch fallen lassen. Man sprach also mit Bedauern vor und zog erleichtert ab, wenn sich herausstellte, dass der Anlass für die Anzeige nicht haltbar war, von Hinzberger argwöhnisch beobachtet, der sowieso mutmaßte, dass die Polizei mit den Nachbarn unter einer Decke steckte.
* * *
"Und dass mir keiner mehr von euch hier noch rumlungert, wenn wir mit ihr rauskommen", sagte Melanie, deren kleiner Pferdeschwanz wie stets munter unter der Polizeimütze hervorhüpfte. Sie hatte es, aufgeschlossen, wie man bei der entsprechenden Stelle war, durchgekriegt, dass ihr Namensschild an der Uniform auch den Vornamen aufwies. Es war sogar dabei ein Trend zu werden, wegen Bürgernähe, hatte es geheißen, bloß Kurzformen wie "Tobi" bei Tobias zum Beispiel waren dann doch nicht gegangen.
"Ihr wisst, dass der Alte uns auf euch hetzt, sollte auch noch einer das Handy in den Fingern haben beim Gaffen. Also schafft euch vom Acker", sagte sie, "Verletzung der Persönlichkeitsrechte, da können wir gar nichts machen."
Tatsächlich war die Polizei so ungefähr bei jedem der Nachbarn schon einmal gewesen, weil Hinzberger sie angeschissen hatte, Musik zu laut, Büsche überm Zaun, Rauch vom Grill, das übliche Programm, dabei nicht einmal annähernd grenzwertig. Aber Hinzberger hatte irgendwelche Kontakte und der Dienststellenleiter machte Tamtam, wenn die Beamten es betont lässig angehen ließen, oder maulten, weil sie seinetwegen wieder mal raus mussten. "Der Bürger, bla, bla, bla", es war eine ewige Rille in der Platte der Vorgesetzten, Tobis "Knallkopp" hatte sich "der Manfred", also der Chef, nachdrücklich verbeten, egal ob damit der Hinzberger oder gar er selber gemeint gewesen sein sollte, worüber Tobi erschrak. Immerhin sei das ja hypothetisch möglich, falls Tobi mal darüber nachgedacht haben sollte. Und so weit seien wir jedenfalls noch nicht, Kameradschaft hin oder her. Nachdenken sei insbesondere bei der Polizei immer angesagt. Man wusste nie so recht, ob der Manfred es mit der väterlichen Tour als Vorgesetzter nicht auch hier und da mal übertrieb.
* * *
Auch Norbert verschwand mit schöner Regelmäßigkeit für ein paar Wochen von der Bildfläche. Wenn auch anders als Roswitha, so hatte er ebenfalls, wie es hieß, seine Touren. Dann sah man ihn im Bademantel unschlüssig Ewigkeiten am Briefkasten, oder er schob die Mülltonnen raus und gleich wieder rein. Einmal soll er einen ganzen Tag lang ohne Unterbrechung dagestanden haben, eine Säule im rotblaugestreiften Bademantel. Mütter, die Kinder an der Hand, wechselten die Straßenseite: "Mama, der böse Mann, er schaut wieder so!" Hinzberger, schon sonst mit seiner ledernen Glatze ein Mann, der seinen Eindruck nicht verfehlte, blickte starr ins Leere. Als es bereits stundenlang geregnet hatte und der Bademantel vor Nässe troff, keiferte Roswitha wie schon zuvor mehrmals aus dem Fenster, ob er nicht endlich genug habe, der sture Bock! Aber so brauche er ihr auch erst recht am besten gar nicht mehr reinzukommen, das alte Schwein, wo sie gerade erst gewischt habe! Und sie werde ihn jedenfalls schnurstracks wieder in die Anstalt bringen und am besten gleich ganz dort lassen. Nicht mehr auszuhalten sei es doch mal wieder!
Hinzberger, als habe er das alles gar nicht gehört, drehte sich um und ging ins Haus. Seine nackten Füße, vor Kälte fast blau, quietschten in den Badelatschen, hellgrünen, wie die Bergleute sie in den Waschhäusern trugen. Drinnen hörte man unartikuliert Frau Hinzbergers Gekeifere, bis ein einziges Wort Norberts dem schlagartig ein Ende bereitete: "Halt dein Maul!", sagte er mit erzener Stimme. Es fuhr einem durch Mark und Bein, wenn er mit dieser Stimme sprach. Telefonisch wies er sich selber in die Klinik ein, bestellte wie immer, wenn es wieder so weit war, das Taxi und packte für sich die Sporttasche, die sie gewöhnlich abwechselnd in diesen Fällen mit ins Krankenhaus nahmen. "Ja, der Colonel hat wieder mal seine Tour", sagte Frau Schuster, die durchs Küchenfenster das Taxischild leuchten sah. Der Taxifahrer, mit allen noch so privaten Angelegenheiten seiner Kundschaft so vertraut wie früher vielleicht der Frisör, trug dienstbeflissen die Sporttasche. Hinzberger verließ starren, aber aus langer Gewohnheit auch entschlossenen Blickes das Haus. Roswitha, an der er grußlos vorübergegangen war, schaute ihm hinterher. Der Taxifahrer wusste nicht so recht, ob sein "schön'n Abend noch" nicht doch irgendwie unpassend war, aber da war es auch schon heraus und Roswitha knallte die Haustür zu. [B. Karl Decker]
[»Time Metamorphose«, Lorena Kirk-Giannoulis (2021)]
There is no beginning, no original word: each one is a metaphor for another word which is a metaphor for yet another, and so on. All of them are translations of translations. A transparency in which the obverse is the reverse: fixity is always momentary. [Octavio Paz »The Monkey Grammarian« (1974)]
2071 (#1 - 31)
#1 Eddie Kendricks „Let's Go Back To Day One“
Warum man ausgerechnet ihn, Pietkowski, als externen Berater hinzugezogen hatte, den Voyager 3. 2071 mit, wie es hieß, aktualisierten Informationen auf der Goldenen Festplatte zu bestücken, blieb ihm ein Rätsel. Man ging davon aus, dass man vermittels der herrschenden Technologie nicht nur sehr viel eher, sondern auch gezielter in die habitablen Zonen der 2071 bekannten Exoplaneten eindringen würde. Freilich folgte Pietkowski dem anstößigen Versuch, dem Urknall nachzulauschen: Die Mittel und der Aufwand waren seit jeher beträchtlich! CosmicConnexion: Ein letztes Aufbäumen wider das endgültige Verschlungenwerden im Tierbauch des Alls, Gesänge aus einer einzigen Umdrehung um einen verworfenen Stern, hinaus zu anderen Körpern, die man ehrfurchtsvoll vor der eigenen Zerstörungswut, nicht gänzlich frei von Sentimentalität, warnte: „Achtung, Achtung! Umleitung!“ Noch einmal ganz von vorn zu beginnen: Sehnsucht einer schwindsüchtigen Spezies.
#2 Richie Havens „End Of The Seasons“
Kaum grünte ein Blatt, fiel es auch schon wieder: Allgegenwart des Winters. Die vier Jahreszeiten kannte Pietkowski aus den Erzählungen seiner Vorfahren, die noch nach einer Zukunft Ausschau hielten. Winde glichen zunehmend Stürmen; Unterscheidungen waren längst hinfällig geworden. Je mehr Brücken einstürzten, um so farbenfroher leuchteten die virtuellen Bildschirme.
#3 Bill Withers „Ain't No Sunshine“
O Alma Mater! Alles, als Abbild des Alls, driftete auseinander: Das allmähliche Erkalten des Allmächtigen durch Evas endgültigen Abschied von Adam hatte den Umfang einer unverbindlichen Spezies halbiert und halbierte sie weiterhin; allenfalls ein gelegentlicher Juckreiz hielt sie noch am Leben. Sunshine, der sie ihm sei, nicht seine - oder auch nur eine - wirkliche Sie, sondern die, von der er träumt, beziehungsweise zu träumen behauptet, im Lied, mit dem Erfolg zu haben Voraussetzung dafür ist, dass man davon erfährt, was wiederum dem Sänger überhaupt möglich macht, sich über die grauen Heerscharen zu erheben, um dort von einer wie der im Lied je bemerkt zu werden.
#4 Joni Mitchell „A Case Of You“
„Werde bloß nicht sentimental!“, wiederholte die Malerin, dem Pulsschlag des heiligen Blutrauschs ihres Gegenübers nachlauschend, ihn kistenweise saufend. Der Verflossene: Fallbeispiel für einen entrückten Möbelfuß.
#5 Sarah Vaughan „Imagine“
Vorstellungsartistik: Sie überdächten ihre Erkenntnisse, ihre ordnende Brillanz, brächen mit all ihren Übereinkünften, erschräken vor all ihren Bauwerken, föchten Habgier, Götzendienst und Grenzschließungen an.
#6 Keith Jarrett „Sympathy“
Ausdruck der großartigsten aller Errungenschaften: Versand kosmischer Belästigungen im Speziellen, missionarischer Hausfriedensbruch vermittels berechneter Ewigkeiten: Trügerischste aller kalkulierten Täuschungen, die der Übereinstimmung mit einem imaginären, gescheiten Körper, der Schallwellen durch die gezielte Berührung mit seinen Gliedmaßen auslöst: Touchscream im Sternbild ∆ ≠ X²; ein galaktischer Reinfall: als wolle sich die Gattung posthum mit dem Unbestimmten, dem Unvorhersehbaren in Einklang bringen; Antwort ausgeschlossen.
#7 Passport „Schirokko“
„Wir sind nicht mehr davongekommen!“, tönt es aus dem Weltempfänger. Frische Feigen aus Bad Reichenhall, Zuckermelonen aus Villingen-Schwenningen: Metropolen aus Wüstensand. Tiefrote Verfärbungen der Haut durch postinflammatorische Hyperpigmentierung. Die Gesellschaft zur Bekanntgabe des Weltuntergangs tagt nun unter Vorsitz des neugewählten türkischen Umweltministers Doktor Yanan fortwährend: Liveübertragungen aus West-, Zentral- und Südafrika, aus Kabardien, Kalmückien und Dagestan in nahezu allen bekannten, von heißen Winden verwehten Sprachen.
#8 Elvis Presley „I'm Leavin'“
Was die Außerirdischen unbedingt vom Menschen wissen sollten: dass er ein Bewusstsein dafür besaß, sich selbst zu verfehlen; mit einem anderen Wort: er besaß Ideale. "Ideälchen", besser gesagt, wenn dieser Diminutiv gestattet war, so kam er dem Inventar der populären Sehnsüchte jedenfalls um einiges näher. Aber man drehte sich im Kreis, auf den Golden Record kam das, was nicht etwa bloß die Herzen, sondern, wie eine glühende Verehrerin des Unsterblichen schrieb, die Seelen der Fans ansprach. Die "Seelchen" dann doch wohl eher, denn die Seele sollte doch wohl wenigstens unsterblich und dem Verewigten darin gleich, ewig, ewig sein! Nichts von der viel simpleren, dafür aber der Realität so sehr viel näher kommenden Sicht der Dinge: dass der Mensch - liebe Außerirdische! Ist das bei euch etwa anders? - jedenfalls nicht so beschaffen ist, dass an ihm irgendetwas dauerhaft, geschweige denn ewig sein könnte. Intergalaktische Behörden hatten sich mit solchen Feinheiten nicht abzugeben. Hier wurden die Steuergroschen der Allgemeinheit verbraten. Elvis ist also "leaving", er hat die Schnauze voll, es ist kaum seine Schuld zu spät gekommen zu sein, und da hat er sie verpasst, sie! Schicksal des modernen Menschen, nicht richtig vom Fleck zu kommen, wie in einem Albtraum, nur umgekehrt, einem Verfolger davonrennen zu wollen, allerdings lauert der moderne Verfolger am Ziel in Gestalt dessen, was man verpasst hat, ihrer, die man verpasst hat, jedenfalls etwas Daseinsnotwendigen. Stattdessen ein unbefriedigender Ersatz, umso unbefriedigender, weil auf der Ebene dessen, wonach man sich sehnt: Wen muss ich noch alles neben mir liegen haben? Verdruss des modernen Menschen! Nicht etwa Hunger, der ihn plagt, sondern einen Fraß, den er hinunterwürgt. Letztes Aufbäumen gegen das Unvermeidliche: der Grund für den Frust lag in einem selber. Entweder war man selber schuld, oder aber andere hatten es an einem verbockt, die schwere Kindheit, wovon kein Gericht mehr etwas hören konnte, vielleicht ja auch schon nicht mehr das Gewissen. Jetzt noch ein bisschen im Kreis drehen, ah, ah, ah, ah, ah, dann hatten unsere Außerirdischen, was sie brauchten - unter anderem.
#9 Jean-Luc Ponty „Sad Ballad“
Von der endgültigen Flucht der Nymphen, verendet in undurchdringlichen, rein synthetischen Polymeren, an die aussterbenden Gewässer des Genfersees: Geigen- und Galgenlieder vergeblicher Atomsemiotik.
#10 John Lennon „Crippled Inside“
Mögen die Mäuse kreisen und Berge gebären! Wie Recht sein Mörder John doch gab, dass die geschundene Seele jedenfalls keinen Spaß versteht, um wie viel weniger Überheblichkeit und Spott!
#11 Serge Gainsbourg „Ah! Melody“
Die nicht gänzlich unsensible Verwaltung des Liedguts vergangener Epochen gehörte zu Pietkowskis wahrscheinlich fruchtbarsten Spezialgebieten: (Kritische) Abwägung des ästhetischen Werts von Lyrik, Melos und Kompositionsstruktur, Prüfung der extraterrestrischen Biokompatibilität, zügiges Verschicken an die Zentrale für Ewigkeitsangelegenheiten und Glaubensartikel, Massenabfertigung, klangliche Überarbeitung vermittels verlustfreier Kompression (Free Lossless Audio Codec), Eignungstests für die Installation und Persistenz im Raumgleiter, Titanisierung polymerer und kollagener Implantatoberflächen sowie die finale Erwägung astrologischer Einflüsse auf die Druck- und Dichteschwankungen intergalaktischer Schallwellen.
#12 Stevie Wonder „Something Out Of The Blue“
Wiederkehrender Traum von der Anästhesistin mit den bleiernen Gesichtszügen: „Ich, Ella Guru, bin aus dem Land der Deiche! Als wir jung waren, haben wir uns nicht gekannt. Wir haben den Schmerz besiegt!“ Im Hintergrund der heitere Himmel, vor dem sich die abgebundenen Extremitäten absetzen. Drohnenformationen im Steigflug teilen das Blau, die Züge verschwinden, der behandelnde Arzt, Prof. Dr. Mach, hebt mahnend eine Braue: „Das bist du; dort, wo es keine Empfindung mehr gibt.“ Subkutane Injektion von Mikrochips im Abstand weniger Zehntelsekunden: „Befreien Sie sich aus der Knechtschaft, den Ketten der Erkenntnis, der Unteilbarkeit, der Rastlosigkeit, der Ohnmacht, der Panik, der Arbeit! Sie werden sehen, werden erleichtert sein, in süßem, süßem Stumpfsinn, Pietkowski!“ Die Züge der Anästhesistin wirken nunmehr weniger bleiern, beinahe sanft: „Ich, Ella Guru, brauche dich, mein Engel, ebenso wie du mich brauchst! Wer meint, die Welt aus Bewusstsein aufbauen zu können, vergisst die Anwesenheit der Himmelskörper!“
#13 Chick Corea, Dave Holland & Barry Altschul „Games“
Kapriziöse Gottheiten, die einst schön und stark waren, falten recyceltes Butterbrotpapier, schwärzen die bleichen Tasten auf ihren schillernden Tiefseeflügeln in spielerischem Tagewerk: tathata. Das Schlagwerk bannt die Gefahr der Kontamination durch biologische Kampfprojektile aus dem Sternbild des Perseus für unbestimmte Zeit. Von halsstarrigen Wildpferden gezogene Stangenschleifen befördern unentwegt uranhaltige Nachtjacken, ausgekochte Basssaiten und Solarzellen für außerirdische Besatzungsmitglieder in Krisengebiete. Man schickt jemanden mit einem Besen hinaus, um die Kinder von der Stelle zu bewegen.
#14 Mahavishnu Orchestra „You Know, You Know“
Wissen, nicht anders als das Essen, so der Mikrobiologe Arjuna, kannst du nur in kleinen Dosen zu dir nehmen: Zerkaue die Speisen hundertfach und verleibe sie dir ein; verzehre selbst diejenigen, deren Erscheinung dir fremd und widerwärtig sind. Was deinem Leib nicht dienlich ist, wirst du ausspeien oder ausscheiden. Schirre dich an wider die Überschwemmungen, den Tropfen zu finden, der sich mit den Speisen vermengt, sie dir bekömmlich zu machen: Suche nicht, in dem Wissen, dass sie seit jeher da gewesen sind. Das ist der ew'gen Sinnendinge Lauf, an Stäbchen entlang: Verspeise die Kerne, aus ihrem Gehäuse heraus, sei es nachgiebig oder hart, die Nüsse, die alten wie die jungen, die Pistazie und die Mandel, die Erdbeere und die Hanfnuss. Entsage den Exzessen wider die Sterblichkeit; lies sie, nimm sie auf, scheide sie aus; sei eins mit dem Larvenleib, den Zephirblumen, dem Kaktusstumpf, den Lilien, dem Pankreas und den Zweigen der Rose, stets dem Lotusäugigen mit den gesträubten Haaren angedenkend, denn als Ganzes – Vorsicht! - sind Universen seit jeher äußerst zerbrechliche Wesen.
#15 Bobby Hutcherson „Clockwork Of The Spirits“
Meditation über einen Tag in einem vergilbten, fünfzig Jahre alten Radioprogramm: „Es ist alles so willkürlich“, raunt die Ansagerin in Pietkowskis Ohr. „Wer mag sich anhand all der Namen, Titel und Verzeichnisse noch etwas vorstellen wollen? - Haben Sie je von Medtner gehört? Freilich lässt sich alles recherchieren!“ Man liest dort vom Leiden kleiner Haustiere, von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Musik aus Eis und Schnee, A-Cappella-Pionieren, Musikern und Drogen, der Entspannung bei klassischer Musik, den Grenzen des Individualismus und der Frage, ob persönliche Freiheiten in Zukunft immer stärker eingeschränkt werden würden, der Abschaffung der Anrede „Fräulein“ im Amtsdeutsch, von Kurt Schwitters („Man kann auch mit Müllabfällen schreien...“) und Kurt Tucholsky („Hoch über den Antennen aber, die diese Musik versenden, zittert die Lyrik der Welt“), von „GhettoClassics“ oder Richard Wagners Vorspiel zum 3. Akt der Oper „Lohengrin“, von Beethovens Wonne der Wehmut, Debussys Zéphyr oder Bachs Konzert für zwei Violinen und Streicher d-Moll BWV 1043, von Fließendem und Flüssigem, von Schallmauern, Landzungen und Meeren und immer wieder von Bach und vielem mehr.
#16 Isaac Hayes „I'll Never Fall In Love Again“
Quasi una Fantasia: Ein Rezensent kommentierte einen Film über die Liebe mit den Worten, er sei schön bebildert, aber bruchstückhaft erzählt. Wie aber, fragte sich Pietkowski, könnte ein derart rastloser Rauschzustand, der die totale Verneinung eines Niemals mit der Bejahung des Immerwährenden in Verbindung zu bringen sucht, in irgendeiner anderen Weise dargestellt werden? Love ...: Vielleicht, dachte er, ist dem Englischen sogar der leichtsinnigste und sanfteste Wortlaut gelungen, den eine Sprache für einen solch blinden Rausch hervorbringen konnte, sieht man von all den Huldigungen an den Gott Amor einmal ab; brüchig und sanft in einem Atemzug, einem Seufzer, einer flüchtigen Berührung der oberen Schneidezähne mit der Unterlippe.
#17 Cat Stevens „Morning Has Broken“
Es ist besser ein Licht anzuzünden als auf die Dunkelheit zu schimpfen: Licht muss schon mal überall liegen, das ist jetzt nicht Kungfu, aber auch im heutigen China auf jeden Fall Standard. Das wäre dann sozusagen das Sehen. Das Entscheidende ist aber das Hinschauen, und da möchte man aber doch schon auch mal schimpfen, wenn man den Leuten so zuschaut. Da kannst du Licht legen, soviel du willst, wer nicht weiß, was er sehen soll, sieht einfach nichts. Aber darauf kannst du Gift nehmen, da ist dann auch schon das meiste Geschimpfe, nicht wegen Dunkelheit, wegen Blindheit, wenn man das heute noch sagen darf! Das ist auch der Grund, warum man auf Schimpfen fast nichts geben soll. Wer sind denn die Wutbürger, diese modernen Rumpelstilzchen? Alles Leute mit wenig Ahnung, das ist der gemeinsame Nenner, auf den sie kommen. Dass denen mal ein Licht aufgeht, da kannst du lange warten. Wer soll das auch bezahlen? Wer selber zahlen kann und will, hat schon fast gewonnen. So viele Birnen kann der Staat nie und nimmer einschrauben, dass den Leuten das Licht auch in die Birne scheint. Man muss die Leute gar nicht mal dumm halten wollen, also Kerzen rationieren oder gar das Licht auspusten. Die Dummheit sorgt schon selber für sich, was man am allgemeinen Geschimpfe hören kann.
#18 Bobby Womack „Communication“
Hab Sonne im Herzen, und so weiter; mal ehrlich geht mir ewiges Gegrinse mehr auf die Nerven als ein tüchtiger Zorn. Wer ein wenig Verstand im Kopf hat, sieht doch, dass das meiste nicht klappt, jedenfalls bei Licht besehen. "Ein schöner Tag noch", ja, Herrgott, warum kann man denn nicht mehr einfach Aufwiedersehen sagen? Als ob's irgendjemanden was anginge, wie schön meine Tage sind! Dabei sind sie es sogar noch, aber bestimmt nicht aus Gründen, in die beispielsweise die Kassiererin im Supermarkt ihre Nase zu stecken hätte. Und wenn's kein schöner Tag ist oder wird, schon dreimal nicht. Wie gesagt, meine Tage sind schön, schon deshalb, weil ich nicht so bescheuert viel von ihnen erwarte. Tatsache ist doch, dass es meistens leicht viel schlimmer sein oder kommen könnte. Sonne im Herzen, hat sich jemals einer vorgestellt ausgerechnet im Herzen beispielsweise einmal bloß zu schwitzen, ganz zu schweigen von Sonnenbrand, Dürre, ja Buschfeuer! Vom sonnigen Süden wird ja auch andauernd gefaselt, alles eitel Sonnenschein! Ich bin heiter, auch ohne Firlefanz. Mir reicht es, wenn das Wechselgeld stimmt und mir draußen im Regen der Wind nicht die Mütze vom Kopf fegt.
#19 Weather Report „Seventh Arrow“
Der Mars-Riegel kommt nicht vom Mars, so wenig wie Milky Way von der Milchstraße, sondern beides aus Viersen, Verden oder Minden, so wie der Wrigley-Kaugummi aus München, dem dortigen Geschäftsbereich von Mars Deutschland. Astronomisch muten einen die Zahlen an, nämlich der Riegel beispielsweise, die pro Minute vom Band laufen; aber auch der tausenden von Tonnen Tiernahrung, einer anderen Sparte von Mars. Joe Zawinul wusste, woher der Wind weht, auf alle Fälle konnte er Wayne Shorter fragen, als Bläser ein Mann an der Quelle. Mit dem Mars-Riegel sind beide fast jahrgangsgleich, in Amerika gab's den Schokostick nämlich seit 1931. Von Mars zu Milky Way ist es nur ein Katzensprung, jedenfalls wenn man einen Produktnamen erfinden muss. Joe und Wayne griffen 1971 nach den Sternen um selber solche am Musikerhimmel zu sein. "Let us see what love is like on Jupiter and Mars", sagten sie. Und damit war die Sache geregelt.
#20 Anthony Braxton „N 508-10 (4G) [Composition 6K]: Up Thing“
Aus einer Cloud spricht Cloudya W. Whitman von ihrer höchsten Warte allabendlich im Up-Tempo (mechanisch, stakkatoartig und stark aufwärts gerichtet): „Aufwärts die Erbschaft des Menschengeschlechts unisono gen Himmelskörper jenseits des Allbekannten wider die Sorge Wordsworths ob des Verlusts wertvollen Wortguts im Gesang mit dem letzten Schiff des Namenlosen samt seiner Getreuen, über denen die Wellen der Weltmeere tagtäglich erschlossener Supererden zusammenschlagen; aufwärts die Obelisken aus Heliopolis, der Turmbau zu Babel, Shanghai Tower, Tokyo Skytree, Burj Khalifa, die stille Nacktheit der Natur, die Abstraktheit des Liebesgefühls, die Früchte der Künste und Wissenschaften im Zeichen der Geometrie Euklids, der Orangen Hieronymus Boschs, des Geists aus der Maschine fern aller Zivilisation, spektroskopischen Anzeichen für Leben in den Wendekreisen des Widders, der Leier, des Walfischs, des Skorpions und des Wassermanns folgend; aufwärts die Erinnerungsrosen des ersten künstlichen Mannes und der ersten künstlichen Frau, die ihre Anker unter den Monden von Teegarden b und c, Gliese 682 b, 667 Cc, Ce und Cf, Trappist-1 d, e, f und g endgültig lichten.“
#21 Doug Carn „Moon Child“
Man sagt ihm nach, es wandere mit rötlichen Augen durch die Krater der Mondlandschaften, deute die Geheimnisse des Donners, umgeben von Hexen und Magiern, deren Zeit in den wenigen bewohnbaren Regionen der unwirtlichen Wälder nunmehr wieder gekommen zu sein schien, trotz vehementer Interventionen der zuständigen Bauämter; es übersetze die Sprache der Farne, Moose und Pilze, zähme die Blitze, den Graupel und den Hagel, wettere wider die Götter der Technokratie, gegen die Strahlung und die Statistik, hüte den Tau, den Nebel und den Regen. Manche fürchten sein vernarbtes, verhärtetes Gesicht (Xeroderma pigmentosum), andere widmen ihm Tänze und Gesänge: „Wie schön scheint der Mond! Wirklich, wie schön!“
#22 Pink Floyd „San Tropez“
Wo früher Millionäre und Milliardäre müßiggingen, tummeln sich jetzt die Ausgestoßenen, Blinden und Verwirrten: Sie stehen herum, schwatzen, zapfen Wein, verdecken Augen und Gesichter unter Helmen oder Hauben; sie widerrufen den Sündenfall, feiern ihre Nacktheit in den leerstehenden Strandclubs oder an den Stegen des verlassenen Yachthafens; sie verehren den heiligen Torpes von Pisa, paaren sich im Schatten der Platanen, huldigen den zahlreichen Verwandlungen von Mary Jane oder besingen ganz im Geiste der Bardot die Rückkehr der Liebe in die Galaxie.
#23 Genesis „Seven Stones“
Am Anfang war die Wirklichkeit: In der Folge eine lose Aufeinanderfolge von Bildern, Zeichen, Bewegungen, Zellteilungen, Episoden, Partialtrieben, Geräuschen, Tatbeständen, Reflexen, Gebärden, Drohworten, Instinkten, Impulsen, Stufen, Städten, Differenzen, Behauptungen, Abdrücken, Reizen, Bedürfnissen und Aufzählungen. Der einbeinige Kapitän (Totale) einer venezianischen Galeasse verkündet: „Das Leben an Bord des Schiffes wird mit sofortiger Wirkung vollständig heruntergefahren!“ Die apathische Mannschaft verfolgt den Flug einer einsamen Möwe (Gegeneinstellung). Großaufnahme eines alten Mannes (Vogelperspektive), der ein steiniges Stück Land bestellt. Hoher Wellengang verhindert die Sicht auf einen Fels (Halbnaheinstellung), auf den das Schiff geradewegs zusteuert. Mit ausgestreckter Hand (Froschperspektive) zeichnet der alte Mann das Sternbild des Großen Wagens am dämmernden Nordhimmel nach. In der Ferne rasen sieben schwarze Geländelimousinen über die karge Ackerlandschaft des Heimatplaneten (Abblende).
#24 Don McLean „Vincent“
Selbstverstümmelung, auch so ein Thema, die Leute ritzen oder schnippeln an sich herum, manche natürlich krasser als anybody else. Der Don McLean nicht, so weit ich weiß, aber klar, sein Vincent, der mit dem Ohr. In Papier hat er es eingewickelt wie beim Metzger. Die Leute sollen seine Bilder nicht gemocht haben, genau die Sachen, die dann später alle mögen. Don McLean wurde ziemlich gleich gemocht. Schließlich konnte es sein, dass andere ihn verstanden, bloß man selber nicht. Zum Beispiel American Pie. Das hat sogar Madonna gar nicht verstanden und in ihrem Video alles verkehrt gemacht. Sagt Don McLean selber. Aber das sei gerade das Richtige an dem Video. Wir hatten American Pie bloß nicht verstanden, das ganze lange Ding, aber kein Video gemacht. Gab es auch damals noch gar nicht. Armer Vincent, der heute Videos machen müsste oder Installationen! Sterne und so weiter, das Wasser in der Bucht, das Liebespaar und die Segelboote, alles ein Kopfzerbrechen, es so zu installieren, dass es in sagen wir hundert bis hundertfünfzig Jahren, ja was, ein Poster bei Ikea wird's da wohl nicht mehr geben, also irgendwie Massengeschmack von Leuten wird, die nicht viel verstehen. Und gar Vincent, oder auch bloß Don McLean!
#25 Yes „Mood For A Day“
Einer sagte, das Genie sei eine obsolete Kategorie (Unstern! Sinistre, disastro). Seien, so ein anderer, die Zeitläufte flach, moralisierend, konformistisch, mangele es einer solchen Figur freilich an Reputation, gewissermaßen an Sauerstoff: „Die sogenannte Renaissance ließ sie sprießen, die frühe Romantik mündete indes rasch in biedere, gefährliche Gefilde. Bezogen auf die Gegenwartsstimmung: Mittelmaß … als Intervention von Volkes Mund, dank Psychiatrie und ihrer verhältnisorientierten Erfindung einer messbaren Intelligenz.“ Die allenfalls posthume Anerkennung der Kategorie verdecke laut ersterem bloß fadenscheinig rein marktwirtschaftliche Erwägungen. Originalität staue sich unterhalb der Gürtelschnalle.
#26 Jethro Tull „Hymn 43“
„O Jesses, rette mich!“, hörte man die alte Anderson von Zeit zu Zeit auf dem Flur klagen. „Mein Jan, o Jesses, der schnarcht und schnarcht wie ein rostiges Sägewerk und ich, ich krieg' partout keine Ruh! Und die Flatulenz erst! Im Fernsehen läuft auch nur immer dasselbe: Kriege, Kriege überall, oh Jesses nee! Nix Tröstliches, hin und wieder ein Cary Grant oder die Monroe und der Lemmon, aber die Welt, ojemine, die Welt und die Werbung: Der Frühling kommt! Entdecken Sie Ihre neue Sonnenbrille! Sie können es kaum erwarten? Als ob unsereiner noch Frühlingsgefühle hätte! Und, oje, das Postfach, das Postfach ist auch immer voll: Ihre Meinung ist uns wichtig. Frische Looks. Outfits für warme Tage. Unsere Inspiration der Woche für Sie! Unsere Computer haben Empfehlungen für Sie gefunden. Technologie von früher in einem Design von heute. Und zu den friedfertigen Alten, o Jesses: Das Risiko einer Berufsunfähigkeit darf keinesfalls unterschätzt werden. Jeder vierte Berufstätige wird vor Rentenbeginn berufsunfähig. Burnout ist immer häufiger der Grund für das vorzeitige Ende der beruflichen Laufbahn. Es wird auch gesagt: Ein sensationelles Apothekenprodukt bekämpft Haarausfall bei Männern und Frauen und lässt die Haare nach kurzer Zeit wieder wachsen! Und hört dies, o Brüder und Schwestern: Was gibt es Besseres als dein Sommer-Outfit mit einem zeitlosen Klassiker zu kombinieren? Nichts! Genau deswegen kommt die Gazelle jetzt passend zur Jahreszeit in neuen, sommerlichen Farben. Dein Reich komme, o Jesses, Maria und Josef: Drohne mit Kamera: Was Hobbypiloten wissen müssen!
#27 The Sweet „Daydream“
Süßer die Glocken nie klingen; tagein, tagaus in Gedanken an Ellas Sehschwäche: „In ihrer Art waren sie sich zu ähnlich, die Brillen. Darauf hat mich die liebe Optikerin hingewiesen, wenn ich scherzhaft überlegte, dann eben beide. Dafür sowieso zu teuer, ich suche mir immer die teureren Modelle im Brillenladen aus. Nicht gezielt, ergibt sich, erst reichen liebe Optikerinnen sowieso die etwas günstigeren, aber die haben immer eine gravierende Macke. Dann werden liebe Optikerinnen langsam mutiger und stellen fest: sie sieht nicht so aus, aber der kann man Einiges rüberreichen, schaut nicht so auf den Preis. Bei den Gläsern ist dann aber irgendwann Schluss, nicht die neuste Hypervariante - die lieben Optikerinnen bleiben da auch vorsichtig und so treffen wir uns in der unteren Mitte. So eine Brille soll ja auch eine Weile gefallen. Jetzt also mal grau, denn wer möchte schon schwarz und andere hübsche braune mit Schildpatt gab es, vielleicht eine und die war zu klein, leider, die nächste braune zu wuchtig und die derzeitige ist ja schon braun. Ein etwas dunkleres Grau, hoffentlich auf Dauer nicht zu fad. Außerdem noch nie gehabt, grau – meine ich mich zu erinnern. Rot ist für kleine Mädchen und alles andere geht sowieso nicht, grün, blau; da wäre fast noch eine schwarze gewesen, aber mit so tantenperlmutt kombiniert. Oder der Nasenpadhalter - Wort, das ich der Optikerin beigebracht habe - schimmerte penetrant türkis seitlich links und rechts an der Nase und man sah nur noch diese glänzenden Punkte. Es zieht mich in Brillenläden immer ans Herrenregal, für Herren werden die vernünftigen Dinge angeboten. Passen dann aber wohl nicht oder die lieben Optikerinnen winken sofort ab und schicken mich fort, das ginge nicht, falsche Abteilung. Am Ende gefällt sie mir nun vielleicht sehr und ich trage wieder allüberall Brille, abwarten. Nächste Woche fertig. Sie spendete sogar Trost, die liebe Optikerin: Die Augen sind gar nicht schlechter geworden, hat sie behauptet. Hängt doch sehr von der Tagesform ab. Irgendwelche Achsen eventuell leicht verschoben. Sie schien die Brille für eine ziemlich gute Wahl zu halten: Trendy genug, um nicht aus dem Rahmen zu fallen.“
#28 If „Fibonacci's Number“
Wenn auch die Erfindung von Gesetzmäßigkeiten zu den aufsehenerregendsten Ereignissen der uns bekannten Menschheitsgeschichte gehören mochte, sei sie doch einer Sehschwäche von ungeheurem Ausmaß geschuldet; wenigstens beschere sie uns noch immer eine Grammatik der Musik, die derzeit im Begriff sei, Himmelskörper zum Erklingen zu bringen: Die ausgefilterten Geräusche erdnaher Asteroiden, die bereits in Größe und Abstand zur Sonne einen Goldenen Schnitt darstellten, ergäben laut den zuletzt vorgelegten wissenschaftlichen Erkenntnissen eine in ihren Kombinationstönen begründete Akkordwirkung, die dem Grundprinzip aller Wachstumsvorgänge im Kosmos entspräche. Bis zum Ende des Jahrhunderts wolle man insgesamt zwölf der uns bekannten erdnahen Asteroiden mit Mikrofonen bestücken und man empfinde schon jetzt eine außerordentliche Genugtuung, Gewissheit über die verborgene Tonalität der Planetoiden gewonnen zu haben. Man wisse nunmehr etwa, dass allein das aus zwei Körpern bestehende System des Asteroiden Dyonisus als Ganzes einen neapolitanischen Sextakkord der erniedrigten sechsten Stufe erzeuge, was Grund genug zur Annahme sei, jedem der Kleinplaneten wohne gewissermaßen eine Symphonie inne, die förmlich danach trachte, hörbar gemacht zu werden, worin die Forschung die größte, vielleicht sogar allerletzte Herausforderung unserer aussterbenden Spezies sähe.
#29 Nazareth „King Is Dead“
Ja ist er nun, oder ist er nicht? - Was? Gestorben? - Gestorben sowieso. "Auferstanden"? - Natürlich nicht, was sonst? - Und die, die's glauben ... - ... meinen das nicht, sondern glauben es! - Und was wäre da der Unterschied? - Na, Bekenntnis. - Und die können das unterscheiden? - Können sie nicht, jedenfalls die allermeisten nicht. Die meinen nur, "der Herr sei auferstanden", und das umso mehr, als die anderen es nicht glauben. Sich von ihnen zu unterscheiden genügt ihnen im Allgemeinen. Übrigens auch vice versa. Das ist dann ihre Kirche, bloß dass sie's nicht so nennen. - Also "Bekenntnis". - Ja, ja, knifflige Sache. "Bequeth" muss man ja auch erst im Wörterbuch nachsehen. - Wie wär's mit "Vermächtnis"? - Ist aber wie im wirklichen Leben, also Notar, Erbschaftssteuer, Streit unter den Erben, die ganze Packung. - Und daher die Rebellion. - Und daher die Rebellion, und man würde es auch ohne Erbe schaffen und tun, was getan werden muss. - Imperativ ohne Imperator. - Schön wär's.
#30 Humble Pie „Sour Grain“
Oberflächenbild: Aus einer Bande streunender Kinder tut sich einer hervor, der einem verlorenen Huhn kurzerhand die Augen aussticht. Unter Jubelgeschrei beobachten sie nunmehr, wie es orientierungslos umherirrt. Das Nachdenken über die Unbekümmertheit angesichts aller Wesenheit, allem Kommenden und Gewesenen gegenüber gleicht der unablässigen Reibung auf einem kolossalen Mahlstein, der noch die feinsten Bemühungen der Vergangenheit versauern lässt.
#31 Traffic „Hidden Treasure“
Seit spätestens 2058, dem 150. Jubiläum der ehemals noch stark umstrittenen Hypothese von Arrhenius, worin Kritiker indes keinen Zufall sehen mochten, gilt es als unumstößlich, dass zumindest der uns bekannte Bereich des Kosmos einer permanenten Archigenese durch Panspermie ausgesetzt ist. Der verborgene Schatz in dem bisher größten Eisenmeteoriten in einem Stück mit einem Gewicht von rund sechzig Tonnen, den chinesische Astrobiologen am Fuße des Nanling geborgen und nunmehr nahezu vollständig analysiert hätten, bestehe nicht nur in der äußerst hohen Konzentration polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe, sondern auch in der Vielfalt komplexer Einschlüsse extraterrestrischen Lebens: Elektronenmikroskopaufnahmen zeigten deutliche Spuren extremophiler Organismen sowie eindeutige Anhaltspunkte auf chiffrierte Schriftzeichen, deren Gegenstand und Inhalt zwar noch entschlüsselt werden müssten, die aber sehr wahrscheinlich, soweit nach bisherigem Kenntnisstand feststellbar, auf unidentifizierte Planetensymbole hinwiesen. [Liana Helas]
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