[Goedart Palm »The Love For Three Apples« (2015)]
Souvenirs ou regrets, espérance ou désir, avenir et passé se taisaient; je ne connaissais plus de la vie que ce qu'en apportait, en emportait l'instant. [André Gide »L'Immoraliste« (1902)]
[Goedart Palm »Rosenstudie« (2017)]
Der Einschnitt
Schon als Kind wurde ich nachts von Albträumen heimgesucht. Das erste Mal, an das ich mich erinnern kann, in jenem Sommer, als ich ein paar Wochen bei Tante Rosa in Bern verbringen durfte. Noch ging ich damals nicht zur Schule.
Es war an dem Abend, als ich von meiner Tante vorzeitig ins Bett geschickt wurde, weil ich mich nach ihrer Siedfleischsuppe, auf die sie so stolz gewesen war, hatte übergeben müssen. Mir schien, als hätte sie mich für meinen Widerwillen gegen die Fettaugen, die in meinem Teller schwammen, bestrafen wollen; hatte sie dabei doch eine gehässige Bemerkung fallen lassen: „Deine Mutter kocht wohl immer nur Fertigsüppchen?“ Jedenfalls war sie so verstimmt, dass sie es ihrem Mann, Onkel Edwin, überliess, mir, um meinen Magen zu beschwichtigen, ein halbes Glas Cognac zu bringen. Ich erinnere mich, wie ich das honigfarbene Getränk tapfer, als wäre es eine Medizin, in kleinen Schlucken zu mir nahm. Mein Onkel, der es sicherlich gut mit mir gemeint hatte, war weit entfernt davon zu ahnen, was er damit heraufbeschwören sollte.
Von den Eindrücken des vergangenen Tages beunruhigt, konnte ich lange nicht einschlafen. Am Vormittag hatte ich zum ersten Mal versucht, meinen Namen zu schreiben. Unter der Anleitung meiner Tante, die es wohl für eine Zeitverschwendung hielt, bloss zum Vergnügen zu zeichnen, gelang es mir, die Buchstaben, aus denen mein Name bestand, in der richtigen Reihenfolge aufs Papier zu bringen. Als ich ihr das Ergebnis zeigte, lobte sie mich nicht, wie ich erwartet hätte, sondern fuhr mich kopfschüttelnd an, als wäre mir ein unverzeihlicher Fehler unterlaufen. Die Buchstaben, die ich aneinandergereiht hatte, stimmten zwar, aber sie schauten in die falsche Richtung. Es stellte sich heraus, dass ich Linkshänder war. Eine Entdeckung, auf die meine Tante so reagierte, als wäre dies das Zeichen einer geistigen Behinderung. Ich liess mich jedoch nicht von ihr entmutigen, ich wiederholte die Übung, bis das Ergebnis ihren Anweisungen gemäss ausfiel. Mein Zeichenblatt triumphierend in der Hand schwenkend, lief ich ihr in den Gang nach, wo sie in diesem Moment die Türe zum Badezimmer aufstiess, so dass ich einen Blick auf Onkel Edwin erhaschte, der sie aus der Badewanne anlachte, als hätte er nur auf sie gewartet.
Je dunkler es im Kinderzimmer wurde, umso deutlicher sah ich den nackten Mann wieder vor mir. Er lag im dampfenden Wasser und stiess sich im selben Augenblick, in dem seine Frau eintrat, mit einem Hüftschwung ab, um die Schaumdecke mit seinem lotrecht abstehenden Glied zu durchbrechen. Eine weisse Stange aus Fleisch. Tante Rosa kreischte auf und schlug mir die Tür vor der Nase zu.
Das Bild des männlichen Geschlechtsteils ging mir nach. Ich fragte mich, ob ich das, was meine Tante dermassen beeindruckt hatte, nicht auch hinkriegen würde. Sogar Onkel Edwin, der im Vergleich zu mir ein Riese war, hatte einmal klein angefangen. Ich machte mir also unter der Decke an meinem Zipfelchen zu schaffen, bis es sich zu regen begann. Nahm es auch nicht gerade eine solche Dimension an wie bei meinem Onkel, so handelte es sich bei dem, was ich zuwege brachte, im Prinzip doch um das Gleiche. Die Entdeckung, die ich damit machte, erfüllte mich mit Stolz; es war mir jedoch bewusst, dass ich sie vor den Erwachsenen geheim halten musste. Um seine Erregung aufrechtzuerhalten, liess ich die Hände nicht mehr von meinem Glied, bis die letzten Lichter und Laute um mich herum erstorben waren. Die Stille und die Finsternis, die als einziges zurückgeblieben waren, gemahnten mich daran, dass ich endlich hätte schlafen sollen.
Überreizt und übermüdet zugleich, begann ich schon zu träumen, bevor ich eingeschlafen war. Ich sah mich in einem Gewühl von Menschen, die aufgeregt durcheinanderredeten. Wetterleuchten am Horizont. Man führte mich zu einem Rollstuhl, um den sich die Menschenmenge gelichtet hatte. Von hinten sah ich zunächst nur die bucklige Gestalt einer Hexe, deren Kopftuch unter dem Kinn verknotet war. Als sie sich samt ihrem Rollstuhl umwandte, erkannte ich mit Schrecken meine Mutter in ihr - mit Schrecken, weil ich sie ganz anders in Erinnerung gehabt hatte. Sie hatte ein feistes Gesicht, in dem sich der zuckende Feuerschein der Fackeln, die ihre Schergen trugen, widerspiegelte. Die Hand hebend, wies sie mit ihrem gichtigen Zeigefinger auf den Scheiterhaufen, der auf dem Platz errichtet worden war, und sagte mit verkniffenem Mund: „Du wirst verbrannt!“ Schon stoben die Funken von den ersten Flammen auf, als ich von beiden Seiten gepackt wurde. Schwarzer Qualm, Lärm und Gestank… Den unerbittlichen Urteilsspruch meiner Mutter noch im Ohr, schüttelte ich mich im Bett, um den Albdruck loszuwerden.
Nun vermochte ich erst recht nicht mehr einzuschlafen. Was konnte: „Du wirst verbrannt!“ denn anderes bedeuten als: „Du kommst in die Hölle!“? Kam dies nicht einem Verdammungsurteil gleich - umso mehr, als es von meiner Mutter ausgesprochen worden war, die mich, soweit ich mich zurückerinnern konnte, doch geliebt hatte. Was immer in dieser Nacht mit mir geschehen war, ich hatte danach das unabweisbare Gefühl, nicht mehr derselbe zu sein wie davor. Es war, als würde ich fortan die Last eines Fluches mit mir herumschleppen - eines Bannfluchs, der mich aus dem Kreis der anderen verstiess.
Als ich am darauffolgenden Morgen aus dem Zimmer trat, sah ich gerade noch, wie Onkel Edwin seiner Frau statt des Kusses, mit dem er sich sonst von ihr zu verabschieden pflegte, eine Ohrfeige gab, bevor er das Haus verliess. Ob sie sich meinetwegen gestritten hatten, weil Tante Rosa mich am Vorabend dazu hatte zwingen wollen, ihre mastige Siedfleischsuppe aufzuessen? Wie dem auch sein mochte, ich konnte mir die Genugtuung, die ich insgeheim empfand, nicht verhehlen.