Samstag, 19. April 2025

Z. Z. LVI [»Aus dem Noktarium« von Walter Graf (1975 - 1995)]

 


[»Transparence«, Goedart Palm (2013)]



In allen Häusern, an denen er vorbeikam, war es dunkel. Er hatte Zeit, angenehm spürte er die Nachtkühle auf der Haut, in seinen Ohren summte das Blut. Für einen Augenblick schien es ihm, als sei er der einzige Mensch auf der Welt, und er streckte sich innerlich. [Gert Loschütz »Das erleuchtete Fenster. Erzählungen« (2007)]




[»Nightsong«, Paola Prestini (2008)]




Versunken in die Nacht. So wie man manchmal den Kopf senkt, um nachzudenken, so ganz versunken sein in die Nacht. Ringsum schlafen die Menschen. Eine kleine Schauspielerei, eine unschuldige Selbsttäuschung, daß sie in Häusern schlafen, in festen Betten, unter festem Dach, ausgestreckt oder geduckt auf Matratzen, in Tüchern, unter Decken, in Wirklichkeit haben sie sich zusammengefunden wie damals einmal und wie später in wüster Gegend, ein Lager im Freien, eine unübersehbare Zahl Menschen, ein Heer, ein Volk, unter kaltem Himmel auf kalter Erde, hingeworfen wo man früher stand, die Stirn auf den Arm gedrückt, das Gesicht gegen den Boden hin, ruhig atmend. Und du wachst, bist einer der Wächter, findest den nächsten durch Schwenken des brennenden Holzes aus dem Reisighaufen neben dir. Warum wachst du? Einer muß wachen, heißt es. Einer muß da sein. [Franz Kafka »Nachts. Prosaskizze« (1920)]





[»Feeling Blue«, Goedart Palm (2013)]




Through endless night the earth whirls toward a creation unknown...

[Henry Miller »Tropic of Cancer« (1934)]





[»Night Fantasies«, Elliott Carter (1980)]




What hath night to do with sleep?

[John Milton »Paradise Lost« (1667)]





Aus dem Noktarium





Auf den Dachterrassen liegend, räkeln sich die Frauen nackt im Mondschein, um sich von ihm bleichen zu lassen.



Nach Mitternacht. Der Rollladen ist hinter dem letzten Gast heruntergerasselt. Die Strassenampel schwankt im Wind; ihr Lichtschein pendelt über den Fussgängerstreifen. In den Pfützen spiegeln sich die Blinklichter wider: rote und grüne Schlieren, die auf dem Asphalt verzittern.

Ein Mann hockt auf dem Rinnstein; er hat den Kopf in den aufgestülpten Kragen seiner Jacke gezogen und lauscht dem Glucksen des Regenwassers, das unter seinen Absätzen durchrinnt. Der Wirt, der hinter ihm seine Kneipe dichtgemacht hat, wirft noch einen Blick durch das Fenster, ehe er den Vorhang zieht.




[»Blue Fruits«, Goedart Palm (2013)]




Betrunkene Seehunde robben sich aus der überschwemmten Tiefgarage; der Bierschaum glitzert in ihren Schnauzhaaren.



Die Fenster des Erdgeschosses sind mit Schaltafeln verbarrikadiert. Der Keller steht unter Wasser. Auf der Treppe liegen die Überreste der Tauben, die sich an den Wänden ihren Kopf eingeschossen haben. Der Aasgeruch, der das Treppenhaus erfüllt, hält den Nachtwächter davon ab, die oberen Stockwerke zu inspizieren. Er begnügt sich damit, den Schein seiner Taschenlampe im Kreis herumschweifen zu lassen.

 

Frauen waten, ihre Röcke schürzend, durch den Morast. Bei jedem Schritt scheppern die Pfannen, die sie auf dem Rücken tragen. Wenn der Zug über den Bahndamm rattert, bleiben sie, von seinem Licht geblendet, stehen und halten den Atem an, bis er vorüber ist. Manch eine von ihnen würde jetzt lieber in einem der Waggons sitzen und, in Erwartung der baldigen Heimkunft, vor sich hin träumen; aber es geht weiter, es geht immer weiter so. Schritt für Schritt ins Ungewisse, scheppernde Pfannen auf dem Rücken.




[»Old TV-Set«, Goedart Palm (2013)]




Traum: In der leeren Bar im 1. Stock des Restaurants Cantina, wo ich nachts, wenn ich in der Altstadt unterwegs bin, jeweils meine Dienstpause zubringe, wurde ich regelmässig von einer Nigerianerin empfangen, die, in der dunklen Garderobennische auf einer Matratze liegend, bereits nackt ausgezogen war, wenn ich erschien, als gälte es, ja keine Zeit zu verlieren; nicht einmal den Kopf hob sie zu meiner Begrüssung; höchstens, dass sie, mein stillschweigendes Einverständnis voraussetzend, wohlig ihre Glieder dehnte, wenn ich den Vorhang zurückschlug… Ich trat an ihr Lager und liess mich seufzend in ihre Arme sinken, zwischen ihre Schenkel, die so schwarz waren wie die Nacht, aus der ich gekommen war.



Gäbe es ein Haus, das ich mein Eigen nennen könnte, so wäre es die Nacht.



Pause in der Personalkantine der NZZ-Redaktion. Ich hatte mich mit der wärmenden Suppe, die mir der Koch geschöpft hatte, in einen stillen Winkel gesetzt. Durch die Fensterscheiben, in denen sich die gedämpften Lampen spiegelten, sah ich die ersten Schneeflocken fallen. Die Fassade des Opernhauses auf der gegenüberliegenden Strassenseite war in ein oranges Licht getaucht. Im Radio, das der Koch hinter dem Buffet eingeschaltet hatte, lief heimwehselige Country-Musik. Mein Gesicht über die dampfende Suppe geneigt, hatte ich mit Löffeln innegehalten; ich schaute und lauschte nur noch.




[»Nocturne for Jûshichigen«, Toshio Hosokawa (1982)]




Sie streckt ihren Arm aus den schweissfeuchten Leintüchern und tastet im Dunkeln nach dem Nachttopf. Mit einem trägen Seitenschwung lässt sie sich aus dem Bett plumpsen. Sie rafft das Nachthemd hoch und verteilt ihre Masse auf dem Topf, den sie sich untergesetzt hat. Kichernd blinzelt sie zwischen den Strähnen, die ihr ins Gesicht hängen, hervor. Die weissen Gestalten, die sich immerzu um ihr Bett drehen, heute sind sie ihr freundlich gesinnt. Sie vermeint in ihnen abwechselnd ihren Vater und ihre Mutter und ihren Grossvater und ihre Grossmutter zu erkennen, und nickt ihnen aufmunternd zu. Dass sie dabei mit den Fingern im Kot, der sich in ihrem Nachttopf aufgehäuft hat, herumstochert, das merkt sie nicht. Sie wäre jetzt ganz zufrieden; wenn sie bloss wüsste, wie sie nun eigentlich heisst: Marianne oder Annemarie? Diese Frage beschäftigt sie seit langem schon.



Traum: Obwohl ich meinen Dienst erst angetreten habe, ist es in der Altstadt bereits stockfinster. Während ich auf der Niederdorfstrasse in Richtung Hirschenplatz gehe, streben die Passanten, von denen ich in der bedrohlichen Dunkelheit nur schemenhafte Gestalten zu erkennen vermag, alle in die Gegenrichtung, als hätten sie Angst, die Strassenbahn zu verpassen… Die Luft wird, je weiter ich gehe, umso stickiger. Aber ich merke erst jetzt, wo die letzten Nachzügler an mir vorüberhasten, dass es inmitten der Altstadt zu einer Katastrophe gekommen sein muss, einem Brand von unabsehbaren Ausmassen, der, eine schwarze Rauchwolke vor sich her schiebend, die Menge in Panik versetzt hat. Hätte ich auf der Stelle kehrtgemacht, um den anderen zu folgen, so wäre ich der drohenden Gefahr vielleicht noch entronnen. Stattdessen gehe ich weiter, hustend und tränenden Auges weiter, geradewegs auf den undurchdringlichen Qualm, der sich zwischen den Häusern heranwälzt, zu, bis er mich verschlungen hat.




[»Nocturnes, op. 9 No. 2«, Frédéric Chopin (1832)]




Es hört und hört nicht auf zu regnen; der Keller steht schon unter Wasser. Schwarze Fledermäuse, durch die Dachluke hereingeschwirrt, liegen zerschmettert auf dem Estrich. Die Glühbirne, die von der Decke hängt, hat im Kreis zu schwingen begonnen. Im Badezimmer kniet brabbelnd ein Mann neben der Wanne, in der – ist es die Möglichkeit? – ein Krokodil sich reckt, von gelben Flechten überzogen… Es ist der Vater, der betrunken von seinem Nachtdienst nachhause gekommen ist.



Link liebte die Nacht. Sobald die Dämmerung anbrach, begann er sich draussen in seinem Element zu fühlen. War er untertags zur Beute seiner Sinneseindrücke geworden, so gehörte er nachts wieder sich selbst. Das Tageslicht hatte ihn, indem es seine Aufmerksamkeit auf die Vielfalt der Dinge lenkte, seiner Innenwelt abspenstig gemacht; aber nun, wo die Dinge in den Schatten zurücktraten, gewann er wieder die Oberhand über sie; es war, als würden seine Sinne sich nunmehr nach innen öffnen.

Nichts förderte seine Verbundenheit mit den Anderen stärker als die nächtliche Einsamkeit. Gerade ihre Abwesenheit vermittelte ihm das Bewusstsein ihrer Gegenwart. Wären sie leibhaftig zugegen gewesen, sie hätten ihm nicht so nahe sein können wie in den einsamen Stunden, die er ihrem Andenken widmete, als wären sie bereits gestorben. Die Schranke, die ihn im Alltag von den Anderen trennte, wurde in der Dunkelheit aufgehoben. Insofern war die Nacht eine Vorwegnahme des Todes, der ihn endgültig mit ihnen verbinden würde.




[»4 Nachtstücke, op. 23«, Robert Schumann (1839)]




Von einer gewissen Stunde an sind auf der Strasse fast nur noch Penner, Säufer, Huren und Junkies anzutreffen. Selbst die sogenannten rechtschaffenen Leute erscheinen in einem schiefen Licht: so begegnet mir der Prokurist, der mir noch vor wenigen Stunden mit einer wichtigtuerischen Gebärde seine Unterschrift ins Rapportbuch gesetzt hat, unversehens in der Gestalt eines der Homos wieder, die ich aus der Bedürfnisanstalt, in welcher sie sich miteinander eingeschlossen haben, hinausweisen muss… Als Nachtwächter sieht man die Welt von einer anderen Seite als diejenigen, die am Tag arbeiten. Die Kategorien, in die sich die Leute sonst einzuteilen pflegen, gelten in der Nacht nicht mehr – am allerwenigsten in der Fastnacht, wo die Unterschiede, die zwischen Klassen, Rassen, Geschlechtern und Nationalitäten bestehen, mutwillig aufgehoben werden. Solange sie in ihren gesellschaftlichen Vorurteilen befangen bleiben, sind die Menschen unerträglich. Was sie miteinander auszusöhnen vermag, ist einzig und allein der anarchische Zug an ihnen, den die Nacht zur Geltung bringt.



Liegenbleiben, wie man vor Stunden, als es noch dämmerte, eingeschlafen ist. Kein Licht anzünden, um die Dunkelheit, die sich in der Zwischenzeit ausgebreitet hat, nicht zu verscheuchen. Reglos liegenbleiben, damit der Bann nicht gelöst wird. Ganz Auge, ganz Ohr sein, gespannt darauf, was man nun, wo kaum noch etwas zu hören und zu sehen ist, wahrnehmen wird. Abwarten, bis das letzte Geräusch verstummt ist, als hätte man ein Lauschen entdeckt, das sich umso mehr lohnt, je weniger es vernimmt.

Ob man endlich einen Blick auf das, was einem sonst immer entgeht, erhascht, wenn die Wände, vom Scheinwerfer des letzten Autos gestreift, das draussen um die Verkehrstafel biegt, wieder in die Dunkelheit zurückgesunken sind? Erst dann, wenn sich nichts mehr zwischen den Blick und die Dunkelheit, nichts mehr zwischen das Gehör und die Stille schiebt, erst dann vielleicht gibt das Geheimnis vollends sich preis.




[»Homage to the School of Barbizon (Nocturne)«, Goedart Palm (2015)]




Der Morgen hat die Hausblöcke in Milch getaucht. In den Fensterscheiben spiegeln sich leuchtende Wolken. Aus dem Hinterhof steigt das Gurren der Tauben, die zwischen den Kontainern die Abfälle verlesen. Schlaftrunken kommt die erste Strassenbahn aus dem Depot geholpert; der Kopf des Wagenführers, der vor Müdigkeit vornübergekippt ist, fällt von einer Seite auf die andere. Auf der Traminsel liegt eine abgehäutete Kuh. Der Strassenkehrer zündet sich eine Zigarette an, bevor er den dampfenden Kadaver mit Sägemehl bestreut. Eine Hausfrau beugt sich im Negligé aus dem Fenster, um den Laden festzumachen; ihre Brüste quellen, vom Schlaf aufgeweicht, über den Saum ihres Unterrocks. Aus dem Hintergrund schellt ihr Wecker.


Mittwoch, 19. März 2025

Z. Z. LV [»Der Tösstaler« von Walter Graf (2025)]

 


[»Le Désespéré«, Gustave Courbet (1843 – 1845)]



Wie lange haben die Hunde den Mond angebellt, ohne dass er sein Schweigen gebrochen hätte.

[Gerhart Hauptmann »Einsichten und Ausblicke. Aphorismen«]




[»Strand«, Gustave Courbet (1863)]



Nirgends rauschen die Laubwälder süßer und erquickender als am kahlen Strand, wo keine sind.

[Gerhart Hauptmann »Einsichten und Ausblicke. Aphorismen«]



Der Tösstaler



Am Vorabend hatte es bei meinem Bruder Erich ein Saufgelage gegeben. Es war so spät geworden, dass seine letzten Gäste bei ihm übernachtet hatten. Während ich im unbenutzten Bett des Kinderzimmers schlief, legte sich Sepp im Wohnzimmer auf den Spannteppich, wo er es sich auch in der darauffolgenden Nacht wieder bequem machen sollte.

An jenem Tag zwischen diesen beiden Nächten trieb ich mich mit Sepp im nahen Scherbenviertel herum. Wir waren, nachdem wir uns notdürftig gekämmt und gewaschen hatten, ohne zu frühstücken zur Bäckeranlage gegangen, wo das Restaurant Schönau bereits geöffnet worden war. Hier befand sich Sepp unter seinesgleichen. Unter lauter Trunkenbolden, von denen jeder schon die eine oder andere Entziehungskur angefangen und abgebrochen hatte. Einer von ihnen, ein hochgewachsener Mann mit schütterem Bart pflanzte sich, auf seine Krücke gestützt, neben unserem Tisch auf und fragte Sepp: «Was war gestern zwischen acht und elf Uhr abends? Mir fehlen drei Stunden!» Von Tisch zu Tisch humpelnd, hoffte er von jedem, den er in der fraglichen Zeit hätte getroffen haben können, Aufschluss zu erhalten.

Wäre ich an diesem Tag alleine unterwegs gewesen, so hätte ich es nie so lange in derselben Kneipe ausgehalten; ich hätte auch niemanden kennengelernt. In der Begleitung von Sepp wurde ich am Stammtisch der Schönau anstandslos aufgenommen, obwohl ich viel jünger war als die übrigen Gäste. Ich nahm zwar kaum an ihrer ohnehin schleppenden Unterhaltung teil, aber ich beobachtete sie aufmerksam. Diese Männer verdienten sich das Geld, das sie hier für Zigaretten und Bier ausgaben, als Gelegenheitsarbeiter. Man sah sie, wenn man mit dem Bus am Güterbahnhof vorbeifuhr, jeweils an der Hohlstrasse stehen, wo sie darauf warteten, von einem der Transportunternehmer abgeholt zu werden, der sie für ein paar Stunden dazu anstellte, sein Frachtgut an einer Rampe ein- oder auszuladen. Sogenannte Schwarzarbeit, für die man bar bezahlt wurde. Sepp schien die meisten von ihnen zu kennen, was jedoch nicht hiess, dass er mit einem von ihnen befreundet war. Jedenfalls schloss sich uns niemand an, als wir gegen Abend in die Räuberhöhle gingen.

Bis dahin dauerte es allerdings noch etliche Stunden, die wir teilweise in einer Art Dämmerzustand verbrachten. Sepp hatte von der letzten Entziehungskur, die er abgebrochen hatte, noch ein Fläschchen Pillen übrig, von denen er sich manchmal eine einwarf, um die Wirkung des Biers zu verstärken, das wir in einem fort tranken. Librium – eigentlich ein Mittel, das Bedürfnis nach Alkohol zu dämpfen. Dank dieses Tranquilizers wurde Sepp wenigstens nicht aggressiv, wenn ihm die Nase von jemandem missfiel. Hatte er sich nicht soeben noch mit jemandem angelegt, der neben ihm sass, einem knapp mittelgrossen Mann, der für einen Säufer noch ziemlich jung war? Strähniges Haar fiel ihm in die tief gefurchte Stirn, über die er dauernd mit der Hand wischte, als wollte er seinen benebelten Kopf freibekommen. Er versuchte sich an den Namen des Westernstars zu erinnern, über dessen Filme er zu reden begonnen hatte. «Audie Murphy?», fragte ich. Offenbar war dies einmal sein Idol gewesen. Sepp, der nur auf eine Gelegenheit gewartet zu haben schien, um ihn herunterzumachen, sagte, das sei doch so ein falscher Hund gewesen wie er; der habe immer Schurken gespielt, ein schmieriger Typ… «Du bist auch so einer, das habe ich dir auf den ersten Blick angesehen.» Ein Geplänkel, aus dem kein handfester Streit wurde, weil der andere sich nicht darauf einliess. Abgesehen davon, dass das Librium zu wirken anfing…

Mir gegenüber sass ein Mann mit dröhnender Stimme, der Konrad hiess. Eine imposante Erscheinung, lehnte er sich weit zurück, um seinem Bauch Platz zu verschaffen. Er hatte langes dunkles Haar und einen grauen Vollbart. Wenn er zu sprechen anhob, verstummten alle um ihn herum. Ihre Blicke hingen gebannt an seinem Mund, dem sich die Worte, die er mit ausholenden Gesten unterstrich, nur widerstrebend entrangen. Sein Gesicht zuckte krampfhaft beim Sprechen, als würde es ihn übermenschliche Anstrengung kosten, einen Satz zu bilden. Aber so sehr er sich auch bemühte, es kam nicht viel dabei heraus; der ganze Aufwand an Mienen und Gebärden war insofern vergeblich, als er einen nicht über die Tatsache hinwegzutäuschen vermochte, dass er kein grosser Redner war. Trotzdem hinterliessen seine Worte einen bleibenden Eindruck, zumindest bei mir. Allerdings ist es hinterher schwer zu sagen, ob sie wirklich die Bedeutung hatten, die ich ihnen beimass.

Wenn Konrad lachte, wabbelte nicht nur sein Bauch, es schüttelte ihn von Kopf bis Fuss. Traf er auf dem Weg zur Toilette mit einem Bekannten von einem der anderen Tische zusammen, so drehte er sich, wenn er ein paar Worte mit ihm wechselte, wie ein Tanzbär um sich selber. Was hatte er eigentlich gesagt, bevor er aufgestanden war? Er hatte, genau genommen, doch blosse Satzfetzen ausgestossen, wie zum Beispiel: «Ich bin ein alter Tösstaler! Ich weiss, wo das Haus meiner Eltern steht… Mehr braucht es ja nicht…» Je länger ich über diese Gedankenbruchstücke nachsann, umso klarer wurde mir, dass ich mich nicht von Konrads Onemanshow hatte blenden lassen; nein, sie ergaben durchaus einen Sinn. In dem Tagebuch, das ich in jener Zeit führte, verglich ich seinen scheinbar sinnlosen Wortschwall sogar mit einem der Kernsätze von Gerhart Hauptmann. Dem Satz, den der Dichter in seinem Drama «Die Weber» einem Lumpensammler in den Mund gelegt hatte: «A jeder Mensch hat halt a Sehnsucht.» Und wo lag das Ziel dieser Sehnsucht, wenn nicht dort, wo man hergekommen war? Zu Hause? Auch wenn alle einen anderen Namen für dieses Ziel hatten, so waren sie sich doch einig darüber, wo sie es finden würden: dort, wo sie herkamen. Für Konrad stand der Name dafür fest; es war der Name seines Geburtsortes in der Ostschweiz. Gewiss war er seit Jahrzehnten nicht mehr dort gewesen, wo sein Elternhaus gestanden hatte. Es wäre ihm in der Zwischenzeit mehr als einmal möglich gewesen, einen Fahrschein nach Winterthur zu lösen und den Ort aufzusuchen, an dem er zur Welt gekommen war. Aber inzwischen wohnten wohl andere Leute in dem Haus, sofern es überhaupt noch stand. Er war seiner Heimat näher, wenn er sie so in Erinnerung behielt, wie sie früher gewesen war. Am nächsten fühlte er sich ihr vielleicht, wenn er abends, in sich selbst versunken, vor der letzten Flasche sass und an seinem Stumpen sog, ohne zu wissen, ob er sich nun in dieser oder in jener Kneipe befand, in der Räuberhöhle, im Werkhof oder in der Schönau.

Schon jetzt sank dem einen und dem anderen der Trinker das Kinn auf die Brust; vergeblich gegen den Schlaf ankämpfend, gaben sie es schliesslich auf und legten die Wange auf ihre Arme, die sie auf dem Tisch verschränkt hatten, um ein Nickerchen zu machen. Erst mittags, als einige Arbeiter aus der Kälte hereinkamen und sich von der Kellnerin die Speisekarte reichen liessen, wurden sie wieder munter. Auch ich bestellte mir ein Menü; wusste ich doch, dass man mit leerem Magen nicht viel vertrug. Wie Sepp es hielt, weiss ich nicht mehr. Nach dem Essen rief ich in der Telefonkabine Marianne an, die einen der Tage hatte, an denen sie im Bett blieb. Dass ich an einem solchen Tag nichts von mir hören liess, ging nicht an; schliesslich wusste man nie, ob sie überhaupt noch lebte; man musste jeweils mit allem rechnen. Ich sagte ihr, ich hätte bei Erich übernachtet, würde aber heute Abend wieder nachhause kommen. Bis dahin sollte ich mit Sepp noch ein paar weitere Lokale abklappern.

Gegen Abend landeten wir, wie hätte es auch anders sein können, in der Räuberhöhle. Aus der Dunkelheit kommend, blendete uns das elektrische Licht in der vollen Gaststube. Wir setzten uns nach hinten und schauten uns um. Sepp nannte mir die Namen einzelner Gäste, die mir auffielen, und konnte mir über jeden von ihnen etwas erzählen – Einzelheiten, die ich später literarisch zu verarbeiten gedachte. Diese Spelunke, die eigentlich Tessinerkeller hiess, wurde nicht umsonst Räuberhöhle genannt. Manchmal mischte sich ein Zivilpolizist unter die Gäste, der einem mutmasslichen Straftäter auf den Fersen war. Ein junger Bursche, der nicht so aussah, als würde er auf der Fahndungsliste der Kripo stehen, aufgeregt, die Haare zerzaust, trat an unseren Tisch und nahm, kaum war ein Stuhl frei geworden, Platz. Er schien ein dringendes Anliegen zu haben, mit dem er sich nicht an jeden gewandt hätte. Nachdem er ein Fläschchen Coca Cola bestellt hatte, rückte er mit der Sprache heraus. Er brauchte noch heute einen Ersatz für den Führerschein, der ihm für einstweilen entzogen worden war. Gewohnt, am Freitagabend auf der Autobahn mit Vollgas drauflos zu fahren, litt er an Entzugserscheinungen. Ein Raser…

Da war er bei uns gerade an die Rechten geraten, wo wir doch beide noch nie ein Fahrzeug gelenkt hatten. So sehr es uns ehren mochte, dass er uns ins Vertrauen gezogen hatte, wir konnten ihm nicht helfen. Sepp unternahm immerhin den Versuch, ihn von seiner fatalen Sucht abzubringen, indem er ihm empfahl, zu saufen statt zu rasen. «Du bist ein Alkoholiker, du hast es nur noch nicht gemerkt. Du bist wie ein Vergifteter hinter etwas her und glaubst, du hättest es beim schnellen Autofahren gefunden. Damit gefährdest du nicht nur dein eigenes Leben, sondern auch das der anderen Verkehrsteilnehmer. Du meinst, es sei die Geschwindigkeit, was du brauchst, dabei ist es der Alkohol. Probier es nur mal aus», sagte er und hielt ihm herausfordernd sein Glas hin, «dann siehst du es selbst.» Der Junge schüttelte unbeirrbar seinen Kopf. Vielleicht würde er eines Tages, falls er nicht vorher tödlich verunglückte, noch einsehen, dass Sepp recht gehabt hatte. So dachten wir für uns.

Man konnte über Sepp Koller sagen, was man wollte, eines musste man ihm doch lassen: Er hatte in all den Entziehungskuren, die er abgebrochen hatte, gelernt, dass die Sucht einem nur als Ersatz für etwas anderes diente. Etwas, für das auch Sex womöglich nur ein Ersatz war.


Mittwoch, 19. Februar 2025

Bzw. ۲ ۷ ۲ [»Dawn«: Three poems by Boris Greff (in German and English language)]

 


σούρουπο«, Lorena Kirk-Giannoulis]



Not knowing when the Dawn will come,

I open every Door,

Or has it Feathers, like a Bird,

Or Billows, like a Shore—

[Emily Dickinson (1896)]




[»Dawn's Early Vengeance«, Trevor Dunn's Trio-Convulsant (2004)]




Dämmerung


In prachtvollen Farben leuchten

Pfauenfedern bis in ferne Ecken;

wie verblassen sie jedoch

gegen das Schneefeuer

im Gefieder weißer Schwäne.

Gefallene Masken

bringen keine Enthüllung;

das zarte Gesicht dahinter

bleibt auch offen ein Mysterium

deine perlmuttfarbene Haut

ist selbst unverhüllt nicht nackt

sie ist eine dünne Schicht

zwischen Hier und Himmel

die über das Fleisch hinausgeht

wenn die blanke Seele hervortritt

erzeugt sie eine Stichflamme

die um sich herum alles verbrennt

was sich nicht schmieden lässt zu Liebe

in den Hammerschlägen der Zeit.





σούρουπο II«, Lorena Kirk-Giannoulis]




DAWN


Peacock feathers in magnificent colors

bathe in light even distant corners;

but how pale are they

against the snowy fire

in the plumage of white swans.

Fallen masks

bring no revelation;

the delicate face behind them

still remains a mystery.

Your nacre-coloured skin

is even uncovered not naked;

it is a thin layer

between here and heaven

that goes far beyond the flesh.

When the pure soul emerges

it creates an explosive flame

that burns everything around it

unless it can be forged into love

by the hammer blows of time.





[»New Dawn Fades«, Joy Division (1979)]




05.00 A.M.


Sanfter als das Mondlicht

schimmert deine Haut

gezähmte Sonnen

hältst du am Zügel

Du verkörperst deine Seele

Harmonie in Vollendung

deine Drehungen, in denen

Yin und Yang

sich in einem Wirbel

scheu beinahe berühren

deine Bewegungen

gebieten dem Drachen der Ewigkeit

der Sternstaub atmet

andächtig sieht er dir zu

während er mit einem Herzschlag

den Ozean leerpeitscht

und mit seinem eigenen Feueratem

die Tränen seiner Sehnsucht einschmilzt

denn dein Tanz

ist größer als du

ist größer als er

denn Harmonie in Vollendung

ist Beginn und Ende

aller Zeit und allen Seins.





[»Before The Dawn«, Patrice Rushen (1975)]




05.00 A.M.


your skin shimmers

more softly than the moonlight

you are holding in your hands

the reins of the suns you tamed

You embody your own soul

harmony in perfection

in your subtle spirals

Yin and Yang quite shyly

almost touch each other

your movements

rule over the dragon of eternity

who breathes stardust

he watches you reverently

while he lashes with one heartbeat

the ocean empty

while he melts with his own fiery breath

the tears of his endless yearning

for your dance

is bigger than you

is bigger than him

because harmony in perfection

is the beginning and the end

of all time and all existence.





[»Farewell Again (Another Dawn)«, Kevin Ayers (1975)]




SOMMERMOMENT


Sternnebel, bunt wie

Schmetterlingsflügel

Die Sonne verbrennt

selbst leise Laute: Tempelstille.

Schließ die brennenden Augen

das Dunkel deiner Lider

wird zum Bildschirm deines Inneren;

gezeitenlos ruht

der goldbedeckte Seelengrund;

in Wimpernschlägen wehen,

weich wie violette Anemonen,

sachte Empfindungen,

Herzblutdiamanten.

Aus verborgenen Tiefen

steigt drachenalte Heilung;

Magma in schwebenden Blasen

Unsterbliche wissen

und fürchten nie.





[»Hello Dawn«, Steve Hillage (1977)]




SUMMER MOMENT


Star nebula, colorful like

butterfly wings;

The sun is melting

even quiet sounds: temple silence.

Close your burning eyes

the darkness of your eyelids

becomes the screen of your inner self;

the gold-covered ground of the soul

rests without tides;

in the beat of your eyelashes

dance softly like violet anemones,

gentle sensations,

deeply felt heart diamonds.

From hidden depths

rises healing, ancient as a dragon;

Magma rising in floating bubbles.

Immortals know

and never fear.