In allen Häusern, an denen er vorbeikam, war es dunkel. Er hatte Zeit, angenehm spürte er die Nachtkühle auf der Haut, in seinen Ohren summte das Blut. Für einen Augenblick schien es ihm, als sei er der einzige Mensch auf der Welt, und er streckte sich innerlich. [Gert Loschütz »Das erleuchtete Fenster. Erzählungen« (2007)]
[»Nightsong«, Paola Prestini (2008)]
Versunken in die Nacht. So wie man manchmal den Kopf senkt, um nachzudenken, so ganz versunken sein in die Nacht. Ringsum schlafen die Menschen. Eine kleine Schauspielerei, eine unschuldige Selbsttäuschung, daß sie in Häusern schlafen, in festen Betten, unter festem Dach, ausgestreckt oder geduckt auf Matratzen, in Tüchern, unter Decken, in Wirklichkeit haben sie sich zusammengefunden wie damals einmal und wie später in wüster Gegend, ein Lager im Freien, eine unübersehbare Zahl Menschen, ein Heer, ein Volk, unter kaltem Himmel auf kalter Erde, hingeworfen wo man früher stand, die Stirn auf den Arm gedrückt, das Gesicht gegen den Boden hin, ruhig atmend. Und du wachst, bist einer der Wächter, findest den nächsten durch Schwenken des brennenden Holzes aus dem Reisighaufen neben dir. Warum wachst du? Einer muß wachen, heißt es. Einer muß da sein. [Franz Kafka »Nachts. Prosaskizze« (1920)]
Through endless night the earth whirls toward a creation unknown...
[Henry Miller »Tropic of Cancer« (1934)]
What hath night to do with sleep?
[John Milton »Paradise Lost« (1667)]
Aus dem Noktarium
Auf den Dachterrassen liegend, räkeln sich die Frauen nackt im Mondschein, um sich von ihm bleichen zu lassen.
Nach Mitternacht. Der Rollladen ist hinter dem letzten Gast heruntergerasselt. Die Strassenampel schwankt im Wind; ihr Lichtschein pendelt über den Fussgängerstreifen. In den Pfützen spiegeln sich die Blinklichter wider: rote und grüne Schlieren, die auf dem Asphalt verzittern.
Ein Mann hockt auf dem Rinnstein; er hat den Kopf in den aufgestülpten Kragen seiner Jacke gezogen und lauscht dem Glucksen des Regenwassers, das unter seinen Absätzen durchrinnt. Der Wirt, der hinter ihm seine Kneipe dichtgemacht hat, wirft noch einen Blick durch das Fenster, ehe er den Vorhang zieht.
Betrunkene Seehunde robben sich aus der überschwemmten Tiefgarage; der Bierschaum glitzert in ihren Schnauzhaaren.
Die Fenster des Erdgeschosses sind mit Schaltafeln verbarrikadiert. Der Keller steht unter Wasser. Auf der Treppe liegen die Überreste der Tauben, die sich an den Wänden ihren Kopf eingeschossen haben. Der Aasgeruch, der das Treppenhaus erfüllt, hält den Nachtwächter davon ab, die oberen Stockwerke zu inspizieren. Er begnügt sich damit, den Schein seiner Taschenlampe im Kreis herumschweifen zu lassen.
Frauen waten, ihre Röcke schürzend, durch den Morast. Bei jedem Schritt scheppern die Pfannen, die sie auf dem Rücken tragen. Wenn der Zug über den Bahndamm rattert, bleiben sie, von seinem Licht geblendet, stehen und halten den Atem an, bis er vorüber ist. Manch eine von ihnen würde jetzt lieber in einem der Waggons sitzen und, in Erwartung der baldigen Heimkunft, vor sich hin träumen; aber es geht weiter, es geht immer weiter so. Schritt für Schritt ins Ungewisse, scheppernde Pfannen auf dem Rücken.
Traum: In der leeren Bar im 1. Stock des Restaurants Cantina, wo ich nachts, wenn ich in der Altstadt unterwegs bin, jeweils meine Dienstpause zubringe, wurde ich regelmässig von einer Nigerianerin empfangen, die, in der dunklen Garderobennische auf einer Matratze liegend, bereits nackt ausgezogen war, wenn ich erschien, als gälte es, ja keine Zeit zu verlieren; nicht einmal den Kopf hob sie zu meiner Begrüssung; höchstens, dass sie, mein stillschweigendes Einverständnis voraussetzend, wohlig ihre Glieder dehnte, wenn ich den Vorhang zurückschlug… Ich trat an ihr Lager und liess mich seufzend in ihre Arme sinken, zwischen ihre Schenkel, die so schwarz waren wie die Nacht, aus der ich gekommen war.
Gäbe es ein Haus, das ich mein Eigen nennen könnte, so wäre es die Nacht.
Pause in der Personalkantine der NZZ-Redaktion. Ich hatte mich mit der wärmenden Suppe, die mir der Koch geschöpft hatte, in einen stillen Winkel gesetzt. Durch die Fensterscheiben, in denen sich die gedämpften Lampen spiegelten, sah ich die ersten Schneeflocken fallen. Die Fassade des Opernhauses auf der gegenüberliegenden Strassenseite war in ein oranges Licht getaucht. Im Radio, das der Koch hinter dem Buffet eingeschaltet hatte, lief heimwehselige Country-Musik. Mein Gesicht über die dampfende Suppe geneigt, hatte ich mit Löffeln innegehalten; ich schaute und lauschte nur noch.
Sie streckt ihren Arm aus den schweissfeuchten Leintüchern und tastet im Dunkeln nach dem Nachttopf. Mit einem trägen Seitenschwung lässt sie sich aus dem Bett plumpsen. Sie rafft das Nachthemd hoch und verteilt ihre Masse auf dem Topf, den sie sich untergesetzt hat. Kichernd blinzelt sie zwischen den Strähnen, die ihr ins Gesicht hängen, hervor. Die weissen Gestalten, die sich immerzu um ihr Bett drehen, heute sind sie ihr freundlich gesinnt. Sie vermeint in ihnen abwechselnd ihren Vater und ihre Mutter und ihren Grossvater und ihre Grossmutter zu erkennen, und nickt ihnen aufmunternd zu. Dass sie dabei mit den Fingern im Kot, der sich in ihrem Nachttopf aufgehäuft hat, herumstochert, das merkt sie nicht. Sie wäre jetzt ganz zufrieden; wenn sie bloss wüsste, wie sie nun eigentlich heisst: Marianne oder Annemarie? Diese Frage beschäftigt sie seit langem schon.
Traum: Obwohl ich meinen Dienst erst angetreten habe, ist es in der Altstadt bereits stockfinster. Während ich auf der Niederdorfstrasse in Richtung Hirschenplatz gehe, streben die Passanten, von denen ich in der bedrohlichen Dunkelheit nur schemenhafte Gestalten zu erkennen vermag, alle in die Gegenrichtung, als hätten sie Angst, die Strassenbahn zu verpassen… Die Luft wird, je weiter ich gehe, umso stickiger. Aber ich merke erst jetzt, wo die letzten Nachzügler an mir vorüberhasten, dass es inmitten der Altstadt zu einer Katastrophe gekommen sein muss, einem Brand von unabsehbaren Ausmassen, der, eine schwarze Rauchwolke vor sich her schiebend, die Menge in Panik versetzt hat. Hätte ich auf der Stelle kehrtgemacht, um den anderen zu folgen, so wäre ich der drohenden Gefahr vielleicht noch entronnen. Stattdessen gehe ich weiter, hustend und tränenden Auges weiter, geradewegs auf den undurchdringlichen Qualm, der sich zwischen den Häusern heranwälzt, zu, bis er mich verschlungen hat.
Es hört und hört nicht auf zu regnen; der Keller steht schon unter Wasser. Schwarze Fledermäuse, durch die Dachluke hereingeschwirrt, liegen zerschmettert auf dem Estrich. Die Glühbirne, die von der Decke hängt, hat im Kreis zu schwingen begonnen. Im Badezimmer kniet brabbelnd ein Mann neben der Wanne, in der – ist es die Möglichkeit? – ein Krokodil sich reckt, von gelben Flechten überzogen… Es ist der Vater, der betrunken von seinem Nachtdienst nachhause gekommen ist.
Link liebte die Nacht. Sobald die Dämmerung anbrach, begann er sich draussen in seinem Element zu fühlen. War er untertags zur Beute seiner Sinneseindrücke geworden, so gehörte er nachts wieder sich selbst. Das Tageslicht hatte ihn, indem es seine Aufmerksamkeit auf die Vielfalt der Dinge lenkte, seiner Innenwelt abspenstig gemacht; aber nun, wo die Dinge in den Schatten zurücktraten, gewann er wieder die Oberhand über sie; es war, als würden seine Sinne sich nunmehr nach innen öffnen.
Nichts förderte seine Verbundenheit mit den Anderen stärker als die nächtliche Einsamkeit. Gerade ihre Abwesenheit vermittelte ihm das Bewusstsein ihrer Gegenwart. Wären sie leibhaftig zugegen gewesen, sie hätten ihm nicht so nahe sein können wie in den einsamen Stunden, die er ihrem Andenken widmete, als wären sie bereits gestorben. Die Schranke, die ihn im Alltag von den Anderen trennte, wurde in der Dunkelheit aufgehoben. Insofern war die Nacht eine Vorwegnahme des Todes, der ihn endgültig mit ihnen verbinden würde.
Von einer gewissen Stunde an sind auf der Strasse fast nur noch Penner, Säufer, Huren und Junkies anzutreffen. Selbst die sogenannten rechtschaffenen Leute erscheinen in einem schiefen Licht: so begegnet mir der Prokurist, der mir noch vor wenigen Stunden mit einer wichtigtuerischen Gebärde seine Unterschrift ins Rapportbuch gesetzt hat, unversehens in der Gestalt eines der Homos wieder, die ich aus der Bedürfnisanstalt, in welcher sie sich miteinander eingeschlossen haben, hinausweisen muss… Als Nachtwächter sieht man die Welt von einer anderen Seite als diejenigen, die am Tag arbeiten. Die Kategorien, in die sich die Leute sonst einzuteilen pflegen, gelten in der Nacht nicht mehr – am allerwenigsten in der Fastnacht, wo die Unterschiede, die zwischen Klassen, Rassen, Geschlechtern und Nationalitäten bestehen, mutwillig aufgehoben werden. Solange sie in ihren gesellschaftlichen Vorurteilen befangen bleiben, sind die Menschen unerträglich. Was sie miteinander auszusöhnen vermag, ist einzig und allein der anarchische Zug an ihnen, den die Nacht zur Geltung bringt.
Liegenbleiben, wie man vor Stunden, als es noch dämmerte, eingeschlafen ist. Kein Licht anzünden, um die Dunkelheit, die sich in der Zwischenzeit ausgebreitet hat, nicht zu verscheuchen. Reglos liegenbleiben, damit der Bann nicht gelöst wird. Ganz Auge, ganz Ohr sein, gespannt darauf, was man nun, wo kaum noch etwas zu hören und zu sehen ist, wahrnehmen wird. Abwarten, bis das letzte Geräusch verstummt ist, als hätte man ein Lauschen entdeckt, das sich umso mehr lohnt, je weniger es vernimmt.
Ob man endlich einen Blick auf das, was einem sonst immer entgeht, erhascht, wenn die Wände, vom Scheinwerfer des letzten Autos gestreift, das draussen um die Verkehrstafel biegt, wieder in die Dunkelheit zurückgesunken sind? Erst dann, wenn sich nichts mehr zwischen den Blick und die Dunkelheit, nichts mehr zwischen das Gehör und die Stille schiebt, erst dann vielleicht gibt das Geheimnis vollends sich preis.
Der Morgen hat die Hausblöcke in Milch getaucht. In den Fensterscheiben spiegeln sich leuchtende Wolken. Aus dem Hinterhof steigt das Gurren der Tauben, die zwischen den Kontainern die Abfälle verlesen. Schlaftrunken kommt die erste Strassenbahn aus dem Depot geholpert; der Kopf des Wagenführers, der vor Müdigkeit vornübergekippt ist, fällt von einer Seite auf die andere. Auf der Traminsel liegt eine abgehäutete Kuh. Der Strassenkehrer zündet sich eine Zigarette an, bevor er den dampfenden Kadaver mit Sägemehl bestreut. Eine Hausfrau beugt sich im Negligé aus dem Fenster, um den Laden festzumachen; ihre Brüste quellen, vom Schlaf aufgeweicht, über den Saum ihres Unterrocks. Aus dem Hintergrund schellt ihr Wecker.