Freitag, 20. August 2021

Z. Z. XXII [»Verwegene Segenswege V (2071 – 2.1)«]

 


[»Sisyphus's Victory«, Lorena Kirk-Giannoulis (2021)]


The days that pass, which turn into the time that passes, are neither lovely nor hideous, but always the same. Perhaps it rains for a few seconds sometimes, or the four-o'clock sun holds time back for a few minutes like rearing horses. Perhaps the past doesn't always preserve the beautiful order that clocks give to the present, and perhaps the future is rushing up in disorder, each moment tripping over itself, to be the first to slice itself up. And perhaps there is a charm or horror, grace or abjection, in the convulsive movements of what is going to be and of what has been. But Valentin had never taken any pleasure in these suppositions. He still didn't know enough about the subject. He wanted to be content with an identity nicely chopped into pieces of varying lengths, but whose character was always similar, without dyeing it in autumnal colours, drenching it in April showers or mottling it with the instability of clouds. [Raymond Queneau »The Sunday of Life« (1951)]



[»Window and Door«, Lorena Kirk-Giannoulis (2021)]


When you have a past, Vovonne, you'll realize what an odd thing it is. In the first place, there's whole chunks of it that have caved in: absolutely nothing left. Elsewhere, there's weeds that've grown haphazard, and you can't recognize anything there either. And then there's places that you think are so beautiful that you give them a fresh coat of paint every year, sometimes in one color, sometimes in another, and they end up not looking in the least like what they were. Not counting the things we thought very simple and unmysterious when they happened, but which years later we discover aren't so obvious, like sometimes you pass a thing every day and don't notice it and then all of a sudden you see it. [Raymond Queneau »Pierrot Mon Ami« (1942)]




Die Denunzianten (Der Erzählung Episode in der Anstalt)


Es musste sich bei Roswitha um eine Art Selbsthypnose handeln. Sie saß auf der Bahre, die die Sanitäter aus dem Haus rollten, im rechten Winkel wie aufgeklappt und bretthart. Gute Worte schon gar nicht, aber auch nicht sanfte Gewalt hatten vermocht sie in Liegeposition zu kriegen. So hatte man sie eben bloß an den Beinen angeschnallt und wie sie bei dem Gerumpel über Haustürschwelle und gepflasterten Weg zur Gartentür nicht umkippen sollte, war den beiden vom Rettungsdienst ein Rätsel. Hypnotiseure, das hatten sie im Fernsehen gesehen, bekamen so etwas hin, zum Beispiel die junge Frau aus dem Publikum, die bloß mit Kopf und Füßen jeweils auf einem Stuhl ausgestreckt dalag. Man konnte sogar noch etwas auf sie daraufpacken. Hatte sich am Ende die Assistentin des Hypnotiseurs auf sie draufgesetzt? Das hatten sie beide vergessen. Sie plauderten durch das aufgeschobene Fenster der Zwischenwand des Wagens hindurch.

Roswitha würde die ganze Fahrt über in dieser Position dasitzen, ein Monument des Starrsinns. In der Klinik waren sie noch ganz anderes gewöhnt und würden auch dieses Mal mit ihr fertig werden. Sie hatten da ihre Kniffe, über die aber niemand so genau Bescheid wusste. Wenn der Hinzberger sie hypnotisiert hatte, dann wusste der auch das verabredete Zeichen, mit dem sie aufzuwecken war. Der kam aber erst zu Besuch ins Krankenhaus, wenn Roswitha wieder normal und bloß noch zur Beobachtung war.

Manchmal waren die Hinzbergers aber auch gleichzeitig als Patienten in der Klinik und bereiteten dem Personal gehörig Kopfzerbrechen. Von der normalen Routine wollte man und konnte man auch schon aus organisatorischen Gründen keine Ausnahmen machen, bloß weil es sich bei zweien der Patienten zufällig um ein Ehepaar handelte. Auch glaubten die Mediziner an die Objektivität ihrer Vorgehensweise und letztlich gab der Erfolg ihnen ja auch recht.

Erfolgreich waren sie bei den Hinzbergers, wenn auch jeweils nur vorübergehend, da gab es keinen Zweifel. Anfangs aber stellten sie die Morgenrunde gewaltig auf den Kopf. Hinzberger fixierte Roswitha mit zusammengekniffenen Augen und dröhnte eins übers andere Mal zu ihr im Stuhlkreis gegenüber: "Alte Drecksau!" Ein solches Verhalten verstieß gegen die allgemeinen Regeln und durfte nicht unwidersprochen durchgehen gelassen werden. Die Therapeutin versuchte es mit einem relativierenden Eingriff. Das würde Herr Hinzberger sicherlich nicht so meinen und so weiter. Der aber wandte sich jetzt ihr zu, wobei sein Blick weiter starr und zusammengekniffen blieb. "Und ob, die alte Drecksau!", dröhnte er, worauf eine allgemeine Unruhe entstand, manche sich auch von den Plätzen erhoben und erst nach und nach von den Schwestern wieder dazu gebracht werden konnten, sich auf die Stühle zu setzen. Mit Mühe und Not war die Ordnung wieder hergestellt und Ruhe eingekehrt. Herr Hinzberger, der dies alles auf seinem Platz abgewartet hatte, erhob sich, und indem er sich vor der Runde verneigte, sprach er, dröhnend wie zuvor, aber in vollendeter Würde: "Danke!" Daraufhin wandte er sich um und schritt ebenso würdevoll aus dem Saal. Roswitha blickte ihm nach, wie er ordentlich die Tür öffnete und sorgfältig hinter sich schloss.


* * *


"Frau Doktor", Hinzberger war der Psychologin, die den Morgenkreis geleitet hatte, auf dem Flur entgegengetreten und sprach mit sonorer Stimme, "ich verbiete Ihnen in diesem Ton zu meiner Frau zu sprechen!" Ohne eine Entgegnung abzuwarten machte er kehrt und war in einen Quergang einbiegend in der nächsten Sekunde auch schon aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden. Es wollte ihr gewissermaßen die Spucke wegbleiben, etwas in ihr sagte aber, auf seine vertrackte Art mache das Verhalten Hinzbergers sogar Sinn. Sie war bloß froh, dass sie diesen Gedanken mit sich selber abmachen durfte und niemandem darüber Rechenschaft ablegen musste. Die meisten Fälle, die sie hier hatten, waren einigermaßen bizarr. Natürlich wäre es völlig unprofessionell gewesen, sich von Hinzberger angegriffen zu fühlen. Wenn es denn bei einer solchen flüchtigen Konfrontation blieb!
Schwieriger gestalteten sich Auseinandersetzungen darüber, wann eine Maßnahme als beendet zu gelten hatte, sprich, wenn es darum ging, dass Hinzberger als "geheilt" entlassen werden wollte. Ärztliche Stellungnahmen hierzu stellte er grundsätzlich in Frage, entwarf seitenlange Gegendarstellungen, von denen er verlangte, sie müssten als den ärztlichen gleichrangige der Krankenakte beigefügt werden. Tatsächlich wurden die Schreiben durchaus archiviert, wenn auch in anderem Sinne, was man Hinzberger nicht unbedingt unter die Nase zu binden brauchte, obwohl die Leiterin sehr auf strikte Transparenz bedacht war. Unter den Rängen, die tatsächlich tagein, tagaus mit den Patienten zu tun hatten, dachte man über diesen Punkt begreiflicherweise etwas schlichter.


* * *


Den Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik gestalteten die Hinzbergers in der Art mehr oder weniger ausgedehnter Urlaube. So sah man Herrn Hinzberger, sobald der erste Sonnenstrahl am Himmel erschien, in kurzen Hosen, mit Strohhut und Sonnenbrille. Er saß den lieben langen Tag unter seinem Sonnenschirm, den er von zu Hause mitgebracht hatte, in seinem Korbsessel auf Roswithas Balkon. Der ging, anders als sein eigener, genau auf den Platz vor dem Haupteingang und bot somit einen vollständigen Überblick über das Kommen und Gehen im Krankenhaus. Die gebräunten Beine übereinandergeschlagen in weißen Socken und Sandalen hörte man ihn sprechen, so dass man erschrak und verwirrt antworten wollte, bis man verstand, dass er telefonierte. Oder aber er sprach ohne den Kopf zu wenden durch die offene Balkontür zu Roswitha, die dort im Zimmer lag. Manchmal saß sie auch auf einem Schemelchen ihm zur Seite und las in einem Buch. Wer ihn kannte und an ihm vorübermusste, wusste nicht, ob er einen hinter seinen großen schwarzen Sonnengläsern anschaute. Sollte man also grüßen, gleich, oder später einmal, oder gar jedes Mal? Zuweilen sang er, nicht aufdringlich, aber ganz unbefangen: Alle Vögel sind schon da, Ein Heller und ein Batzen usw. Die meiste Zeit aber saß er einfach da, auf seinem Söller, das Gesicht der Sonne zugewandt, Sonne tankend, ein Urlauber im Italien der fünfziger und sechziger Jahre. [B. Karl Decker]




[»Door«, Lorena Kirk-Giannoulis (2021)]



2071 (#32 - 45)


#32 Alice Cooper „Desperado“

Etwas wie Gewöhnliches aber auch war ein bloßes Doppelleben! Welche überspannte Schizophrenie! Wenn sich etwas Eindeutiges dem einen Leben nicht abringen ließ, das zu leben einem nun einmal nur gegeben war, dann durfte es nicht auf erbärmliche Zweideutigkeiten hinauslaufen, schäbige Alternative des schmutzigen Lügners! Nein, siebenfach hatte der Betrug zu sein, denn sieben waren die Leben des Katers, sieben nicht auf einen Streich, Schneiderlein, sieben zur selben Zeit! Schnurrende Katzen allesamt, eine der anderen ihren Wahn gönnend, dafür aber umso überzeugter, sie sei und könne nichts anderes als die Einzige sein. Ha, Kater Karlo war in der Stadt!


#33 Mountain „Flowers Of Evil“

Nicht die Fratze Mephistos, Gastfreundschaft und Güte zeichnen seine Züge. Man begegnet ihm auf Empfängen, in Komitees für Wohltätigkeitsorganisationen, Sportethik oder Ernährung, lobt seinen Pioniergeist, sein Outfit und seinen Lifestyle. Er sehe aus wie ein Mann mittleren Alters, stets gepflegt, kerngesund, kosmopolitisch und kultiviert, sei aber schon in den großen Gefechten vergangener Epochen in Erscheinung getreten. Er sei derjenige gewesen, der aus Tierknochen das erste Blasinstrument geschnitzt habe; er sei der Grund für die Unruhe und Schlaflosigkeit Goldbergs, das Ohrensausen Schumanns, die Taubheit Beethovens, den Größenwahn Wagners. Er ist kein Mann der Tat, ist Schicksal, Zufall und Gesetz. Mütter fürchten ihn.


#34 The Kinks „20th Century Man“

"Was zum Teufel klimperst du da?" Das war gar nicht mal böse gemeint, höchstens ärgerlich, weil Ray auf Sachen kam, die David immer nur als den kleinen Bruder aussehen ließen. Wenn bloß nicht alles so latschig wäre bei ihm! "Zeig mal her!", und er ratterte die zwei, drei wirklich genialen Akkorde runter, dass einem Hören und Sehen verging. Es war aber auch zum Mäusemelken, wenn dein Bruder ein Philosoph war!


#35 David Bowie „Eight Line Poem“

"Aaaaaachtung, Achtzeiler: stillgstandnnnn!" - "Neun?" - "Rrrrrrruhe im Glied!" Der Hauptfeld reckte sich kaktierlich auf seiner Fensterbank. "Prrrrrräsentiert ... !" Polly hob kaum ihren Kopf von den Pfoten. "Ein kleiner grüner Kaktus, tralleri, tralleri, trallera ..., Bösewicht, Wicht, Wicht, Wicht!" Gelassen drehte sich das Mobile im Luftzug dem Kaktus in die Quere. "Ignorieieierrrrrrt!" Das Kommando war dem Kaktus spontan eingefallen. War nicht Deeskalation heute auch eine militärische Taktik? Mochten die Kollegen im Schatten des Blumenladens warten! Ja, wer wie er eine Stelle hatte, der strahlte im Licht des großen Himmelsgenerals. Welche Strahlen! Was für Stacheln! "Die Augeeeeeennnnn ... !"


#36 Gentle Giant „The Moon Is Down“

Kaum dass der Streifenpolizist Tolja Dmitriev aus Archangelsk nicht unweit einer Lichtung, etwa fünfzig Kilometer südöstlich des Flughafens Talagi, die Augen aufgeschlagen hatte, wusste er, um was es sich handelte. Er war im Begriff, sich aus dem Zustand einer Puppe in den eines gewissermaßen höheren Wesens zu transsubstantiieren. Zwar würde er fortan den Mond nicht mehr in seinen wechselnden Lichtgestalten erkennen können wie zuvor, doch erschlossen sich ihm nun, profanen Blicken entzogen, die Umrisse eines Kavalleristen in der Röte des Morgenhimmels, den er als erhabenen und rechtschaffenen Befreier eines von Sünden verdunkelten Herzens identifizierte, würde man ihn auf der Wache auch für einen Simulanten halten. "Ich bin und so bist auch du!" Wenn es jemanden gab, der seinen Blick wie ein goldfarbener Vogel nach Osten, zur Sonne hin, richten sollte, dann war es er, Tolja Dmitriev. Längst, so dachte er, war jener alte Mond schon untergegangen.


#37 Rory Gallagher „I'm Not Awake Yet“

"Erwachet!" - Name einer frommen Postille. Rory Gallagher wird nicht mehr erwachen, denn er weilt seit 1995 unter den "Entschlafenen", Terminus technicus anderer Frommer, dahingeschieden aufgrund einer Infektion, wie man damals, schon im Jahr zwei der Pandemie, bedenklich lesen konnte. Unsterblichkeit, früher wenigen vorbehalten, ist inflationär geworden in Zeiten allgegenwärtiger Medien der Aufbewahrung und der Verbreitung. Rory ist im Song unsterblich zwar noch nicht aufgewacht, aber trotzdem wird er nicht zu spät sein, denn bevor er richtig wach ist, ist ihm schon klar, da hätte er beinahe einen kapitalen Fehler gemacht und die wahre Liebe dahinziehen lassen. Er hatte sich wohl allzu wache Gedanken gemacht über das Mädel und sich gesagt: "Lass das lieber sein, es hat seine schalen Seiten. Vielleicht ist es sowieso auch eher schon vorbei. Also gut Nacht, bevor es richtig fad wird." Aber sieh da, der Markt ist wie leergefegt, am Ende war's gar nicht so schlimm, und hin und her. Dann also kaum aufgewacht und mit frischen Gedanken ran ans Gute, Alte. Bewusstseinserweiterung im Schlaf, wer weiß? Jedenfalls Bewusstseinsänderung, die alltäglichste Sache von der Welt, die Nacht mit einbezogen, versteht sich. Kleiner Nachteil dabei, dass man nämlich zeitweise das Bewusstsein dabei verliert. Wie also, wenn sich Rorys Einstellung zu seinem Mädel ohne zwischenzeitlichen Knockout zum Positiven hätte ändern lassen? Und bei Bedarf jedes Mal aufs Neue? Wie ist es um die Techniken der Bewusstseinsänderungen bestellt, die sich bewusst und kontrolliert herbeiführen lassen? Erwache, lieber Rory, und sei es von den Toten, zu wenn auch nicht ewigen, so doch Wahrheiten, die dazu verhelfen, dass du dein Glück nicht verpasst! Und wir natürlich mit. Wir wollen wissen, wie's geht. Klar kann dabei immer noch jede Menge schiefgehen, Glück ist immer noch Glück. Aber Erwachen jederzeit, das ist schon was anderes als einmal täglich. Erwachet!


#38 Jan Garbarek „Close Enough For Jazz“

Und doch, meinte Einar, sei man, in Ermangelung eines treffenderen Begriffs, so unendlich von einer Verschmelzung entfernt, dass man die Annäherung allenfalls mit dem Grenzwert in der Mathematik vergleichen könne; vorausgesetzt freilich, das Argument sei endlich. Man spüre förmlich, dass man sich annähere, hafte dem Klang als Ganzem nicht etwas farblos Gläsernes, schier Nachempfundenes an: ein Aufschrei ohne Schmerz; als kenne man den Regen bloß aus dem Fernsehen.


#39 Sly & The Family Stone „Family Affair“

Nach dem plötzlichen Tod der Mutter begann der damals vierjährige Caspar schlafzuwandeln. Fortan fand der Vater ihn am Morgen zusammengekauert in einem der Regale der kleinen, kreisrunden Bibliothek. Bevor Caspar sich in seiner ungewöhnlichen Schlafstätte einrichtete, stapelte er die wertvollen Bücher, überwiegend Erstausgaben aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, darunter etwa eine zweibändige Ausgabe von Arthur Schopenhauers Parerga und Paralipomena in vergoldetem Halbleder, äußerst sorgfältig auf den Dielen des Fußbodens. Vergeblich versuchte der Vater, Caspar bei seinen nächtlichen Wanderungen zu ertappen, doch es wollte ihm nicht gelingen, da die Prozedur offenbar den väterlichen Tiefschlaf voraussetzte. Erst als der Vater am Vorabend von Caspars einundzwanzigstem Geburtstag starb, fand auch Caspar seine wohlverdiente Ruhe.


#40 Kevin Ayers „Stranger In Blue Suede Shoes“

Manche argwöhnten, der Fremde bringe auch in diesem Jahr wieder Unruhe ins Tal. Niemals wusste man genau, wann er aufkreuzen würde, meist aber, um einen Schuster aufzusuchen. Er redete nicht viel, aber keiner im Tal entging seinem Blick. Er habe einen durchdringenden Blick, dem nichts entgehe. Einige vertrauten ihm ihre innigsten Geheimnisse an, ohne dass er sie danach gefragt hätte. Frauen brachen scheinbar grundlos in Tränen aus, wenn sie ihn von weitem sahen. Niemand hatte ihn je etwas sagen gehört, was über das Notwendigste hinausginge. Er habe etwas auf dem Kerbholz, meinten die Alten. „Wo wohnt der überhaupt?“ Nur ein einziges Mal habe man ihn lächeln gesehen, als er mit einem Obdachlosen eine Zigarette teilte. Der Schuster aber schien nichts gegen den Fremden zu haben, denn schließlich, tuschelte man, verdiene er ja auch an ihm.


#41 Supertramp „Rosie Had Everything Planned“

Schon als kleines Mädchen war das Röschen ein durch und durch unberechenbares Wesen. Es trieb sich mit allerlei Gesindel herum, brach Äste, schoss mit einer Steinschleuder nach Fröschen und Vögeln oder stahl den Jungs das Pausenbrot, wenn die zur Schule gingen. Das Röschen, so hieß es, kam von nirgendwoher, badete im Bach, rauchte schon mit acht geschnorrte Zigaretten, hatte stets ein Flackern in den Augen, stank sehr und war stark verlaust. Mit fünfzehn nahm es sich einen Kerl aus der Stadt. Es würde böse mit ihm enden, wussten die Leute vom Dorf.


#42 Ornette Coleman „What Reason Could I Give“

Da sie so etwas trug wie das, was man bei uns ein Zimthütchen nannte, fiel sie unter die Kategorie derer, die aus Unwissenheit oder Auflehnung in Kauf nahmen, nicht in Betracht zu kommen. Grausame Naturgesetzlichkeit auch nur der Beachtung anderer Menschen in Hinsicht darauf, ob sie in Frage kämen. Und erst man selber! Natürlich würde die bloße Unterwerfung unter das, was allgemein als anziehend galt, Sport, Hygiene, Mode, zu niemand anderem führen als zu Unterworfenen. Wo aber wären die Sportlichen, die Anmutigen, oder gar solche guten Geschmacks?


#43 The Isley Brothers „Love The One You're With“

Zitronensorbet muss mir eingefallen sein, weil ich eigentlich Zitroneneis meine, aber offensichtlich hat es das Wort nicht getan. Sorbet ist augenscheinlich etwas Höheres, entsprechend auch weniger süß und auch nicht cremig, und würde dafür geworben, sollte mich das Wort "zitroniger" nicht überraschen. Die Gegenstände unserer Neigung, jedenfalls wenn man uns fragt, sind höherer Natur. Tatsächlich wird Zitroneneis auch einigermaßen anständig verkauft, Zitronensorbet dagegen kaum. Dennoch ist Zitrone, wenn auch erfrischender als die meisten anderen Eissorten, eher nicht der Spitzenreiter. Vanille, Schokolade und Stracciatella machen das Rennen. Und da liebe ich also, wenn ich ehrlich bin, Zitroneneis, wenn ich gefragt werde, spreche ich aber von Sorbet, flechte es wenigstens in meine Rede ein. Warum also bestelle ich regelmäßig mein Hörnchen mit Vanille und Schokolade? Weil Stracciatella ein Zungenbrecher ist? Paul McCartney weiß, wie auf viele andere, auch auf diese Frage eine Antwort. Das Lied "Yesterday" hat er, wenn auch nicht auf der Toilette komponiert, was bei etlichen Songs der Fall ist, denn auf dem stillen Örtchen hatte er Ruhe. Aber es ist ihm im Traum erklungen, und zwar genau passend auf die Worte: "Scrambled eggs, oh my baby, how I love your legs." Vanilleeis, Schokoladeneis, Stracciatella. -


#44 Hozan Yamamoto With Sharps & Flats „佐渡おけさ [Sado Okesa]“

Das Serum, das uns ewige Jugend und eine Ahnung von Unsterblichkeit versprach, war nach dem Tagebuch der japanischen Hofdame Sarashina benannt. Tatsächlich wirkte Ella mit ihren achtundneunzig Jahren eher wie ein feiner Herbstregen auf das Laub der Bäume und sprühte vor Lebensfreude, wenn sie mit Seeleuten Sake trank und in ihren Liedern das Gespräch Liebender anstimmte. Pietkowski, stets skeptisch und immerhin sieben Jahre älter, beklagte indessen, dass sich im Wesentlichen nichts geändert habe, man es nunmehr eben bloß länger aushalten müsse. Beharrlich kämpfe man um schrecklich Wertvolles, betreibe eine Politik des Geschäfts, fürchte Außerirdisches und die chinesische Vorherrschaft in der westlichen Welt; unablässig würden der Verzehr von Fleisch, eine gehobene Sprache und die Allgegenwart himmelschreiender Ungerechtigkeit angeprangert, was man durch Raumfahrt, Sake, Liebeslieder und ewige Jugend zu verdunkeln trachte: „Zu tausend Gräsern zieht's euer Herz – wie's der Brauch – auf herbstlichem Feld.


#45 The Temptations „Superstar (Remember How You Got Where You Are)“

Erinnerung und Gewissen seien laut Serafina Krupinski, der wiedergewählten Vorstandsvorsitzenden der Global Record Music Association (GRMA), antiquierte Eigenschaften eines Menschentyps, dessen Sonderstellung sich im Hinblick auf die gegenwärtige Entwicklung der Kultur nicht mehr legitimieren lasse. Um den technologischen Errungenschaften eines digitalisierten Jahrhunderts weiterhin gerecht werden zu können, müsse man unbedingt dafür Sorge tragen, dass der Personenkult endgültig aus der Medienlandschaft verschwinde. „Durch KI haben wir die einzigartige Möglichkeit, den grundlegenden Bedürfnissen einer überwiegenden Mehrheit der Menschengattung nach Unterhaltung und Belustigung entgegenzukommen, ohne dass Mitglieder des Gemeinwesens durch die Folgen des Ruhms und der Glorifizierung Gefahr liefen, sich, wie bereits Bergk anno 1799 wusste, an unsinnige Verschwendung, grenzenlosen Hang zum Luxus, Lebensüberdruss und einen frühen Tod auszuliefern.“ Es sei folglich erstrebenswert, ja notwendig und durchaus realistisch, die Gesamtheit kultureller Prozesse künftig von Maschinen, Robotern und anderen cyberphysischen Systemen verrichten und auch konsumieren zu lassen. [Liana Helas]



Dienstag, 10. August 2021

Bzw. ۲ ۵ ۲ [Windmühlenmusik für Klaviertrio: »Zu spät, zu spät!« (1994), R. A. ol-Omoum]

 


[»Don Kichot i Sancho Pansa«, Jacek Malczewski (1895 - 1900)]



When life itself seems lunatic, who knows where madness lies? Perhaps to be too practical is madness. To surrender dreams — this may be madness. Too much sanity may be madness — and maddest of all: to see life as it is, and not as it should be! [Miguel de Cervantes Saavedra »Don Quixote« (1605)]


The process of writing has something infinite about it. Even though it is interrupted each night, it is one single notation, and it seems most true when it eschews artistic devices of any sort. [Elias Canetti »The Secret Heart of the Clock« (1987)]




[»Ploughing (Sketch)«, Jacek Malczewski (1883 - 1887)]



To think that the affairs of this life always remain in the same state is a vain presumption; indeed they all seem to be perpetually changing and moving in a circular course. Spring is followed by summer, summer by autumn, and autumn by winter, which is again followed by spring, and so time continues its everlasting round. But the life of man is ever racing to its end, swifter than time itself, without hope of renewal, unless in the next that is limitless and infinite. [Miguel de Cervantes Saavedra »Don Quixote« (1605)]






Let's turn now to the citation of authors, found in other books and missing in yours. The solution to this is very simple, because all you have to do is find a book that cites them all from A to Z, as you put it. Then you'll put that same alphabet in your book, and though the lie is obvious it doesn't matter, since you'll have little need to use them; perhaps someone will be naive enough to believe you have consulted all of them in your plain and simple history; if it serves no other purpose, at least a lengthy catalogue of authors will give the book an unexpected authority. Furthermore, no one will try to determine if you followed them or did not follow them, having nothing to gain from that. [Miguel de Cervantes Saavedra »Don Quixote« (1605)]




[»Vicious Circle«, Jacek Malczewski (1897)]




There are books, that one has for twenty years without reading them, that one always keeps at hand, that one takes along from city to city, from country to country, carefully packed, even when there is very little room, and perhaps one leafs through them while removing them from a trunk; yet one carefully refrains from reading even a complete sentence. Then after twenty years, there comes a moment when suddenly, as though under a high compulsion, one cannot help taking in such a book from beginning to end, at one sitting: it is like a revelation. Now one knows why one made such a fuss about it. It had to be with one for a long time; it had to travel; it had to occupy space; it had to be a burden; and now it has reached the goal of its voyage, now it reveals itself, now it illuminates the twenty bygone years it mutely lived with one. It could not say so much if it had not been there mutely the whole time, and what idiot would dare to assert that the same things had always been in it. [Elias Canetti »The Human Province« (1973)]