["Willkommen in Clifton Heights", Julian T. D. Gärtner (2016)]
Reality
is that which, when you stop believing in it, doesn't go away. [Philip K. Dick »I
Hope I Shall Arrive Soon« (1980)]
Baynes
regarded the man for a time. He felt, strongly for a moment, the
unbalanced quality, the psychotic streak, in the German mind. Did
Lotze actually mean what he said? Was it a truly spontaneous remark?
"I
hope we will see one another later on in San Francisco," Lotze
said as the rocket touched the ground.
"I
will be at loose ends without a countryman to talk to."
"I'm
not a countryman of yours," Baynes said. [Philip K. Dick »The
Man in the High Castle«
(1962)]
25.09.2016
Cincinnati, Over-the-Rhine
Der
Rhein liegt am Fuße des Mount
Auburn
in Cincinnati. Während meine Bekannte versucht, uns mit dem Wagen
durch den Feierabendverkehr zu manövrieren, beuge ich mich vom
Beifahrersitz halb aus dem Fenster, um mit dem Smartphone endlich ein
Foto vom Rhein zu knipsen. Over-the-Rhine ist ein etwas nördlich der
Innenstadt gelegener historischer Stadtbezirk. Zwar hatte ich schon
gelesen, dass sich dort im 19. Jahrhundert eine größere Anzahl an
Personen aus den deutschen Kleinstaaten angesiedelt hat. Aber ich war
buchstäblich auf dem falschen Dampfer mit meiner Vermutung, der Name
des Stadtvierteles beziehe sich auf den Fluss Rhein. Ohne es zu
merken, war ich bereits einige Male über den sogenannten «Rhein»
spaziert. Tatsächlich bezieht sich der Name auf den
Miami-Erie-Kanal, der nicht nur die Grenzen des deutschen Viertels
markiert hat, sondern die Großen Seen im Norden mit dem Ohio
verbunden hat, etwa um deutsche Brauereien mit Eisblöcken für ihre
Kühlkeller zu versorgen. Man kann sich Cincinnati zu dieser Zeit als
Dreh- und Angelpunkt für die Passagier- und Handelsschifffahrt
vorstellen, vergnügte Unterhaltungen von Ausflüglern, das Klatschen
der Räder und den Rauch der Schornsteine der Dampfschiffe, das
geschäftige Treiben der Menschen auf der Landungsbrücke, den hellen
Klang der Kirchglocken und das leise Ziehen der Wolken. Der Bahnhof
von Cincinnati konnte über 200 Züge abfertigen und auf dem Ohio bis
zum Mississippi fuhren zeitweilig über 700 Dampfschiffe über
Pittsburgh, Louisville, Memphis und New Orleans. Das Dampfschiff ist
die Vignette der europäischen Moderne, aber es ist ein Schiff mit
Schlagseite. Der Amerikareisende Friedrich Gerstäcker schreibt 1856
über die widrigen Umstände der deutschen Einwanderer in Cincinnati:
«Etwas aber ist, was so vielen, ja man könnte sagen fast allen
Deutschen den Anfang einer zu gründenden Existenz erschwert: die zu
großen Erwartungen, mit denen sie gewöhnlich das neue Vaterland
betreten. Durch Briefe oder Reisebeschreibungen von dem schnellen,
fast fabelhaften Glückswechsel Einzelner in Kenntniß gesetzt, malt
sich ihre Phantasie die dortigen Verhältnisse mit den buntesten,
heitersten Farben aus; das Wenige, was von Noth und Sorgen von den
getäuschten Erwartungen und vernichteten Hoffnungen zu ihnen
herüberdringt, verliert durch die große Entfernung die scharfen,
schroffen Conturen, wird gemildert oder tritt vielleicht ganz in den
Schatten zurück; kein Wunder denn, daß Viele, nach kurzem
Aufenthalt in Amerika, von dem sie oft nur eine der östlichen Städte
gesehen haben, das erste heimwärts segelnde Schiff benutzen, in
altes Vaterland zurückzukehren, und nun nicht sich selbst, sondern
das Land anklagen, das so war, wie es einmal ist und nicht wie sie es
sich dachten.» Viele deutsche Auswanderer kamen auch als bonded
servants,
arme Teufel, Schuldner und Bankrottiers aller Art, die bereit waren,
jede Art von Knebelvertrag mit ihrem zukünftigen Arbeitgeber zu
unterzeichnen im Gegenzug für die Übernahme der Fahrtkosten. Einmal
in den USA mussten sie einige Jahre bei Kost und Logis eine Art
Leibeigenschaft aushalten, bis sie ihre Knechtschaft endete und sie
auf sich allein gestellt weiterziehen durften.
Heute
ist der Miami-Erie-Kanal längst versiegelt und vom Central
Parkway
überdeckt. Der Verkehr stockt immer wieder und aus dem Autofenster
erkenne ich rostige Wassertürme auf den Dächern verlassener
Lagerhäuser, überdimensionale Reklametafeln für eine
Rechtsberatung und Telefonseelsorge, die aufgelöste Ordnung von
LKW-Parkplätzen und Kabelrollen, die wie Lassos von den Strommasten
hängen, dann etwas weiter in der Ferne das erodierende
Eisenbahnviadukt und die Gleisanlagen. Der Central Parkway mäandert
zum Union Terminal, dem ehemaligen Hauptbahnhof mit der großen Uhr
in der Fensterfront. Nach dreißigminütiger Fahrt erreiche ich eine
Tiefgarage, in der es nach Abgasen und verbranntem Gummi riecht.
Vielleicht ist der aufgeschüttete und asphaltierte Rhein ein gutes
Bild für den amerikanischen Traum der Deutschen, der in Cincinnati
in mehreren Metern Tiefe begraben liegt.
["Die Berliner Mauer vor dem National Underground Railroad-Museum"]
15.09.2016
Cincinnati, Berliner Mauer
Im
National
Underground Museum
erfahre ich etwas über die Geschichte von Harriet Tubman, einer
afroamerikanischen Frau, die sogenannte runaways
mit einem Boot über den Ohio brachte. Er ist nicht nur die
natürliche Grenze, sondern markierte auch die Trennung zwischen dem
slave
state Kentucky
auf der einen und dem free
state Ohio
auf der anderen Seite des Flusses. Die Übersetzung von geflüchteten
Sklavinnen und Sklaven war ein gefährliches Unterfangen. Oft wurden
sie von Vormännern, Aufsehern mit Gewehren und Hetzhunden bis in den
Norden verfolgt. Auf Grundlage des Fugitive
Slave Law
konnten Sklavenhalter sie auch gewaltsam zurückbringen oder vielmehr
zurückentführen
lassen. In den Plantagengesellschaften des Südens galten Sklavinnen
und Sklaven sozusagen als ,bewegliches Gut‘. Sie waren darum auf
die Underground
Railroad angewiesen,
ein informelles Netzwerk aus Privatleuten, die aus verschiedensten
Gründen Sklavenhandel und Sklaverei ablehnten und Unterstützung
leisten wollten. Die safe
houses waren
durch Kerzen oder geheime Zeichen markiert, wo sie Unterschlupf und
Nahrung fanden. Oft hatten die geflüchteten Menschen bereits Wege
aus der Karibik, dem Golf von Mexiko oder den Südstaaten hinter sich
gebracht und mussten dann noch zu Land oder zu Wasser bis nach Kanada
gelangen. Im Black
History Month
wird Harriet Tubman oft zusammen mit Rosa Parks und Angela Davis
genannt. Vor dem Gebäude des Museums steht ein Stück der Berliner
Mauer. Es ist bemerkenswert unauffällig, ein grauer Sockel, der
weiße Stahlbeton und eine dunkelgraue Kappe, mehr nicht. Auf der
anderen Seite sind bunte Schmierereien: eine rot schraffierte
Wellenlinie, hellblaue Bruchstücke und ein gelber Kreis. Ich gehe um
die Mauer, berühre die Mauer und rieche die Mauer. Kurzzeitig bin
ich in Bezug auf die Mauer. Überall sind daran sind Kameras
angebracht. Kann man die Flucht aus der DDR und aus den Südstaaten
wirklich gleichermaßen unter einem struggle
for freedom
verbuchen, wie es das Museum nahelegt? Wäre es angemessen, eine
ähnliche Fluchtgeschichte für die DDR zu schreiben oder sogar einen
GDR-Refugee
History Month
für die Grenztoten einzuführen? Ich sehe die Roebling Bridge,
die sich über den Ohio erstreckt. Die Autos machen bedrohliche
Rattergeräusche auf ihrem Weg nach Covington in Kentucky und zurück.
Freiheit ist eine janusköpfige Kreatur, die nach Asbest riecht.
Sklaverei und der Rassismus sind Stachel im Herzen der USA und eine
nachwirkende Blutvergiftung.
Menschen
spazieren über die Flusspromenade, links steht der Queens Tower und
rechts das Stadion der Bengals. Es sind 91 Grad Fahrenheit oder 33
Grad Celsius heute. Ein Mann in Polohemd und Sonnenbrille lässt für
12$ sein Auto parken. Auf der anderen Straßenseite steht ein
schwarzes Mädchen, das Leute, die vom Mittagessen im Pierrestaurant
kommen, um Geld anbettelt. In
Colson Whiteheads Roman The
Underground Railroad
lese ich später: »Freedom was a thing that shifted as you looked at
it, the way a forest is dense with the trees up close but from the
outside, from the empty meadow, you see its true limits. Being free
had nothing to do with chains or how much space you had.«
26.09.2016
Cincinnati
Das
Oktoberfest in Cincinnati zieht jährlich über eine halbe Millionen
Besucherinnen und Besucher an. Es ist das größte Oktoberfest der
USA und das fünftgrößte der Welt. Eine Veranstaltung
schrecklichster Art, denke ich mir noch im Auto meines Freundes, als
wir uns der 2nd und 3rd Street nähern. «C‘mon! It‘s gonna be
fun, man!», redet mir Frederick vom Fahrersitz zu, während das
Büschel Gamsbart seines Filzhutes irgendwie vulgär über die
Kopflehne pinselt. Er hat sich zu einem waschechten Bajuwaren
herausgeputzt: kariertes Hemd, Wadenwärmer, Haferlschuhe und dazu
natürlich die krachlederne Hose, die schon ganz speckig glänzt. «I
can’t believe you forgot to bring your lederhosen!» Ich schwöre
Freddy, dass ich gar keine besitze und versuche ihm die eigentümliche
Beziehung zwischen dem Freistaat Bayern und dem Rest Deutschlands zu
erklären, das Unbehagen an der Volkskultur, die Preußen etc. – es
ist ein zweckloses Unterfangen. In Cincinnati hat man das Oktoberfest
1976 eingeführt, mehr als anderthalb Jahrhunderte nach dem ersten
Oktoberfest in München. Es ist eine Art ethnisches Revivalfest, das
sich durch Hausmannskost, Blasmusik und Trachtenoutfits markiert,
freilich unter amerikanischem Vorzeichen. Auf einem knalligen Banner
steht in Frakturschrift Oktoberfest Zinzinnati
– unausstehlich mit zwei Z, wie man es mit grobem Akzent
aussprechen würde. Geht das Münchner Oktoberfest ursprünglich auf
die Pferderennen von Kronprinz Ludwig zurück, bildet den Auftakt
hier jedenfalls The
Running of the Wieners,
das traditionelle Hunderennen. Einhundert als Hotdogs verkleidete
Dackel laufen um die Wette. Dackel, die auf Amerikanisch dachshunds
heißen, jagen mit ihren langen Ohren und kurzen Beinen über die
zwanzig-Meter-Bahn. Es ist nur der Anfang einer Reihe von
Gemutlichkeit
Games.
Etwas
weiter am Ufer des Ohio River hat man Food Trucks und Fresszelte
aufgestellt. Ich war noch nie auf den Münchener Wiesn (und
beabsichtigte nebenbei gesagt nicht, das in naher Zukunft zu ändern),
aber in Cincinnati ist das Oktoberfest eher ein Streetfood-Festival.
Überall steigt der leicht verbrannte Geruch von Würsten und anderen
Sauereien auf: Grütz-, Mett- und Bratwurst gibt es hier, dann
Butterbretzen mit süßem Senf, Kartoffelpuffer und
Sauerkrautbällchen – eine kulinarische Leistungsshow. Das
Oktoberfest fügt sich gut in die übrigen Fressfeste des Landes ein,
dem Hummerfestival in Maine, dem Chilifest in Texas oder dem Maisfest
in Kalifornien. Frederick drückt mir ein Maß Bier in die Hand,
selbstverständlich im Plastikbecher: »Prost!«, ruft er mir zu,
»See, man, you‘re the only one wearing jeans, t-shirt and
basecap!« Er hat Recht. Um mich herum bummeln hunderte Amerikaner in
bajuwarischer Bekleidung. Ist das die Rache für Karl May? Sie
genießen es sichtlich, sich unter freiem Himmel am Festbier zu
berauschen, das aus den Kesseln der lokalen Brauereien kommt. Von der
Bühne spritzt man Bier. Der Fun ist eine Bierdusche. Dort oben
stimmt ein kleingliedriger und beleibter Amerikaner den Wechselgesang
an «Zicke zacke zicke zacke!» und um mich herum ruft es einstimmig
zurück – ich ahne es schon – «hoi hoi hoi!» bis danach wieder
die Blaskapelle einsetzt und die Menschen auf Gartenmöbeln zu
schunkeln beginnen. Ich kippe schnell das süßlich-schale Bier
herunter. Vor der Stadtlandschaft Cincinnatis, dem Baseballstadion
der Reds, der Hängebrücke oder dem Queens Tower nimmt sich dieser
Kitsch einigermaßen merkwürdig aus. Auf dem Weg zum Fountain Square
mischt sich der Geruch von Erbrochenem in die Luft. »Ein Prosit, ein
Prosit der Gemütlichkeit«, schallt es durch die Häusertäler. Die
Bronzestatue des Genius des Wassers wurde in der Schwesterstadt
München gefertigt und ihr liegt eigentlich ein Abstinenzgedanke
zugrunde. Um das Rund des Brunnens lassen tausende Menschen jetzt die
Schwarte krachen. Sie tanzen den Chicken Dance zur
Akkordeonmelodie des Ententanzes. Dazu formen sie mit den Händen
einen Schnabel, schlagen mit den Armen wie mit Flügeln, gehen im
Watschelgang im Kreis umher und lassen den Vogel mit gestreckten
Armen aufsteigen. So habe ich mir den melting pot nicht
vorgestellt. In einem Exzess der Lachkultur werden soziale
Beziehungen zwischen Menschen überschritten, zwischen schwarz und
weiß, arm und reich, Ernst und Spaß sowie Lachendem und Verlachten
– mit entlastenden und subversiven Wirkungen für eine verkrampfte
Gesellschaft kurz vor den Präsidentschaftswahlen.
["Ride The Champ! Einen Quarter für einen Ritt"]
01.10.2016
Cincinnati
Auf
der Essen Straße in Cincinnati rollen Verkäuferinnen und Verkäufer
die bunt gestreiften Markisen über den Auslagen aus: Blumenbouquets,
Obst und Gemüse aus lokalem Anbau werden hier verkauft. An den
gusseisernen Laternen hängen kleine Nationalfahnen mit
Willkommensgrüßen. Die grellorange Fassade des Saigon-Supermarkts
lässt ihn wie eine Pagode oder eine Ladenattrappe aus Bert Brechts
Mann ist Mann
wirken. Aus dem Fenster winkt mir eine freundliche Manekineko-Katze
zu. Der Findlay Market ist ein Lebensmittel- und Spezialitätenmarkt
im nordwestlichen Teil von Over-the-Rhine, ein längliches und
niedriges Gebäude mit prismaförmigem Dach, auf dem ein Schild mit
einer großen Tomate darauf steht – es sieht ein bisschen aus wie
der Crystal Palace. Doch anders als auf der Great
Exhibition in London werden hier
keine naturwissenschaftlichen, technischen oder kulturellen
Innovationen vorgestellt, sondern es geht vor allem um den
kulinarischen Schmaus. Durch die Fronttür betrete ich Findlay Market
und stehe sofort in einer Traube von Menschen, die vor den Theken
stehen. In einer Auslage liegen tiefgelber Cheddar aus England,
blassweißer Gruyère aus der Schweiz und Blauschimmelkäse aus
Frankreich aufgestapelt in Vierteln und Hälften. Daneben umzingeln
Menschen eine Theke, die Fleisch- und Geflügelwaren auf dem
Präsentierteller anbietet – rosige Aussichten. Daneben liegen mit
Preisschildern etikettiere Fische und Meeresfrüchte, Wolfsbarsch,
Regenbogenforellen und Rote Schnapper mit offenen Mäulern und Augen.
Es riecht nach Salzwasser. Im Foyer von Findlay Market werden
Pierogis, Jamabalaya und Clam
Chowder gekocht. Eine Familie
mit Kinderwagen isst Hummer aus Maine, eine Delikatesse, mit
Plastikbesteck von Styropor-Tellern. Aus Hunger ist Esssucht in der
Überflussgesellschaft geworden. Unter der Decke, ein flaches Dach,
das von einer Konstruktion aus rotbemaltem Eisen getragen wird,
hängen Dampfschwaden wie aus Claude Monets Ölgemälde Gare
Saint-Lazare. Dort kündigt der
blaue Dampf nicht nur einfach die Einfahrt eines Zuges an, vielmehr
im weiteren Sinne die industrielle Revolution mit dem Versprechen,
denen, die in der Mängelgesellschaft Hunger leiden müssen, Abhilfe
zu verschaffen.
Vor
der Einkaufshalle höre ich das ungestüme Allegro Vivace aus
Rossinis Wilhelm
Tell, diese
albern-galoppierende Melodie, die bei Verfolgungsjagden in Filmen
eingespielt wird. Dort steht eine Familie mit ihren Kindern an einem
Fahrautomaten, einem kleinen Rennpferd. Es ist ein schöner Schecke
mit Sattel und Zaumzeug, ein zartbraunes Metalpferdchen mit weißen
Flecken und schwarzen Hufen. «RIDE THE CHAMP» heißt es auf dem
Podest, auf dem das Pferd – gehalten von zwei Stäben – auf und
ab ruckelt. Nicht alle Kinder scheinen zu glauben, dass das Glück
der Welt auf dem Rücken der Pferde liegt. Ein übergewichtiger Junge
in der Latenzphase quengelt seinen Vater um einen Quarter
an. Der aber steht mit der Kappe im Gesicht schweigend daneben, bis
die Mutter schließlich genervt eine 25 Cent berappt und in den
Schlitz schmeißt – weiße Mittelschicht. Wohl in der Vorstellung,
sich in einen Cowboy, Rodeoreiter oder Jockey zu verwandeln, nimmt
der viel zu schwere Junge den Champ
an die Kandare und schwabbelt freudig sabbernd gegen das Allegro
Vivace von Rossini an. Findlay Market hat viel mit einem gestörten
Verhältnis zu diesem Versprechen zu tun, das längst nichts mehr mit
der Befriedigung tatsächlicher Bedürfnisse oder gar Sättigung zu
tun hat, sondern Bedürfnisse nur noch gesteigert werden, wenn man
ihnen entspricht.
13.10.2016
Nashville, Belle
Mead Plantation
Unter
großen, schattenlosen Bäumen erhebt sich das Hauptgebäude der
Belle Mead Plantation. Vor dem Seitenflügel deutet eine Frau
im Reifrock einer Gruppe Touristen den Weg ins Innere des Wohnhauses,
bis sie durch die Blumenbeete selbst nachfolgt. Im Flur hängt ein
opulenter Rahmen mit einem vergilbten Ölgemälde. Es ist die etwas
ungelenke Darstellung eines Pferdes mit Stallmeister. Der
dunkelbraune, nur schulterhohe Hengst steht mit schlanken Läufen und
muskulösen Schenkeln nahezu unbewegt vor einem idealisierten
Weidegrund und daneben genauso starr der Werter dieses Rennpferdes.
Das Gemälde zeigt statt Jockey oder Besitzer den Züchter, denn
schon zur Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges befand sich auf der
Plantage ein renommierter Zuchtstall. Heute verweist man gerne auf
die Abbildung von Bob Green, dem schwarzen Stallmeister, dem man
geradezu die Begabung eines Pferdeflüsterers nachsagte. Der
längliche Körper des Tieres nimmt einen Großteil des Bildes ein,
wohingegen Bob Green nur etwa ein Drittel der Leinwand bleibt. Er
trägt Berufskleidung, hat einen hohen Hut in die Stirn gezogen und
eine Schürze umgebunden. Die Ärmel seines hellblauen Hemdes sind
hochgekrempelt und er hält das Zaumzeug in der einen Hand, während
er mit der anderen zum Maul des Zuchthengstes reicht – Fleiß und
Arbeitsamkeit werden hier betont. Die Zusammenstellung des Portrait
of Bonnie Scotland – so der Name des Pferdes – &
Robert Green (in dieser Reihenfolge) wirkt reichlich artifiziell,
wie aufgestellt. Hatte ich mich am Anfang noch gewundert, dass
es überhaupt die Darstellung eines Sklaven geben würde und dann
noch an so prominenter Stelle des Herrenhauses, konnte ich mich nun
des Eindrucks nicht erwehren, dass Pferd und Zuchtmeister auf gleiche
Weise die Produktivität der Plantage illustrieren sollten. Auf Belle
Mead nennt man Bob, eigentlich Robert, Green in häuslicher
Zuneigung auch «Uncle Bob». Auf kritische Fragen versichert die
Biedermeierdame immerzu mit der Schute wippend «musta been a real
character». Während die anderen Besucher die knarzende Treppe
bemühen, um ihren Rundgang fortzusetzen, sehe ich mich in der
unteren Etage des Hauses um. Vor dem Fenster sehe ich den Staub von
der Decke rieseln und Schatten sich zwischen den Teppichläufern und
Brettern des oberen Stockwerkes bewegen. Hinter dem Schreibtisch
ziehe ich ein Buch aus dem Regal, das nicht einmal ganz
aufgeschnitten ganz fadenscheinig geworden ist. Es
ist hauptsächlich Gebrauchsliteratur, einige landwirtschaftliche,
botanische und musikalische Werke – nichts, was mein Interesse
wecken könnte bis auf Bartram’s
Travels: «We
now rise a bank of considerable height, which runs nearly parallel to
the coast, through Carolina and Georgia; the ascent is gradual by
several flights or steps, for eight or ten miles, the perpendicular
height whereof, above the level of the ocean, may be two or three
hundred feet (and these are called the sand-hills) when we find
ourselves on the entrance of a vast plain, generally level, which
extends west sixty or seventy miles, rising gently as the former, but
more perceptibly. This plain is mostly a forest of the great
long-leaved pine (P. palustris Linn.) the earth covered with grass,
interspersed with an infinite variety of herbacious plants, and
embellished with extensive savannas, always green, sparkling with
ponds of water, and ornamented with clumps of evergreen, and other
trees and shrubs, as Magnolia grandiflora».
Für einen Moment verliere ich mich in Bartrams
gleichermaßen naturkundlichen wie poetischen Beschreibungen, die
genauso langatmig sind wie der eigentliche Aufstieg zur Aussicht über
die südlichen Landschaften Carolinas und Georgias. Als mich die
Führerin zusammen mit den anderen Besuchern aus dem Gebäude
komplementiert, lässt sich im angrenzenden Laubengang gerade ein
Hochzeitspaar ablichten. Man könne im Restaurant noch etwas essen
und auch eine Flasche vom hauseigenen Weingut erwerben. Ich hänge
noch diesem Wort nach, magnolia grandiflora, und stehe
blinzelnd im Garten vor der weißen Fassade des Landguts.
14.10.2016
Lynchburg, Tennessee
Ahornbäume
lassen blassgelbe Blätter auf den Seitenstreifen gleiten. Die
Landstraße von Nashville nach Lynchburg führt mich anderthalb
Stunden um enge Hügelkuppen und über fahle Graswiesen, durch eine
ländliche Gegend, in der eine subtile Feindlichkeit liegt. Ich komme
vorbei an größeren Farmen, auf denen behelfsmäßig
zusammengezimmerte Scheunen stehen, mit morschen Zäunen und ohne
Gatter. Aus den Kaminen abgeschiedener Häuser steigt kalter Rauch
auf. In ihren Auffahrten stehen leere Blechbriefkästen und große
Pick-Up-Trucks drehen der Straße den Rücken zu. Auf einem losen
Sticker heißt es «Heritage not Hate» über der Pritsche. Die
Destilliere von Jack Daniel liegt etwas außerhalb von Lynchburg,
einem Ort mit einem dieser Schilder, auf dem die Einwohnerzahl steht.
Es sind nicht mehr als 300. Die Destille präsentiert sich als
ausladende Südstaatenvilla mit Terrasse in einem dry county,
also einem Landkreis, in dem Alkohol überall sonst verboten ist und
das auch vor der Prohibition war – man meint es also durchaus ernst
damit. «Good afternoon», herzt mich die Dame im Eingang des
Herrenhauses an und erklärt mir, dass die Führung sich verspäte
und ich mich wie ein alter Freund auf der Terrasse niederlassen
solle, «So sorry. Make yourself at home, sweetie.» Gentleman Jack
muss es irgendwie geschafft haben, sich besondere Rechte für sein
Grundstück auszuwirken. Jedenfalls geht eine Bedienung mit einem
ganzen Tablett bernsteinfarbener Whiskeyshots umher und füllt die
aufgedunsenen Besucher ab, die sich ihre Bäuche in den
Schaukelstühlen wiegen – Southern hospitality ist eben
alles. Es sind so viele Leute, dass man meint, der ganze Ort und ein
Teil des Landkreises seien vertreten: arme und wohlhabende, junge und
alte, unerfahrene und fortgeschrittene – überhaupt insgesamt –
ausgesprochen begeisterte Säufer. Im hinteren Teil des Geländes
steht die Destilliere wie ein zerbeulter Blechbriefkasten zwischen
Zuckerahornbäumen. In Lynchburg habe ich noch den unangenehmen Geruch
von Maische in der Nase. Der Ort selbst besteht aus nicht mehr als
ein paar Läden an einem Brettersteg, vor dem die Leute ihre Autos
parken, um Konföderierten-Merchandise zu kaufen oder im Restaurant
zu essen. Dort serviert man pulled pork burger mit Bohnen, der
so ähnlich wie pfälzischer Rollbraten schmeckt, nur mit BBQ-Sauce.
Das isst man bestimmt zum Ausnüchtern, denke ich, bis ich einen Mann
am Nachbartisch beobachte, der sich Kodein über die Eiswürfel in
seinem Refill-Becher träufelt. Als ich um «French Fries»
statt Bohnen bitte, fragt mich die Bedienung, wo ich herkomme und
fügt dann hinzu: «Bless your heart, sweetie, but we call‘em
freedom fries here.»
21.10.2016
Cincinnati
In
der Walnut Street kann man die Invasion von Außerirdischen erleben.
Genau genommen handelt es sich um einen Alien Invader, einen
rudimentären Klumpen weißer Pixel aus dem Videospiel Space
Invaders von Toshihiro Nishikado, ein Klassiker im kollektiven
Gedächtnis der Popkultur der 80er und 90er Jahre. Er hat diesen
urzeitlichen 16-Bit-Look der kleinsten elektronischen Speichereinheit
für Informationen, der auch mit anderen Titeln, bestimmten Farben
und Tönen verbunden ist. Es wäre zu wenig damit gesagt, dass es in
allen Levels von Space Invaders darum geht, in mehreren Reihen
angeordnete Außerirdische zu pulverisieren, die sich dabei
schrittweise auf das untere Ende des Bildschirms bewegen. Das Spiel
entwirft mit einfachsten Mitteln die dystopische Invasion des
Planeten Erde durch eine Armee extraterrestrischer Wesen. An der Bar
der Arcade-Halle bestelle ich mir ein Root Beer. Im
Halbdunkeln schauen Hulk Hogan, Leonard Nimoy, Micheal Jackson und
Madonna von der Wand. Ich denke mir, dass das Szenario von Space
Invaders vielleicht der erste Konflikt gewesen ist, den Menschen,
gestützt von elektronischen und digitalen Medien, global austragen
konnten. Es gibt neben der politisch-ökonomischen Verwobenheit auch
eine psychisch-mediale in der Globalisierung. In der globalisierten
Welt steht die Gesamtheit aller Ichs in unauflöslichen psychischen
Zusammenhängen aus dem Realen, Symbolischen und Realen. In Space
Invaders sieht sich ein Spieler-Ich ausgerüstet nur mit einer
Laserkanone einer amorphen Menge von Weltraummonstern aus dem Orbit
des Unter-Ichs gegenüber – eine nahezu aussichtslose Lage. Nicht
nur die final frontier muss aufgegeben werden, auch der Krieg
der Sterne und mit ihm die menschliche Hegemonie im Weltall ist
endgültig verloren. Der Mensch sieht sich in seiner Singularität
bedroht, denn es ist sogar die Invasion insektoider Wesen zu
befürchten, deren Existenz man, wenn nicht geleugnet, so doch für
sehr unwahrscheinlich erklärt hat. Es ist die Furcht vor dieser
letzten narzisstischen, intergalaktischen Kränkung, mit der Space
Invaders spielt, oder sind damit lediglich die Chinesen gemeint?
Was machen Videospiele mit den globalen Psychen? Es gibt in dieser
Spielhölle vierzig solcher Arcade-Konsolen, die an allen Ecken
blinken und klimpern, aber die Häufung von galaktischen Themen ist
auffällig und Space Invaders paradigmatisch für viele
spätere Titel. In den letzten Dekaden hat sich der Status von
Videospielen geändert: Spätestens seit dem Auftreten der Figur des
Nerds, geht es nicht mehr um die Rettung der Welt oder den nächsten
Highscore sondern lediglich darum, lose mit der Spielkultur
assoziiert zu werden, um interesseloses Wohlgefallen am Retro-Appeal
der Spiele. Der hedonistische Spieler ist assimiliert und zum Nerd
geworden, der selbst so etwas wie ein Außerirdischer ist.
10.11.2016 Cincinnati
Die amerikanische Präsidentschaftswahl habe ich nur mit wenig Interesse verfolgt. Bereits bei den Vorwahlen wurde man mit Interviews und Zuschaltungen, TV-Duellen und Town Hall Meetings, Hochrechnungen und Rallies dauerbestrahlt. Dabei ist allgemein bekannt, dass die Kandidatin oder der Kandidat (meistens sind es bislang ja solche gewesen) mit den einflussreichsten Lobbyverbindungen, den größten Finanzreserven und der zielgruppengerechtesten Cyberkampagne gewinnt. Womöglich dienen solche Vorwahlkämpfe ohnehin oftmals mehr der Bestätigung als der Bildung der eigenen Meinung. In meiner Umgebung konnte ich jedenfalls feststellen, dass je lauter der mediale Sound wurde, desto hörbarer wurde sich auch über die bevorstehende Richtungsentscheidung ausgeschwiegen. Alles schien ausgemacht zu sein und Hillary Clinton stand für viele (auch für mich) bereits als Siegerin fest. Mit meinen Studierenden hatte ich anspielungsweise noch Witze über einen möglichen Sieg von Donald Trump gemacht. Da man in den USA traditionell dienstags wählt, hatte ich ihnen vormittags freigegeben. Am Abend schaute ich dann nur gelegentlich von meinem Laptop auf zur Liveübertragung der Wahl. Ich nahm sie als nicht mehr als ein kleines Fenster in meinem Bildschirm wahr. Gleich daneben läuft eine alte Aufnahme von Leonard Cohen. Andächtig murmelt er: «I’m sentimental, if you know what I mean / I love the country but I cannot stand the scene. / I’m neither left or right. I’m just staying home tonight, getting lost in that hopeless little screen.» In absoluten Zahlen würde Clinton in der Auszählung vorne liegen, aber die meisten Wahlmänner habe Trump zu verbuchen. Spätestens als sich Ohio und Kentucky in den neuesten Zwischenergebnissen rot verfärbten, packte die Wahl plötzlich meine ganze Aufmerksamkeit. Mit einem Mal fühlte ich mich persönlich angegriffen, dass man in Ohio offensichtlich republikanisch gewählt hatte. Es hatte in der Stadt doch nichts auf den bevorstehenden Ausgang hingewiesen?
10.11.2016 Cincinnati
Die amerikanische Präsidentschaftswahl habe ich nur mit wenig Interesse verfolgt. Bereits bei den Vorwahlen wurde man mit Interviews und Zuschaltungen, TV-Duellen und Town Hall Meetings, Hochrechnungen und Rallies dauerbestrahlt. Dabei ist allgemein bekannt, dass die Kandidatin oder der Kandidat (meistens sind es bislang ja solche gewesen) mit den einflussreichsten Lobbyverbindungen, den größten Finanzreserven und der zielgruppengerechtesten Cyberkampagne gewinnt. Womöglich dienen solche Vorwahlkämpfe ohnehin oftmals mehr der Bestätigung als der Bildung der eigenen Meinung. In meiner Umgebung konnte ich jedenfalls feststellen, dass je lauter der mediale Sound wurde, desto hörbarer wurde sich auch über die bevorstehende Richtungsentscheidung ausgeschwiegen. Alles schien ausgemacht zu sein und Hillary Clinton stand für viele (auch für mich) bereits als Siegerin fest. Mit meinen Studierenden hatte ich anspielungsweise noch Witze über einen möglichen Sieg von Donald Trump gemacht. Da man in den USA traditionell dienstags wählt, hatte ich ihnen vormittags freigegeben. Am Abend schaute ich dann nur gelegentlich von meinem Laptop auf zur Liveübertragung der Wahl. Ich nahm sie als nicht mehr als ein kleines Fenster in meinem Bildschirm wahr. Gleich daneben läuft eine alte Aufnahme von Leonard Cohen. Andächtig murmelt er: «I’m sentimental, if you know what I mean / I love the country but I cannot stand the scene. / I’m neither left or right. I’m just staying home tonight, getting lost in that hopeless little screen.» In absoluten Zahlen würde Clinton in der Auszählung vorne liegen, aber die meisten Wahlmänner habe Trump zu verbuchen. Spätestens als sich Ohio und Kentucky in den neuesten Zwischenergebnissen rot verfärbten, packte die Wahl plötzlich meine ganze Aufmerksamkeit. Mit einem Mal fühlte ich mich persönlich angegriffen, dass man in Ohio offensichtlich republikanisch gewählt hatte. Es hatte in der Stadt doch nichts auf den bevorstehenden Ausgang hingewiesen?
Ich
erinnerte mich an einen Nachmittag bei einer Freundin zuhause. Sie
hatte mich zum BBQ mit ihrer Familie eingeladen. Auf dem Weg nach
Greater Cincinnati in den Vorortgürtel der Stadt sah ich
durchaus einige Blechschilder in den Vorgärten stehen. Von meiner
Arbeitskollegin wusste ich, dass sie Bernie Sanders unterstützt
hatte. Ihrer Meinung nach hätten die Parteiloyalisten der donkeys
die Wahl Sanders von Anfang an boykottiert. Auch zuhause bei ihr habe
es die ein oder andere Diskussion gegeben und ihre Mom habe jetzt
natürlich Oberwasser. Sie würden nicht mehr darüber sprechen. Mit
Mitte zwanzig wohnt meine Kollegin noch zuhause – nicht unbedingt
etwas Ungewöhnliches in der middle class der USA. Die
genaueren Umstände der Trennung ihrer Eltern kenne ich nicht. Die
Mutter ist alleinerziehende Kinderkrankenschwester in gleich zwei
Hospitälern und engagiert sich wie die ganze Familie ehrenamtlich
bei der YMCA. Beide Geschwister von Phoebe sind im Teenager-Alter und
verdienen sich nach der Schule etwas Geld mit Nebenjobs hinzu. Dazu
benötigen sie jeweils ein Auto, denn öffentliche Verkehrsmittel
sind in den Vororten kaum existent. Die Mutter kommt gerade von der
Nachtschicht. Ihre größten Sorgen seien die Hypothek für das Haus
und das Universitätsstudium ihrer Kinder, erzählt sie mir frei
heraus. Sie hoffe, dass das alles bald ende. Deshalb habe sie Trump
gewählt, fügt sie an, bevor sie wieder auf dem Gartenstuhl
einnickt. Ich grübele über ihre Worte nach, während der vegane
Grillkäse ihrer Tochter Blasen wirft. Wirklich alles? Auf dem Campus
habe ich am Vortrag eine Flagge im Fenster des Wohnheims hängen
gesehen, auf der in großen Lettern MAGA stand. Schnell habe ich es
als armseligen Protest einer fehlgeleiteten Studierendengruppe
abgetan. Im Internet verfolge ich die Wahlergebnisse in Cincinnati
auf einer Karte. Im urbanen Zentrum der Stadt und im Gebiet des
Campus hat man demokratisch gewählt, rundherum allerdings
republikanisch. Als ich ins Bett gehe, sind nur noch Minnesota,
Arizona und Vermont zu holen, die Wahl ist praktisch entschieden.
Dieser
frische und graubewölkte Novembertag hat etwas Bedrohliches an sich.
Am nächsten Morgen mache ich mich auf dem Weg zum Campus. Ich stelle
mich drauf ein, dass meine Studierenden enttäuscht sein würden. In
der Auffahrt kommen mir zwei Studenten im Dresscode der Neuen Rechten
entgegen, in beiger Hose, weißem Hemd und rotem Käppi, «Make
America Great Again» steht darauf. Im Seminarraum sehe ich gerötete
Augen, nasse Stirnfransen. Meine Studierenden haben warmen,
ultrasüßen Kürbiscappuccino mitgebracht – Zeichen, dass es ernst
ist. Sie tauschen ihre eigenen Betroffenheiten aus und erzählen von
offenen Anfeindungen. Schwierig in dieser Situation über
Konjugationstabellen und Verbletztstellung dozieren zu sollen.
«There’s an elephant
in the room that we need to address»,
höre ich mich sagen. Von einem Sprachdozenten darf man solch
blöde Wortwitze doch verlangen. Es dauert eine Weile, aber ich komme
noch zum Unterrichten bis kurz vor der Pause Sprechchöre zu hören
sind: «No justice! No peace!» und immer wieder «Black lives
matter!» Als ich den Innenhof betrete, stehe ich unwillkürlich in
einer Traube schwarzer Hoodies und Plakate «No Trump. No KKK. No
fascist USA», schreit es neben mir und jagt mir einen Schauer über
den Rücken. Es nähern sich frontal einige Männern, die
Handfeuerwaffen in ihren Holstern tragen und ostentativ
halbautomatische Gewehre über ihre Schultern geworfen haben. Über
dem Bierbauch eines weißen Mannes steht auf dem T-Shirt «Apex
predator». Stimmt schon irgendwie und in tiefen Bässen schwurbelt
er etwas von «supremacy». Währenddessen zirkeln Campuspolizisten
mit ihren nervös sirrenden Segways um die Menge, um die Lage zu
beruhigen. Mit missverständlichen Gesten schreien sie dabei
erstaunlich laut und viel. Ein Zucken, eine falsche Handbewegung,
eine Auseinandersetzung – jede Sekunde hätte sich ein Schuss lösen
können. Als ich im Schutz meiner Laptopklappe einige Monate später
die Geschehnisse in Charlottesville beobachte, bin ich nicht
sonderlich erstaunt. In der Nähe eines Parks mit der Statue von
General Lee fährt ein Mann sein Auto absichtlich in eine Gruppe von
Demonstranten. Ich bin mir fast sicher, dass sich eine solche Szene
an diesem Tag auch in Cincinnati hätte zutragen können. «Democracy
is coming to the United States», höre ich Leonard Cohen säuseln,
«It's coming to America first / The cradle of the best and of the
worst» und schließe mit einem leisen Geräusch meine Laptopklappe.
23.11.2016
Kansas City, Rheinland-Pfalz
Im Mittleren Westen liegen die sogenannten flyover states, jene landwirtschaftlich geprägten Flächenstaaten der USA, deren schieren Weiten für den urbanen Jetset lediglich eine nuisance auf dem Weg zwischen Ost- und Westküste darstellen, denn Fliegen kann auch etwas mit Überheblichkeit zu tun haben. «I wouldn’t live there if you paid me», stöhnt der Geschäftsmann neben mir im Sitz, als er meinen Blick aus dem Fenster bemerkt. Tatsächlich wirkt es, als würde sich das Flugzeug kaum weiterbewegen und so über der Ebene schweben, wie ein Spielzeugmodell an einem Nylonfaden über der Karte im Diercke Weltatlas. Als Teenager hat mich dieser Ausdruck «Mitten im Nirgendwo» wohl fasziniert, weil er von den Leuten im Allgemeinen dermaßen abschätzig gebraucht wurde, dass ich davon überzeugt war, dass wenn ich diesen Ort fände, ich garantiert niemanden von ihnen dort antreffen würde. Ich erinnere mich an eine Abbildung im Atlas, auf der man mit geometrischer Genauigkeit Missouri und Kansas abgetragen hatte. Die Markierung von Kansas City fand ich zwischen einer Vielzahl von Getreide- und Ölsymbolen exakt auf der vertikalen Linie zwischen beiden Staaten. Ich las nach, dass die Region in den Zwanziger- und Dreißigerjahren von gravierenden Stürmen heimgesucht wurde, die sich aufgrund der Trockenheit und Bodenerosion zu großen Wirbel- und Sandstürmen aufdrehen konnten und der Gegend den Beinamen dust bowl beigebrachten. Vom Flugzeug aus sieht der Boden der Staubschüssel heute eher aus wie der Nährboden einer Petrischale: Man hat hier gegeocachte und genmanipulierte Monokulturen in kreisrunden Feldern angelegt. Im Radius einer halben Meile rollen Bewässerungsfahrzeuge in konzentrischen Bahnen, festgesteckt in der Erde im Mittelpunkt der Felder. Es sind sperrige Konstellationen aus Reifen und Rohren, die aussehen wie Maschinen des bösen Zauberers von Oz. Sie versprühen Wasser mit Düngemittel über den Flächen aus hellgrünem Winterweizen und goldgelbem Zuckermais. So sieht die Kornkammer des gefräßigsten Landes der Welt aus. «I wouldn’t live like this.», säuselt es wieder vom Nachbarsitz. Ich frage mich, ob ein Tornado vom Grund aus hoch bis zu einem Flugzeug reichen würde, um diesen Erwachsenen zum Schweigen zu bringen? Ansonsten sieht man größere Wohnparzellen und geflochtene Autobahnzöpfe und als ich im Rauschen der Flugzeugturbinen dumpf die Wirbelstürme aus dem Wizard of Oz zu hören meine, erinnere ich mich an Dorothy, gespielt von Judy Garland. Auf dem Weg nach Hause wird sie von einem Tornado überrascht und ins magische Land Oz versetzt, ohne Kansas je zu verlassen. Für mich ist Kansas City beziehungsweise ein Suburb der Stadt ein ganz realer Ort in der Welt meiner Teenagerzeit, an dem ich mich sogar etwas zuhause fühle. «I wouldn’t live there if you paid me», entfährt es wieder dem trübsinnigen Jetsetter. Ich sage ihm, dass ich im eigentlichen middle of nowhere aufgewachsen bin, nämlich in Rheinland-Pfalz. Irgendwo zwischen Kaiserslautern, Ramstein oder Baumholder, in den Bereichen der amerikanischen Militärbasen, hat sich mit der Zeit so etwas wie eine Nachkriegskonvivenz eingestellt. In der Nachbarschaft lebte eine deutsch-amerikanische Familie, deren Verwandtschaft aus den USA einmal zu Besuch war. Wir freundeten uns bald an und die amerikanischen Großeltern der Familie luden mich zu sich ein. Seitdem ich nicht mehr in Rheinland-Pfalz leben muss, habe ich eigentlich nie so etwas wie Heimweh verspürt, «I wouldn’t do the things the way those people do.» Während der Schulzeit habe ich dann alle meine Ersparnisse dazu aufgewandt, in den Mittleren Westen zu reisen, um gewissermaßen aus Rheinland-Pfalz zu entkommen. «I wouldn’t live there if you paid me.» Doch bin ich nicht wie erhofft nach Oz gelangt, sondern in der Pfalz Amerikas gelandet.
["Die Zerstörung Hamms"; fotografiert aus einem alliierten Bomberflugzeug]
14.04.2017
Hamm (Westphalia)
Auf
meinem Weg nach Essen musste ich in Hamm (Westfalen) auf Weiterfahrt
warten. «LIEBE FAHRGÄSTE, DER FAHRPLAN SIEHT ES VOR, DASS DER
HINTERE TEIL DES ZUGES DEM VORDEREN TEIL NACH MÜNSTER VORAUSFÄHRT.
DER VORDERE TEIL DES ZUGES FÄHRT UM 13:00 UHR IN UMGEKEHRTER REIHUNG
NACH DORTMUND HAUPTBAHNHOF HINTERHER. IN HAMM HABEN WIR AUFENTHALT.
AUSSTIEG IN FAHRTRICHTUNG LINKS», schallt es aus dem Lautsprecher
wie aus einem Zenturio. Ich ziehe ein kleines rotes Buch aus meiner
Jackentasche und lege meinen Kopf an die Fensterscheibe. Es heißt
Instructions for British Servicemen in Germany 1944 und ist
eine Art militärischer Verhaltenskodex, der während des Zweiten
Weltkriegs an die Tommys ausgegeben wurde: « Industry. Germany
is highly industrial. The German "Black Country" is in the
west on the Rhine and Ruhr, where what is left of towns like Cologne,
Dortmund, Düsseldorf, Duisburg, Essen, Bochum and many other cities
familiar from our Air Ministry reports, form one great industrial
area.» Es handelt sich eigentlich um einen Reiseführer, wie
einen Baedeker statt für Italien für das zerbombte
Deutschland. Er ist noch dazu im unaufgeregten Erzählmodus der
Alliierten geschrieben und bereitet mich mental auf Westfalen und den
Ruhrpott vor. Wenn man von Minden nach Hamm fährt, kann man Porta
Westfalica vom Fenster aus betrachten. Arminius oder Herman,
wie man ihn auf Englisch nennt, steht immer noch im Teutoburger Wald
mit dem Schwert über dem Haupt in Richtung Frankreich und schlägt
seine Schattenschlacht. Schon im Dritten Reich stand alles auf
Mobilmachung in Hamm. Es war ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt für
die Industrie und den Personentransport. Blitzkrieg. Der Bahnhof in
Hamm und Hamm selbst sind für mich ein Nicht-Ort. Wenn man hier
unfreiwillig festsitzt, kann man sich der Situation nur durch den
Schlaf entziehen. In meinen Augenlidern sehe ich die Bombardierung
Hamms aus Vogelperspektive wie auf einer Militärfotografie, die ich
erst einige Tage danach in einem Museum in Essen gesehen haben kann.
Auf Englisch würde man Hamm wohl Ham aussprechen, Ham
(Westphalia) wie Schinken. Als ich im Begriff bin, Hamm in einem
großen Pilz von meiner mentalen Karte zu tilgen, beginnt es nach
westfälischem Räucherschinken zu riechen. Eine Gasattacke?, saust
es mir durch den Kopf, aber im Abteil hat nur jemand seine Tupperware
geöffnet. Es sind Punks eingestiegen und singen Eisgekühlter
Bommerlunder. Ich vergrabe meinen Kopf in der Kapuze meiner Jacke
und höre ein eindringliches »Schinken!«. Es riecht nach Rauch.
Mein Zug hat bereits eine Dreiviertelstunde Verspätung. Geduldig
summe ich die Melodie von Noel Cowards Kabarett-Song Don’t let’s
be beastly to the Germans vor mich hin und denke mir, »don’t
let’s be beastly to the Hun«, als es endlich weitergeht. Im
Übrigen bin ich der Meinung, dass Hamm zerstört werden muss.
19.5.2017
Bielefeld
Die
Rückkehr nach Bielefeld fühlt sich an wie der Abstieg in die dritte
Fußballbundesliga. In den USA nennt man Tischfußball foosball
aber Fußball soccer im Gegensatz zu Football, während man im
britischen Englisch von Rugby spricht, was eigentlich wieder etwas
anderes ist und Fußball dort Football nennt oder einfach nur Footy.
Ich kann nicht glauben, dass ich nach dem Wechsel zum Studium
immer noch in Ostwestfalen feststecke. Von meiner westfälischen
Verwandtschaft hatte ich zu meinem vierten Geburtstag ein grellgelbes
Trikot von Lars Lupfen-Jetzt-Ja Ricken geschenkt bekommen. Auf
der Brust prangte das große C einer Versicherungsfirma oder eines
Reifenherstellers. Farblich erinnerte es mehr an die Warnwesten von
Bauarbeitern oder den scharfen Senf auf der Bratwurst der Fans.
Fußballerisch orientiert man sich natürlich an Dortmund, denn auch
in der östlichen Provinz Westfalens ist man fußballbegeistert.
Wochenends ziehen die Fans der Arminia mit ihren blau-weiß-schwarzen
Schals von der Currywurstbude am Jahnplatz über die Eckkneipen bis
zur Bielefelder Alm im Westen der Stadt. Auf den Rängen raunt man
sich den Namen des lokale Heros zu, den man man den »weißen
Brasilianer« nennt. Meinen Entschluss, wieder mit dem Fußballspielen
zu beginnen, muss man als Befreiungsschlag vor dem Sechzehner
verstehen, als Versuch nicht zu versauern und Anschluss zu finden.
Wenn man doch ein Ostwestfale wäre, gleichmütig und dröge, bei
Regen auf dem Spielfeld, schief in der Luft, immer wieder kurze
Sprints und Kopfbälle über dem unebenen Boden, bis man die Stollen
ließ und ausgewechselt würde. Die Wilde Liga Bielefelds ist 1976
aus einer Art grass roots-Bewegung gewachsen. Frauen und
Männer mit langen Haaren und sehr kurzen Hosen haben damals einige
brachliegende Spielfelder an der Radrennbahn im Osten der Stadt
besetzt, die ursprünglich als Trainingsgelände der Arminia
vorgesehen waren. Es war auch ein Protest gegen die Vereins-,
Turnier- und Ligenstrukturen des Deutschen Fußballbundes und dessen
»Kommerz«, wie man wohl sagte. An einem Sonntag bestreite ich mein
erstes Spiel: Zwischen Bierkästen und Regenschirmen werden mit
Filzstift primitive Zeichnungen auf ein Klemmbrett gemalt und
Taktiken ausgegeben. Die Spielerinnen und Spieler versammeln sich
mehr zu einem Haufen denn einem Kreis. Es ist eher ein Kneipenteam:
eine Grundschullehrerin, ein Badezimmereinrichter, eine
Sportartikelverkäuferin, ein Geflüchteter und ein Doktorand bolzen
zusammen – allesamt indigene Ostwestfalen. Es ist die älteste
wilde oder bunte Liga in Deutschland, die auch in anderen Städten
Fuß gefasst hat. Sie legen die Arme um die Schultern und brüllen
eine Art Schlachtruf in einer mir unverständlichen Sprache. Dann
finde ich mich auf der linken Außenbahn wieder in einer Art
Dauerlauf im Zickzack um die gegnerischen Spieler herum. Mir schwirrt
der Kopf und ich werde ganz balla. Abseits oder Foulspiele müssen
die Spielenden selbst anzeigen, denn es gibt keinen Schiedsrichter.
Es kommt zu verbalen Auseinandersetzungen, bei denen «genöhlt» und
«gebölkt» werden darf, wie es im Dialekt der Ostwestfalen heißt.
Meist gehen diese Wortgefechte fair und schnell vonstatten und werden
mit rituellem Schulterklopfen befriedet. Nach sechzig Minuten gibt
man mir Handzeichen, eine kleine Rolle mit den Fingern, dass ich
ausgewechselt werde und klatscht mich ab. Wenn das mein alter Trainer
wüsste, der mir damals angesichts meines Schneckentempos geraten
hatte, ich solle besser etwas Amerikanisches spielen, während er
seinen Sohnemann für den Kader konditionierte. Am Spielfeldrand
reicht man mir ein Bier mit Ploppverschluss, während ich auf einem
Bein stehend versuche, die Erdklumpen zwischen meinen Stollen mit
einem Stöckchen zu entfernen. Dann setze ich mich mit dreckigen
Stutzen auf eine Bierbank, schaue über das Spielfeld und merke, wie
ich ganz langsam verblöde.