Mittwoch, 10. März 2021

Z. Z. XV [»SO« von Sophia Pellens]

 


[»Es leuchtet!«, Lorena Kirk-Giannoulis (2021)]


Es leuchtet! seht! – Nun läßt sich wirklich hoffen,

Daß, wenn wir aus viel hundert Stoffen

Durch Mischung – denn auf Mischung kommt es an –

Den Menschenstoff gemächlich componiren,

In einen Kolben verlutiren

Und ihn gehörig cohobiren,

So ist das Werk im Stillen abgethan.

Es wird! die Masse regt sich klarer!

Die Ueberzeugung wahrer, wahrer!

Was man an der Natur Geheimnisvolles pries,

Das wagen wir verständig zu probiren,

Und was sie sonst organisiren ließ,

Das lassen wir krystallisiren.


[Johann Wolfgang von Goethe »Faust II. Zweiter Akt, Laboratorium« (1832)]



[»Illustration des Dualismus« von René Descartes (1596 - 1650)]


Ich nehme also an, alles, was ich wahrnehme, sei falsch; ich glaube, daß nichts von alledem jemals existiert habe, was mir mein trügerisches Gedächtnis vorführt. Ich habe überhaupt keine Sinne; Körper, Gestalt, Ausdehnung, Bewegung und Ort sind Chimären. Was soll da noch wahr sein? Vielleicht das Eine, daß es nichts Gewisses gibt. [René Descartes »Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (Meditationes de Prima Philosophia)« (1641)]



»SO«



Wenn die Leute mich fragen würden, ob ich Elena gekannt habe, würde ich wohl in mich hineinschmunzeln. Ob ich sie gekannt habe? Was für eine Untertreibung! Elena und ich waren SO. (Ach so, Sie können hier ja nur lesen. *Räusper*. Sorry, mein Fehler. Also mit SO stellen Sie sich bitte gekreuzte Finger vor. Als Symbol für BFF zum Beispiel. Aber das erkennen Sie am Ende der Geschichte sowieso.)

Wo war ich stehengeblieben? Elena und ich, genau. Wir waren eng miteinander verbunden. Sehr, sehr eng. Ich wusste, wann sie krank war. Wann sie traurig war. Oder sogar, wann sie gestürzt war. All das. Von der Wiege bis... Aber wo fange ich denn an, wenn ich von ihr erzählen soll? Am besten am Anfang.

Elena war ein solch süßes Baby. Sie lächelte viel und immer hatte sie Lucky dabei. Das war ihr Lieblingsstofftier. Ein Hund, den sie knuddelte und im Arm hielt und den sie natürlich auch vollsabberte. Ab und zu musste er zu mir und dann weinte sie. Aber ich gab ihn ihr immer wohlbehalten zurück. Wie er dann duftete!

Und sie konnte essen! Der pure Wahnsinn! Einen nicht geringen Teil ließ sie jedoch auf ihren Schlabberlätzchen zurück. Und was in den Magen gelangte, gelangte auf natürlichem Weg wieder heraus. Sobald sie krabbeln konnte, trainierte sie ihren Babyspeck so fleißig ab, dass der Teil der Strumpfhosen, der über ihre Knie ging, immer als erstes ganz abgewetzt war. Elena war eben bereits als Baby sehr sportlich und das setzte sich in den folgenden Jahren auch fort. Dazu aber später mehr.

Als Elena älter wurde, hörte das mit den abgenutzten Knien selbstverständlich auf. Und an die Stelle von Dreck und Löchern an den Hosen traten nun Kreide und Tintenflecke, die sich auf Pullover und Röcken verteilten. Aber das machte mir nichts – schließlich war das nichts, was sich nicht wieder entfernen ließ. So wie die Tränen, die flossen, wenn ein anderes Mädchen sie in der Schule geärgert hatte. Wir sprachen oft darüber. Das heißt, Elena erzählte und ich hörte zu. Mein armes kleines Ding – die Welt da draußen konnte manchmal grausam sein. Aber sie fand ihre Freude im Sport und damit auch etwas, was einer zweiten Familie gleichkam – das Voltigieren. Und sie war so geschickt! Auf das harte Training folgten Auftritte, aus den Shirts und Trainingshosen wurden speziell angefertigte Trikots in den schönsten Farben und Stoffen. Ich konnte mir richtig ausmalen, wie wundervoll die Auftritte gewesen sein mussten: Akrobatik und Musik, das Klatschen des Publikums und das Gemeinschaftsgefühl. Das Glücksgefühl, wenn sie gewonnen hatten. Auch wenn ich leider nie dabei sein konnte. Aber das machte mir nichts aus. In meiner Fantasie besuchten sie Hamburg, London, Paris. Glamouröse Orte mit einem Millionenpublikum. Wenn die Realität auch oftmals nur Buxtehude hieß. Oder ein anderer, auf keiner ordentlichen Karte verzeichneter Ort, wie es auf den mitgebrachten Stofftransparenten stand, die ihre Geschwister extra bedruckt hatten. Und die Familienangehörigen aller Teilnehmer waren wohl auch fast immer die Einzigen, die zusahen. Egal – es kam ja auch auf den Spaß an. Und wenn ich so auf die vielen Jahre zurückblicke, die Elena mit Voltigieren verbracht hatte, so muss es wohl Spaß gemacht haben. Ihre drei Brüder gingen nur irgendwann nicht mehr mit. Sie waren alle älter und beschäftigten sich dann mit Fußball (übrigens ein sehr dreckiger und schweißtreibender Sport, das kann ich Ihnen sagen), Handball oder Karate. Die Älteste, ihre einzige Schwester, war eher dem Theater zugetan. Make-Up und Kostüme sprechen eine deutliche Sprache. Und auch Elena ging irgendwann nicht mehr zu den Pferden, was unter anderem an dem Heu aus den Ställen lag, das beim Auskehren in der Kleidung steckenblieb. Ihre Allergie trieb sie zur Verzweiflung. Wieder gab es Tränen. Diesen folgte dann der Abschied von den Voltigierern und ein Neuanfang bei den Cheerleadern aus dem Nachbarort. Ich wünschte, ich könnte von exotischeren Orten berichten, aber auch hier klangen die Namen auf den Siegerschleifen eher nach Provinz.

Mittlerweile war Elena aber zu einem Teenager gereift, was mehr Abwechslung in ihr Leben brachte. Die Röcke wurden kürzer, die Oberteile mehr und ab und zu blieben sogar Spuren von Lippenstift an den Fasern hängen. Elenas Eltern störte das aber offensichtlich nicht. Selbst dann nicht, als sich eines Morgens unbekannte Hosen im Wäschekorb fanden. Und Poloshirts mit „Flo“ bestickt. Was wohl auf einen Florian hindeutete. Ein Tennisspieler. Daher wohl die Poloshirts. Auf jeden Fall tauchte Florian von da an öfter auf. Und Elena mit ihm öfter ab. Wir sahen uns seltener und wenn, dann erzählte sie auch nicht viel. Aber sie lächelte oft und schien sehr glücklich. Tränen gab es selten und wenn, dann waren es wohl Freudentränen. Und sie versorgte mich mit T-Shirts und Stofftaschen, auf denen HAMBURG, OSLO und NY stand. Einmal kam sie sogar mit PARIS zurück: Die Stadt von L’Amour, endlich war sie einmal dort. Die Seine, Champs-Élysées und der Eiffelturm. Die Glückliche! Und sie sang dabei, als sie vor mir stand und sich zu mir herunterbeugte. Ich wusste aber, dass bald die Zeit gekommen war, uns voneinander zu verabschieden. Dabei waren wir schon 20 Jahre zusammen. Ihre Geschwister waren bereits ausgezogen (auch wenn einer der Brüder gelegentlich grüne Uniformen mitbrachte, um die ich mich kümmern musste) und Elena wollte studieren. Nicht nur, dass es hier im Ort nicht möglich war. Nein, es zog sie auch in eine größere Stadt. Um mit ihrem Florian zusammen zu sein. Und um auch die Dinge direkt vor der Haustür erleben zu können, die es, umgeben von Feldern und Wäldern, nun einmal nicht gab. Wenn ich hätte heulen können, so hätte ich es wohl getan. So wie ihre Eltern. Abschiede fallen nun einmal niemandem leicht.

Aber…

Ja, aber.

Aber ein junger Haushalt besitzt wenig Geld. Studierende besitzen wenig Geld. Und können jede Hilfe gebrauchen, die sie bekommen können. Das haben sich auch Elenas Eltern gedacht.

Und so wurde aus dem Abschied ein Neuanfang.

Ich durfte mit Elena und Florian mitgehen. Ihre Eltern bekommen wohl eine Neue. Sicher. Ohne geht es ja nun wirklich nicht.

Und ich? Vielleicht wasche ich bald wieder Socken und Windeln und Schlabberlätzchen. Wer weiß? Ich kann es kaum erwarten.

Schalte mich ein, gib mir das Pulver und drücke die richtigen Knöpfe. Dann lege ich los. Das ist es, was ich am besten kann. Schließlich wurde ich genau dafür gebaut. [Sophia Pellens (2021)]


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