Man vergisst, dass die Wissenschaften einen inneren Zweck haben, und verliert das eigentlich literarische Interesse, das Streben nach Erkenntnis, als Erkenntnis, aus dem Auge. Die Mathematik kann nichts von ihrer Würde einbüßen, wenn sie als bloßes Objekt der Spekulation, als unanwendbar zur Auflösung praktischer Aufgaben betrachtet wird. [Alexander von Humboldt »Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« (1797)]
Die Denunzianten (Der Erzählung weitere Teile in verwürfelter Anordnung)
Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind weder zufällig noch erfreulich, aber im Interesse der Sache unvermeidlich.
Die Verwaltung von Daten war inzwischen völlig in die Hand von Frau Hinzberger übergegangen. Anfangs war der Computer ja reine Männersache gewesen, Frauen war schlicht und ergreifend nicht klarzumachen, was man im Computerbereich wissen musste und wie man sich auf dem Laufenden zu halten hatte. Man musste mit so einer Entwicklung Schritt halten, sonst war man bald weg vom Fenster. Dabei gab es Anwendungen noch und nöcher auch für Frauen. Beispielsweise konnte man doch ein für alle Male Schluss machen mit jedwedem Zettelsammelsurium. Frau Hinzbergers Kochbuch sei doch nun einmal einfach ein Witz, und jedenfalls gehe es demnächst kaputt, vor lauter eingelegten Rezepten. Sie sollte es mal hergeben, wie da im Nullkommanichts eine Datei draus würde. "Nichts da!", riss sie es ihm aus der Hand, wobei es tatsächlich fast entzweiging. "Siehst du", versuchte er einen Punktsieg, wusste aber, als die Tür ins Schloss fiel, dass ihr auf diesem Gebiet so einfach nicht beizukommen war.
Das Büro hatte er so eingerichtet wie auf seiner früheren Arbeitsstelle, weil es so gemütlich war sich an zwei Schreibtischen gegenüber zu sitzen, besonders gegen Abend, wenn es draußen dunkel wurde und der blaue Schimmer des Bildschirmes das Zimmer matt erleuchtete. Geradezu romantisch. Frau Hinzberger hatte für so etwas keinen Sinn. Leider hatte in der Firma auch nicht die Sekretärin ihm am Schreibtisch gegenüber gesessen. In einem unbedachten Augenblick war Hinzberger dieser Wunsch einmal andeutungsweise herausgerutscht. Auch da war Roswitha türschlagend abgerauscht, und den Platz an ihrem Schreibtisch hatte sie auch nicht ein einziges Mal eingenommen.
* * *
Neuerdings waren Bauarbeiter stylische Youngster in teurer Funktionskleidung. Einen Chef schien es gar nicht mehr zu geben, dafür einen Polier möglicherweise mehr oder weniger aus dem Ausland. Abschlüsse mussten offenbar wohl oder übel anerkannt werden. Wer früher zum Spargelstechen anrückte, kommandierte heute einen Trupp, der zum Beispiel deutschlandweit Fertighäuser aufstellte; wobei das mit dem Kommandieren so eine Sache war, seit niemand mehr irgend jemandem gehorchte.
Dafür schlenderten diese Rotzlöffel mit ihren Tattoos und sonstigem Zierrat lässig mit ein paar Dachlatten mal hierhin, mal dahin. Ein Bein rissen sie sich jedenfalls nicht aus, hatten die überhaupt schon angefangen? Das sollte man eigentlich meinen, zehn, halb elf, was es inzwischen sicherlich schon war. Einer von den Burschen saß eine geschlagene halbe Stunde mit dem Handy am Ohr auf dem Lattengerüst neben einem Schornstein. Mit dem Chef telefonierte der eher nicht. Oder doch, es konnte sein, dass die gesamte Truppe noch vor Mittag abrückte. Offensichtlich hatte die Firma ringsum eine ganze Reihe von Bauten in der Mache, und um die Bauherren hinsichtlich des Termins der Fertigstellung still zu halten, tat man hier ein bisschen etwas und dort. Angeblich musste dieses und jenes trocknen, oder ein Teil war noch nicht eingetroffen. Hinzberger sah dem Treiben zu und schwieg neuerdings. Der Anführer der Kolonne, der Kerl mit den wechselnden Geschäftswagen, hatte ihm Platzverbot erteilt.
* * *
Auch mit den Schusters hatten sie anfänglich auf freundschaftlichem Fuß gestanden. Andeutungen bezüglich der Besitzer anderer Eigenheime im Neubauviertel verstanden die erst nicht, schon gar nicht merkten sie gleich, dass Hinzberger die Namen bösartig verballhornte. Einer sah tatsächlich Gildo Horn geradezu lächerlich ähnlich. Evi lachte, es sei bereits Gildo, der lächerlich aussehe, aber das gehöre ja zu seinem Typ als Komiker. Umgekehrt konnte keiner etwas dafür, wie er aussah, beziehungsweise konnte aussehen, wie er wollte. Zuerst hatten Schusters sogar geglaubt am Ende wirklich einen berühmten Nachbarn zu haben, fanden es schließlich aber komisch, dass Hinzberger auf irgend etwas hinauswollte mit den Namen. Bei einer Nachbarin war ihnen ein "Frau Mutzenbacher" geradezu herausgerutscht, irgendwie ahnend, dass etwas nicht in Ordnung sei damit, aber da war es eben auch schon geschehen, und die Gerti, natürlich war man unter Nachbarn, gleichaltrigen noch dazu, gleich beim Du, also die Gerti, die vielleicht auch nicht wusste, was es mit dem Namen "Mutzenbacher" auf sich hatte, mochte sich allerdings wundern, wie ganz unterschiedlichen Leuten ausgerechnet genau dieselbe Namensverwechslung passierte. Auf dem Klingelschild lasen sie beim Rausgehen "Hollenbacher" und wunderten sich jedenfalls auch. Beide hatten sie klar und deutlich gehört, wie Hinzberger "Mutzenbacher" gesagt hatte, sogar mehrfach. Schließlich konnte der Irrtum einfach auch ihm passiert sein. Aber dass er den Guido "Gildo" nannte, und zwar ausdrücklich "Gildo Horn", das war nun mal kein Versehen.
* * *
Jetzt hatten die Schusters zwar die Gartenhecke geschnitten, Zufall war das aber ganz sicher nicht, dass der Teil stehen geblieben war, wo sonst Hinzbergers Kamera über den Garten strich.
Es hatte schon mehrfach Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Hecke gegeben. Frau Hinzberger konnte die Hecke gar nicht hoch genug sein, was ja nicht heißen musste, dass man sie nicht in Form halten könnte. Herr Hinzberger widersprach, die Frage der Höhe von Gartenhecken sei durch Vorschrift eindeutig geregelt, und zwar schon wegen des Schattenwurfes. Da würde bei ihnen bald nichts mehr wachsen, nicht wahr? Ob die Schusters einmal über so etwas nachgedacht hätten? Hatten sie, ehrlich gesagt, nicht, zumal Hinzbergers nicht etwa Salat oder sonst irgend etwas in ihrem Garten anpflanzten. Da würde sie schon der stinkende Komposthaufen stören, wie Schusters allerdings leider ja einen hätten. Nicht, dass da etwa auch Speiseabfälle entsorgt würden, das wüssten sie ja hoffentlich, dass das die Ratten anzog, und die hätten dann alle am Haus. Inga war bei dem Wort "Ratten" gehörig zusammengefahren. Als "Ratten" hatte Hinzberger Leute ein paar Häuser weiter bezeichnet und das Haus einen "Rattenbau" genannt, wo Kinderfahrräder und anderes Gerümpel den Vorgarten verunzierten. "Vorgarten!", hatte Frau Hinzberger schrill eingeworfen und sich auf dem Absatz umgedreht, wie öfter, wenn sie, sonst ohne ein Wort, dabeistand, während Hinzberger schwadronierte. Ebenso konnte sie aber auch aus einer entfernten Ecke jemanden anrufen, der zum Nachbarhaus hinging: "Ja, Sie meine ich! Da brauchen Sie gar nicht so zu tun, als hörten Sie mich nicht! Ja, gehen Sie nur hin zu dem Gesindel! Viel Spaß auch!" Worauf sie sich in ihrer Art auf dem Absatz umdrehte und darin fortfuhr, ein einzelnes Zweiglein zu beschneiden. Die Schere, die sie dazu benutzte, war so klein, dass man sie in ihrer Hand erst gar nicht sah. Auch einzelne Grashalme beschnitt sie so. Das tat allerdings auch Herr Hinzberger, und zwar quadratmeterweise, wobei er mit schiefem Kopf jeweils zurücktrat um die Rasenlänge zu peilen.
* * *
Letztlich
stellte sich die Sache mit Hinzbergers Karriere als Reserveoffizier
als Verwechslung heraus. Demnach habe er es als Reservist zum
Oberstleutnant gebracht. Geblieben war ihm allerdings der Colonel.
Markus, der Elvis-Fan war, hatte diese Version aufgebracht, und so
kursierte der Spitzname unter den Nachbarn im
Neubauviertel.
Hinzberger, der sich die Sache zwar nicht erklären
konnte, und der auch kein Englisch mochte, fühlte sich dennoch
geschmeichelt. Er hatte immer bedauert zu den weißen Jahrgängen
gehört zu haben und hätte jedenfalls gedient, wenn es nach ihm
gegangen wäre. Der Barras, wie er gerne sagte, sei die Schule der
Nation, auch wenn ihm da heute nicht mehr alles passen würde, und
habe noch keinem geschadet. Man lerne beispielsweise Hemden zu falten
- und überhaupt Ordnung.
Ja, Ordnung!
Ordnung konnte doch wenigstens herrschen! Wo kam man hin, wenn es so weiter ginge, nämlich drunter und drüber! Das sollte Ordnung sein, wenn jeder täte, was ihm passte? Nein, so sei die Welt nicht, wenn man genau hinschaute, die Natur, nur um ein Beispiel zu nennen, wenn auch gleich das größte und schlagendste, also die Natur: Ordnung bis ins Kleinste.
Alles
hatte da seinen Platz und geschah nach genauen Regeln. Vor allem, und
wenn sie es dreimal nicht gerne hören wollten, gab es ein klares
Oben und Unten. Und zwar sei das überlebenswichtig. In der Natur
ginge es um Sein oder Nichtsein, nicht um Larifari und was einem
gerade passt oder nicht. Sich gegen die naturgegebene Ordnung zu
stellen, das konnte nur böse enden. Die Natur, das sei sozusagen der
Ernstfall, da werde nicht gefackelt, da gebe es kein Hüh oder Hott,
kein Hin oder Her.
Roswitha hielt sich bei diesen Reden des
Colonels
auf
ihre Art etwas
abseits, wo sie irgendetwas an einem Strauch zu schnippeln hatte,
oder ein paar abgefallene Blätter mit dem Handfeger aufnahm. Sie
teilte die Ansichten Herrn Hinzbergers und freute sich darüber, dass
seine Zuhörer mit blödem Lächeln dastanden und halb aus
Höflichkeit nicht widersprachen, wohl auch wissend, dass sie dadurch
nur weitaus furchtbarere Tiraden des Colonels
riskierten,
wobei er dann auch vom Allgemeinen sehr bald auf das Allerkonkreteste
zu sprechen kam, persönlich und ausfallend. [B. Karl Decker]
2033 (An – und Ablässe 1. 17 – 1. 28)
2033 – 1. 17
Kniefälle (und Glaubensfragen): Ob es jemals einen bemerkenswerten Geist gegeben hat, der es für erstrebenswert hielt, ein Straßenschild, einen Platz oder eine Allee mit seinem Namen zu schmücken? - Von einigen kirchlichen und politischen Würdenträgern einmal abgesehen, scheint dies unvorstellbar. Fragen Sie doch beispielsweise, na Heinrich Heine! - Lo hält das Altern für ein Drama; zumindest mag sie es nicht. Seit ich jede Nacht gegen zwei mein Bett verlasse, was ich ebenfalls dem Altern zum Vorwurf mache, stimme ich ihr rückhaltlos zu. Vom Rennen und Laufen bin ich müd', Lo; wenigstens hast du dir ein sonniges Plätzchen ausgesucht. Das Kreuz, die Hüfte, König, Kind und Knie! Zu den Griechen möcht' ich kriechen; wenn's sein muss, geh' ich in die Knie vor dir, Lo.
2033 – 1. 18
Vermied es gestern hartnäckig, mit auch nur einem einzigen Wort Lasse zu erwähnen, dachte aber fortwährend an ihn. Sich mit freundlicher Gesinnung denjenigen zu widmen, von denen wir uns verraten fühlen. Noch blieb Zeit, sich von Schmähungen zu lösen. Gedanken über Barmherzigkeit, Arbeit an einem Traktat über Loyalität. (Randnotiz: Schmarrn.) Auf der Suche nach den leichten, unverfänglichen Themen: Meditative Landschaftsmalerei – Gedanken an die unwiederbringliche Ruhe vor sintflutartigen Stürmen, Szenarien verheerender Pandemien als Folge zerstörter Lebensräume, ließen auch diesen Zufluchtsort verblassen. Die Freude an der Integrität des eigenen Nachwuchses: War dies nicht Ausdruck rückhaltloser Lebensbejahung? - „Der Schwerpunkt aus dem gegenwärtigen ins künftige Leben verlegt!“ (Verachtung alles Irdischen durch den Heiligen und den Mönch: „Die körperliche Welt, die sie verachteten, mochte verderben, wenn nur die Seelen gerettet würden.“) - „Wir alle warten auf bessere Zeiten.“ (Franz Rosen, 1921) – Einige Gedanken an ehemalige Studentinnen und Studenten: Die junge Frau, die ihr Muttersein letztlich dem schulischen Wettkampf vorzog, die, die sich mit einem letzten Täuschungsversuch über Wasser zu halten versuchte, diejenigen, die sich scheuten, einen Beitrag zu leisten, einfach nur die Füße auf den Tisch legen wollten, vor der Syntax kapitulierten, wunderbare Gedanken zutage brachten, sich den Reizen der Schönheit und Kontemplation hingaben, philosophierten, auf Albernheiten lauerten, ihrer Faulheit frönten, die Uhren vorstellten, den Unterricht schwänzten, sich bloßgestellt fühlten, anstrengten, nachdenklich und einsichtig zeigten, sich berieseln ließen oder schlicht vorgaben »keine Ahnung« zu haben. Was also bliebe einem anderes übrig, als jedem einzelnen jener launenhaften Wesen die vollste Aufmerksamkeit und größte Hochachtung zu schenken und sich in jedem einzelnen Moment darüber bewusst zu sein, dass man allenfalls die »Perspektive« wechselte.
2033 – 1. 19
Das Nachdenken über Freundschaften im höheren Alter hat etwas entwürdigend Sentimentales. Das Gefühle: fortan nur noch im Singular mit sächlichem Artikel den Horror des Plurals bannen. Apokryphen Ansichten zufolge liege die Erlösung gerade im Verrat. Val interessierte sich nicht für die Ansichten der Leute. Seine eigenen Gedanken machten ihm genug zu schaffen. Meinungen. Er wolle bloß in Ruhe lesen.
2033 – 1. 20
Seifenoper der Leidenschaften oder das Motiv des Hundes: Die Redewendungen Lasses, eines windigen Typen, der immerhin den fragwürdigen Mut aufbrachte, die schütteren Stellen der Verhältnisse mit dem patinagrünen Ausdruck der Ambivalenz aufzumischen, machten Bosse, dem in seinen Augen heroischen Nihilisten, zugegebenermaßen redlich zu schaffen: „Seit du in mein Leben getreten bist, ziehst du viel Energie!“ Was er sich davon wohl versprochen haben mochte, als er einst die Banner der Freundschaft leidenschaftlich hisste? - „Seht her, dies ist mein Freund!“ - Mit Possessivpronomen hatte Bosse seit jeher erhebliche Schwierigkeiten: erblich bedingt; vermutlich. (Fragte mich am frühen Vormittag, wie lange es wohl möglich wäre, sich unbeschwert von üppigen Torten zu ernähren.) „Du würdest stolz auf mich sein!“ - Ließe sich ein Leben unter äußerst bescheidenen Verhältnissen durch die regelmäßige Spende von Blut, Samen oder Trost fristen? (Hätte er ihm von Anfang an misstrauen sollen? Eine törichte Frage! -, zumal Bosses ethisches Instrumentarium sich ex negativo konstituierte, worin er ein Grundgesetz menschlichen Verhaltens erkannte: wir schufen die Regeln unseres Verhaltens ausschließlich aus dem Gegenteil heraus; ein tatsächlich herkulisches Unterfangen.) „Nimm dich in Acht, mein Freund!“ (nimm2) - „Nimm einen Joint, mein Freund!“ (Witthüser & Westrupp)
2033 – 1. 21
Vom Trost des Schlagers. - Beginne den Tag mit einem Marmeladenbrot. Trotze der Versuchung, dich der ewigen Verdammnis ein für alle Mal hinzugeben, mit einem Entspannungsbad: Eintauchen und sich wohlfühlen (Apfel, Kokos, Lavendel, Sandelholz, Barbra Streisand: Someone to Watch Over Me.)
2033 – 1. 22
Kitsch und Cage. - Sich allem Tand des Lebens, ganz so wie es zufallsbedingt vorzufinden war, hemmungslos hinzugeben, darin sah Bosse, ganz im Gegensatz zu Lasse, dem Gefährten, sein Elixier. Zwar stets der Hand des Vaters, des Direktors, widerstrebend, lernte Lasse rasch den Wert von Zucht und Ordnung, dass man den Käse nicht vor der Wurst zu verspeisen hatte, sowie die Vorzüge der Anpassung an alles, was den Lebensweg mit Erfolg zu krönen versprach. Während man Bosse in seinem Nest schier alle erdenklichen Freiheiten ließ, fast sogar seinem Zorn wider den Umstand, schon im zartesten Alter eine Schule besuchen zu müssen, nachzugeben neigte, brillierte Lasse als Lernender, leistete Ausgezeichnetes, machte sich stets dort nützlich, wo Organisation und Verantwortung Bestallung in Aussicht stellten und erwies sich recht bald schon als ganz und gar starker Charakter. War es Bosses ungezügeltes, rastloses Wesen, das Lasse anzog? War es die züchtigende Hand des Direktors, die Lasse trotz zunehmenden Widerstands dauerhaft zu bändigen vermochte? Noch im reifen Mannesalter blieb Lasse, durch und durch ein gebundener Geist, ein Nachahmungskünstler, ein Meister des Mimikry, ganz so, wie es ihm selbst in den verworrensten Situationen des Lebens einen Nutzen einbrachte. Die anfängliche Begeisterung für die mannigfaltigen Missgeschicke Bosses, dessen Leben nach allen Seiten sauste, der Huren den Hof machte, finstre Tanzmusik ersann, überall dort zu stehlen pflegte, wo niemand es vermutete, dennoch stets Räume schuf für diejenigen, die nach eigenständiger Erkenntnis der Welt strebten, ihnen Aufmerksamkeit, ja höchste Achtung erwies, weil ihm das Schenken als Notwendigkeit schien, wandelte sich schleichend in Argwohn und Missgunst, erzeugte ein Bild der Verachtung Bosses, den er noch nach Jahrzehnten getrennter Wege Dritten gegenüber verurteilte und verunglimpfte.
2033 – 1. 23
Perpetuierte Tabubrüche: Keine Geschichten aufkommen lassen; sie im Keim ersticken – oder in Parenthesen (Geschichten von Val, von Lo oder von Lasse und Bosse). Gesammelte Indiskretionen aus grob geschätzt circa fünfundzwanzig Jahrhunderten; vielleicht mehr, vielleicht weniger: Confessiones und Gender Reveal Parties.
2033 – 1. 24
(Eurozentristische) Jubiläen. - Feierlichkeiten waren nach wie vor durch und durch obszön. „Den Untergang vor sich her stoßen“; so der Wortlaut eines vergilbten Eintrags (1983 – 1. 30). Die Satire war längst zum Gewäsch verkommen. Jedes der jüngeren Gesichter hatte sich teils bewusst und opportun, teils unbewusst, der Missachtung der Geschichte verschrieben: Blöße und Bloßstellung der Geschlechter (und ihrer Kämpfe) über Generationen (und Generationen) hinweg: Generation Z – Generation X ≥ Generation Δ + Generation Ω ≠ П². (Selbst der Mathematik wohnte letztlich die fade, allzumenschliche Ungeduld inne, endlich etwas Bleibendes im Unendlichen schaffen zu können, was sich freilich nicht einfach ausrechnen ließ. Anlass eines anfänglichen Interesses an der Willkür der mathematischen Technik, der Kunst des Lernens schlechthin, sowie ihrem unablässigen Beweggrund, Lösungswege zu konstruieren, war die Einsicht von der Unmöglichkeit zu beweisen, dass 1 + 1 = 2 sei, was eine Form bisher nicht enden wollender Schadenfreude auslöste: Man hatte sich seit jeher in zahllosen Berechnungen verrechnet!)
2033 – 1. 25
Eight days a week. Eine kleine Nachtmusik für »Kammerjäger« (Notiz auf einer Spielkarte): Wo immer eine althergebrachte Idee lauerte, galt es, Abstand zu halten, sofern man danach trachtete, weitgehend in »Frieden« zu leben. Die (schwärmerische) Idee der Freundschaft (und freien Liebe) war ihm wenigstens ebenso fragwürdig geworden wie jede begeistert vorgetragene (esoterische) Hoffnung auf vorzügliche (und verwegene) Verbesserungsvorschläge durch proteinhaltige Lebensmittel (0,8 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht), die totale (keimfreie) Digitalisierung [Sozialkreditsytem(e)], Sozialismus (inklusive aller weiteren Ismen), die sanfte Rebellion des (Free) Jazz, marktwirtschaftliche Nachhaltigkeit (Auf- und Abrüstung), praktische und erkenntnistheoretische Psychologie, rezeptpflichtige Heilmittel und mathematisch projizierte Gottesbeweise {≤ Ringparabel: „Vertragt euch, Kinder!“}.
2033 – 1. 26
Schnelle Zehntel. - Schwankte nochmals wie der Zeiger eines Metronoms zwischen Zuneigung und Ablehnung Äußerungen anderer gegenüber. Das zügige Denken entschleunigen: Von maximal vierzehn Wörtern im Zehntel einer Sekunde zu der gleichen Anzahl in einer Minute. Ausdehnung des Raums: Suche nach Ereignissen in der habitablen Zone vergangener Begegnungen. Fragwürdigkeit rückwärts gewandter Sondierungen. Diebstahl zur Freude »schöner Götterfunken«: Ein emsig gepflegtes Laster - ohne ein gewisses Maß an Kleptomanie wäre die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben äußerst fade. »Alle Guten, alle Bösen folgen ihrer Rosenspur.«
2033 – 1. 27
Aufruf des amtierenden Präsidenten der Intergalaktischen Föderation zur kollektiven Kontaktaufnahme. Auch im vergangenen Jahr, so die Pressestelle der Föderation, seien die Sichtungen unbekannter Flugobjekte erneut angestiegen. Die Beweggründe, die Himmelskörper auszuloten, würden sich nur geringfügig von denen unterschieden, die vor etwa einer Million von Sonnenaufgängen ins Visier genommen worden seien. Es sei weit darüber hinaus, so der Präsident mit größtem Nachdruck, eine nunmehr unumstößliche Tatsache, dass jede uns bekannte Form des Lebens als Abbild des Ganzen, welches wir weiterhin Galaxie, also verspritzte Milch, nannten, aufgefasst werden dürfe. Die Vereinigung solcher Ganzheiten entspräche der Gesetzmäßigkeit des Eis als biomorpher Urbrutstätte tiefschwarzer Püppchen: Die animalische Pupille als Analogon der Schwarzen Löcher und ihrer Haarlosigkeit. Der Präsident versprach sich und seiner Anhängerschaft die bevorstehende Beantwortung aller Fragen bezüglich des »Woher?« und des »Wohin?« jeder erdenklichen Lebensform innerhalb des Großen und Ganzen (GroGa) im intergalaktischen Rahmen eines synchronen Informationsaustauschs im Telepresence-Verfahren: „Endlich!“
2033 – 1. 28
8 + 1 ≥ 9 (¾ Uhren²) – Und wenn er doch einer Idee auf den Leim ging, etwa der der Freiheit, ließ er sie sprachlos gedeihen: Aus dem Staunen (und Raunen) kam man ohne weiteres sowieso nicht heraus; jedenfalls nicht lebend. Oder dünkt es dich nicht so? Den Dingen auf den Grund gehen zu wollen, verursachte entweder Atemnot oder führte geringstenfalls zu Verstopfung. Die meisten zur Verfügung stehenden Abführmittel, wiederholte Spiegelungen (Goethe) der Verdauungsorgane, Karl Augusts spekulative Existenzphilosophie, die holde Kunst der Aufzählung und Übertreibung, dienten schließlich, dem Himmel über den Weltmeeren sei Dank, der Erleichterung und Linderung. Erstaunlich auch, dass, noch bevor soeben Zusammengefügtes zu erkalten in der Lage war, sich nahezu von überall her kaum wahrnehmbare, beinahe unsichtbare Urteile – wie durch Geisterhand - in Bewegung setzten: Er brauche fortan nicht mehr zu wissen, welche Stunde es sei. „Alles andere ist probiert.“ Wohl dem, der keinen Staub aufwirbelt! [Liana Helas]
Milchfarben
Das Präsidium der Intergalaktischen Föderation ist natürlich bis auf Weiteres eine Stabsabteilung, aber immerhin, denn zuvor waren die intergalaktischen Angelegenheiten bis zuletzt geradezu belächelt worden, die Macke von notorischen Spinnern und Faslern. Immerhin konnte es dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen, dass es Intergalaktiker über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinaus gab, eine regelrechte Pizza-Connection 2.0.
In
den verschiedenen Weltraumbehörden waren diese Leute natürlich
nicht gerne gesehen, denn darin unterschieden sie sich vom
etablierten Geschäft mit dem Orbit, dass es dort ja letztlich um
rein irdische Belange ging: das Schürfen knapper Mineralien, die
Besiedlung des Mars, Verklappung brisanter Abfälle. Der
intergalaktische Ansatz sah die Sphäre des Außerirdischen
grundsätzlich interaktiv, was seinen Vertretern die wenn auch
abgedroschene Häme und den Spott der kleinen grünen Männlein
eintrug. Neuerdings krähte bei solchen Gelegenheiten noch jemand aus
dem Hintergrund: "Kleine grüne Weiber nit vergesse, wenn i
bitten darf, haha!"
Tatsächlich ging dann die Zeit doch nach
und nach über die Einfaltspinsel hinweg und unter der Hand wurden
den Intergalaktikern wenn auch erst bescheidene Ressourcen für ihre
Arbeit bereitgestellt, Bürostunden und Equipment, sehr zum Ärger
der etablierten Weltraumbehörden und der Raumfahrtindustrie, die
noch dazu einen stetig steigenden Betrag an intergalaktischen Abgaben
aufs Auge gedrückt bekamen. [B. Karl Decker]
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