["Hamburger", Siegfried Feid (2019)]
Er
frißt den Abfall vom eigenen Tisch; dadurch wird er zwar ein
Weilchen lang satter als alle, verlernt aber oben vom Tisch zu essen;
dadurch hört dann aber auch der Abfall auf. [Franz
Kafka, »Nachgelassene
Schriften«
(1918)]
["Zentrum der Macht", Siegfried Feid (2018)]
Er
ist ein freier und gesicherter Bürger der Erde, denn er ist an eine
Kette gelegt, die lang genug ist, um ihm alle irdischen Räume frei
zu geben und doch nur so lang, daß nichts ihn über die Grenzen der
Erde reißen kann. Gleichzeitig aber ist er auch ein freier und
gesicherter Bürger des Himmels, denn er ist auch an eine ähnlich
berechnete Himmelskette gelegt. Will er nun auf die Erde, drosselt
ihn das Halsband des Himmels, will er in den Himmel, jenes der Erde.
Und trotzdem hat er alle Möglichkeiten und fühlt es, ja er weigert
sich sogar, das Ganze auf einen Fehler bei der ersten Fesselung
zurückzuführen. [Franz Kafka, »Nachgelassene
Schriften«
(1918)]
5
Gregor,
heute
zum ersten Mal wieder so etwas wie Inspiration gespürt, du kennst
das sicherlich, wenn das Gefühl weg ist, kann man sich nicht
vorstellen es jemals wieder zu haben, und wenn es da ist, ist es ganz
klar.
Es
meldet sich gewöhnlich mit meinen üblichen Obsessionen. Nr. eins,
mein Held geht an einem monströsen Parkplatz vorbei, der
perverserweise beinahe das komplette Zentrum der Kleinstadt einnimmt,
eigentlich logisch, weil drumherum eingekauft wird, genauer gesagt,
geshopt, du weißt, dass das meinen Erzählnerv kitzelt ... Dabei ist
es ein Ritual und sollte mit meinem Verständnis rechnen. Shopping
ist so etwas wie das Herausreißen von Herzen bei (erst noch)
lebendigem Leib, vorzugsweise eigens dazu herangezogener Prinzen und
Prinzessinnen. Nicht, dass die Priester die Herzen äßen und davon,
ich betone, davon fett würden. Das sind sie durch die gewöhnliche
privilegierte Lebensweise der Elite, ganz normales Fett, sozusagen.
Mein Held geht an diesem Parkplatz vorbei, den irgend eine
Fernsehshow vollständig mit Ambulanzen beparkt hat, jedes einzelne
der Hunderte geparkter Autos ein monströser Krankenwagen in den
üblichen grellen Signallackierungen, etwa auf die Art, die Wagen im
Stau von Mr. Hulo, nicht gerade mit Martinshorn, im Gegenteil,
sozusagen ganz normal geparkt. Eine Art Showmaster tritt an den
Passanten heran, um ihn zu fragen, ob ihm in der Stadt am heutigen
Tage etwas Besonderes aufgefallen sei. Es ist ihm nichts aufgefallen.
Wie ich in die Geschichte noch einbringen könnte, dass Krankenwagen
seit Kindertagen zu den Schrecken zählen, die ihn in unzähligen
Alpträumen heimgesucht haben, weiß ich nicht, wie gesagt, ich bin
ja selber der Held, Krankenwagen gehören zu meinen Obsessionen;
dafür taub sein zu können, erhöht meiner Ansicht nach ihren
Schrecken.
Wundere
dich nicht, dass ich ein paar Schritte weiter an einem Leichenwagen
vorbeikam, den der Bestatter auf dem Parkplatz vor seinem Laden
lüftete. Von einem Leichenwagen überfahren zu werden, gehört,
glaube ich, schon zum Repertoire, woran ich erkenne, dass die
Inspiration im Abklingen begriffen war; ich hatte dann noch eine
weitere, dem Gefühl nach eine strukturelle, an die ich mich aber
wegen des fehlenden Bildes nicht erinnern kann. Meine Seele ist
irgendwie in Aufruhr, ich weiß nicht, was es ist, werde meine Nase
in den Wind halten. Es wurmt mich auch etwas und ich weiß nicht,
wann die Beule, in der dieser Wurm heranwächst in seinem Eiter,
platzt. So nebenbei hatte ich gestern aus der eigenartigen
Abwesenheit heraus, die mich befällt, einen kleinen Verkehrsunfall.
Die Sache ist völlig ohne irgendeine Aufregung an mir
vorübergegangen; am heftigsten fühlte ich den damit einhergehenden
Zeitverlust. Dabei muss die arme Frau, der ich die dämliche Beule
gefahren habe, ja viel mehr Zeit aufbringen, während ich bloß
einmal mit der Versicherung telefoniert habe und wahrscheinlich einen
Brief lesen muss, in dem sie mir die Erhöhung der Prämie mitteilen.
Material für eine unsere Spinnereien wäre die Tatsache, dass ihr
Bordcomputer meldet, dass ich ihr den Abstandsmelder kaputt gefahren
habe. Irgendein Vogel kreist über mir, ich wollte, es wäre ein
Schutzengel, wüsste aber, wenn die neuerdings schwarz wären.
Schließe mich in dein Abendgebet ein.
Dein
Max
Max,
Schöpfung
aus dem Shop, etwa aus den News des tagtäglichen Trashs
im Net zu holen, Instantschöpfung mit einer kleinen Plastikkelle als
Gimmick, vielleicht gibt dir das noch ein mehr wenig Inspiration. In
meinem Abendgebet gratulierst du Franziskus zu seiner guten Absicht,
seinen brandneuen Lambo meistbietend zu einem weltverbessernden Zweck
zu versteigern, beispielsweise bei Christie's, wo man schließlich
gerade Leonardos Christus für 450.000.000$ dem großen Unbekannten
preisgab. Bemerkenswert ist des Weiteren, dass sich Moderatorinnen,
deren Namen ich mir nicht merken kann, regelmäßig frisch verlieben;
gewiss leben sie alle in den moderaten Häusern, die ihre Liebhaber
ihnen kaufen und deren Preis letztlich, wie nahezu alles andere auch,
beliebig ist. Die Beliebigkeit diktiert die Abendgebete in gleichem
Maße wie den Alltag, in dessen Belanglosigkeit sich gelegentlich
kleine Intrigantinnen mengen, die ihre libidinösen Störungen dem
lyrischen Ich obsessiv entgegenschleudern. Über eine dieser
Intrigantinnen schreibt der Held gewiss, sobald ihm die Sinne danach
stehen und sofern ihm zwischenzeitlich nicht eine andere beliebige
Begebenheit dringlicher erscheint. Übrigens habe ich mich längst in
diese Art Briefroman verliebt, die sich mit jeder Art von
Alltäglichem bis hinein ins Weltalltägliche verbinden lässt, das
von Wurmlöchern (und anderen Spinnereien) bekanntlich nur so
strotzt. Einen sehr poetischen Abstandsmelder fand ich jüngst im
Vorwort zu Tennessee Williams' "Cat on a Hot Tin Roof",
wovon ich dir bei unserer nächsten Begegnung gern Näheres,
Person-to-Person
gewissermaßen, berichten will.
Bzw.,
G.
Post
scriptum: Vierzig Tage. - »Noli
me tangere« lautet die Parole, das Zeichen, ja, der Schlachtruf gekrönter
Zeitläufte, welchen wir unsere Kränze spenden. [Z. Z.]
(Vorläufiger) Epilog
Einmal
wurde Kafka gefragt, ob er so einsam sei wie Kaspar Hauser. "Viel
einsamer", antwortete er, "ich bin so einsam wie Franz
Kafka."
Ob
es ihm je auch so gegangen sei, wie Mick Jäger, wollte ein Freund
Gregors wissen, dass er niemanden finde, der ihn befriedigen könnte.
"Nein", sagte Gregor, "ich finde erst niemanden, der
ein Verlangen in mir weckte." - "Echt jetzt, und du bist
sicher, du hast nicht, ich meine, über so was kann man heute offen
reden. Verstehst du, wenn du dich nicht richtig fit fühlst, das ist
das erste, was ich bei meinem Urologen auf'm Plakat lese. Nicht dass
du meinst, bei mir wär's schon so weit, ohne Scheiß' jetzt, ich
glaube, das geht sogar auf Kasse." - "Gab's das Zeug nicht
schon immer, hieß nur anders und war bestimmt auch primitiver, auf
den Groschenheften hinten, wo's auch immer was gegen Haarausfall gibt
und diese Seniorenmobile?"
Das
Gespräch hatte eine Wendung genommen, bei der es dem Freund nicht
mehr recht geheuer war. Irgendwie war ihm an diesem Tag das Wort
satisfaction
durch den Kopf gegangen, wie er Gregor erzählt hatte, und dann war
der Ohrwurm von dem alten Lied da und wollte nicht mehr verschwinden.
Alte Zeiten, herrje! Gregor erinnerte sich, dass er einmal eine Weile
an dem Wort herumgekaut hatte, die Stones hatten für ihn etwas
Onkelhaftes, und er fragte sich, was ihn eigentlich gegen sie
aufbrachte. Ernstlich von ihnen hörte er erst, als man von ihnen
gehört haben musste. Kennst du das und das? Er jedenfalls kannte es
nicht, konnte sich auch nicht vorstellen, dass man all die englischen
Texte verstehen könnte. Satisfaction
konnte man auch nicht übersetzen, das klang nach Aufklärung und
Oswald Kolle. Tatsächlich müsste man mal überprüfen, ob es in dem
Lied wirklich auch darum geht. Manchmal bildete man sich Sachen ein
und blieb drauf hängen. Gregor kannte das. Wenn es aber so war, dass
Mick Jagger keine Befriedigung finden konnte, das was ihn und seine
Jungs daran hinderte, hatten sie jedenfalls gehörig aus dem Weg
geräumt. Irgendwie klangen alle sexuellen Wörter auf Deutsch nach
Ehehygiene und FKK, Erregung, ein peinliches Wort. Und es traf auch
nicht die Sache, auf höchst ärgerliche Weise sogar. Wer hatte nicht
Erektionen zu den unpassendsten Gelegenheiten, beispielsweise aus
bloßer Müdigkeit! Excitement, dachte Gregor, oder was er neulich
einmal ausprobierte, auch weil er es aus einem Lied kannte, sogar aus
einem ziemlich alten: thrill.
"Das sag mal auf Deutsch", sprach er zu sich selber, so wie
er es oft tat, besonders seit er sich zu einem guten Kameraden
geworden war. Es war nicht so, dass man selber einfach versagte. Man
steckte darinnen in einer Blase aus Versagen. So musste es Menschen
im Mittelalter gegangen sein, die sich umzingelt sahen von einer
unbegreiflichen Natur, von einem unfassbaren Mangel an allem
Möglichen. Dabei gab es immer auch welche, die keinen Mangel litten,
und die gesegnet waren mit Wissen. Es hatte etwas damit zu tun, dass
man eine Barriere überwand, das hatten wohl auch die Stones gemacht,
und Millionen Fans konnten diese Barriere auf diese Weise auch für
sich überwunden finden. Das war wie in den alten Mythen, es genügte
den Ritus exakt zu vollziehen, und er entfaltete seine Wirkung.
Eingeweiht musste man allerdings sein, Gregor war es nicht, diese
Weihe hatte er nicht empfangen. Er wusste es, dass er nicht darum
gebeten hatte, was man eben dann doch tun musste. Niemand erteilte
dir irgendwelche Weihen, wenn du nicht wenigstens das Haupt senken
willst. Lerne also die angesagten Sachen und bringe sie vorsichtig
ein, so dass die anderen nicht merken, dass es eine gelernte Sache
ist. Sie wollen nicht an ihre eigene Demütigung erinnert werden.
Vergleiche darfst du schon gleich gar nicht anstellen, weshalb der
Freund auch irgendwie bereute das Thema angeschnitten zu haben.
Gregor war komisch, ein netter Kerl eigentlich, aber komisch.
Andauernd kam man mit ihm in komische Situationen, bei den
einfachsten Sachen eigentlich.