»Erst im Zeichen der drohenden Niederlage sah sich selbst Göring gezwungen, die private Beutejagd nicht länger zu begünstigen. Am 15. Mai 1944 entschloss er sich – auf Druck des Finanz- und des Ernährungsministeriums – zum Verbot der privaten »Einfuhr von Mehl, Fett und Fleisch aus den besetzten Gebieten«. Wirksam wurde die Anweisung nie, und zwar aus Furcht vor Volkes Laune.
Im Oktober vermerkte das Reichsfinanzministerium, infolge der veränderten militärischen Lage seien »die Ausführungsbestimmungen zu dem Verbotserlass nicht in Kraft getreten«. Wer die Feldpostbriefe Bölls als historische Quelle liest, spürt darin zwischen den Zeilen auch die Konflikte zwischen besatzungspolitischer Minimalvernunft und dem von Hitler und Göring immer wieder animierten Kahlfraß.
[116. Panzer-Division]
Die Klimaaggregate sorgten für eine angenehm kühle Temperatur und optimale Luftfeuchtigkeit auf der Intensivstation. Der alte Mann mit dem eingefallenen, aschfahlen Gesicht wurde rhythmisch beatmet – die Lebensmaschine, an der er seit einigen Tagen mit Drähten und Schläuchen angeschlossen auf das Ende des Lieds wartete, das ihm die Herzlungenmaschine leise in die Eingeweide summte.
Petra Nolte hob den Blick von dem mit Ruß, Kettenfett und Schweiß imprägniertem Überzug der Kladde. „Hättest nicht gedacht, dass ich sowas weiß.“ – Die fünfzehnjährige Enkelin des Kriegsveterans der 116. Panzer-Division war entschlossen Journalistin zu werden. Als sie das Kriegstagebuch ihres Großvaters Paul Nolte in einer Kiste mit allem möglichen Krimskrams und Opas Stiefeln und Schützenuniform der St. Sebastianus Schützenbruderschaft e.V. im Keller fand, beschloss sie, eine fiktive Reportage – eine Art Zeitreise an die Front in den 2. Weltkrieg - zu machen. Opa öffnete langsam die Augen.
„Ich gehöre mir selbst – Ngaya. Wusstest du, dass die Aborigines über 50 Dialekte kennen? Ngaya heißt in einem dieser Dialekte das SELBST – nicht ich! Da staunst du, ne, Opa?“
Paul Noltes Augen blieben an einem Punkt knapp über Petras Kopf festgenagelt. „Was hast du da?“ – sein Zeigefinger regte sich, als wollte er auf etwas hinweisen. Die Schläuche ließen ihm nur Restkraft für ein Zucken, dass Petra leicht übersehen konnte.
„Warte Opa! Rafael sagt, dass das gängige Modell von Bewusstsein und Intelligenz völlig falsch sei. Das Gehirn sei eigentlich wie eine Holoplatte und alles, was jemals das Gehirn erreicht, bleibt als Engramm erhalten, es verschwindet nicht, weil in dem Gehirn alles mit jedem Eindruck wirklich räumlich und funktional für immer verändert wird – und nicht umsonst heißt es Ein-Druck!“
Opas Blick und wachsgewichstes Gesicht regte sich nicht.
„Jo sagt, dass es typisch ist, dass die Menschen es als so selbstverständlich erachten, etwas dreidimensional zu sehen, darüber zu reden, nachzudenken, sich darin zu bewegen. Niemand scheint sich fragen zu wollen, wie das sein kann, wo und wie dieses Bild entsteht. Wenn das Gehirn so funktionieren würde, wie es die Hirnforscher meinen, dann müsste es einen Ort, einen Raum geben wo die Welt aufgeführt wird und wir sie sehen können.
Opa drehte seinen glasigen Blick wieder zu dem Mädchen an seinem Bett. Sein inneres Auge suchte nach einem Namen in dem von Schnaps und Bier zerfressenen Schutt und Chaos seines Gedächtnisses.
„Es gibt aber im Schädel keine Leinwand, sagt Rafael. Im Grunde produzieren alle Gehirne aus dem Strom an Eindrücken über die Sinneskanäle eine innere Ordnung, die beim Menschen aufgrund der evolutionsbedingten Erhaltung optisch und akustisch – also als Bild- und Tonspur priorisiert ist. Es gibt kein Kopfkino, in dem die Welt aufgeführt wird.“
„Wer bist Du?“, kratzte sich die Botschaft in Petras Bewusstsein. „Opa – erkennst Du mich nicht mehr?“
Menschenspuren
Eines Tages fand ich die Glaskugel – ein Aquarium - auf dem Tisch. Ein Goldfisch schwamm in seiner Welt mit einem Durchmesser von 21 cm wie in Trance hin und her. Gelegentlich schauen wir uns an.
Ich sollte das Zimmer doch genauer beschreiben. Neben dem Tisch öden sich zwei Besucherstühle an – bis … Okay – da komme ich gleich darauf.
Rechts vom Tisch, ein weißer Schrank. Mit einer Spiegeltür. Links vom Tisch, ein Servierwagen, mit allerlei Klimbim darauf. In der Ecke steht ein Mülleimer mit einer glänzenden Schwenkklappe – „Push“ steht darauf. Gegenüber vom Fenster, die Tür und dazwischen mein Bett, Maschinen, Apparate mit Schläuchen verbunden. Und mit mir.
Irgendwann, vor zwei Jahren, geschah etwas Unheimliches. Das Aquarium blähte sich auf, bis seine Wände das Zimmer vollständig ausgefüllt haben und der Goldfisch … Tja, der blieb auf dem Tisch in seiner Glaskugel – das ist echt unheimlich! Jetzt war es als wäre ich in dem gerade entstandenen großen Aquarium und der Goldfisch blieb in seinem auf dem Tisch. Was dann passierte ist eine unheimliche Geschichte. Neugierig?
Okay – ich erzähle mal die Kurzfassung.
Durch die Veränderung tauchten plötzlich Menschen in meinem Zimmer auf. Sie schienen, mich nicht zu bemerken.
Jo Dijkstra zum Beispiel. Er zog einen Rollkoffer hinter sich her, schaute in die Luft, blieb kurz stehen, als würde er die Anzeigetafel an einem Bahnhof oder Flughafen lesen, dann ging er weiter verblasste und verschwand. Merkwürdig war, dass dieser kurze Augenblick seiner Anwesenheit reichte, damit ich alles über ihn erfahren konnte. Fast alles. Zum Beispiel, dass er Professor für Astrophysik an der Stanford University und Solarforscher im Auftrag der US-Navy ist. Sein jüngerer Bruder Willem studiert Mathematik an der Uni Wuppertal und ist Aktivist in einer militanten Umweltschutzorganisation. Jo arbeitete an einem Geheimprojekt der US-Navy. Ihr tätowiert Gaias Haut in Alaskas Ionosphäre mit ultrastarken EM-Strahlen, warf ihm Willem vor. Willem ist Stormchaser und sammelt Daten und Fakten über Veränderungen des Klimas – seine Entdeckungen stellen die CO2-Klimawandeltheorie infrage. Die Dijkstra Brüder kennen sich mit dem Thema wirklich aus. Eine mathematische Formel beschäftigt die Brüder. Nachdem Willem die Formel eine ganze Weile liegengelassen hat, erkennt er, dass wenn sie in falsche Hände gerät, dann wie eine Atombombe alle globalen Informationssysteme lahmlegen würde. Er versucht Jo zu alarmieren. Aber Jo versagt im entscheidenden Moment und bringt Willem in eine ausweglose Situation.
Jo will die Wahrheit erfahren und kommt nach Deutschland zurück, lässt sich von einem Konsortium von Konzernen zur Fälschung einer Klima-Studie anheuern, um dort Anhaltspunkte zu finden. Der Investment Manager und Bildhauer Gerd Rodenkamp hilft ihm dabei, mietet für das Vorhaben in Neuss-Holzheim auf der Raketenstation Räume und Bunker an.
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