Sonntag, 20. Januar 2019

The Gas Station (Variationen) [= S / W 5.3]



"Schmaler Weg" [MM]




»Standard« 1. Regel oder Norm (vgl. „Königsstandards“); 2. Die Standard Oil of Indiana stellte 1917 den Einheitstyp der Tankstelle vor, der mit Abwandlungen noch immer besteht. [s. auch »Standarte« (aus altfranzösisch ,estandart´, altfränkisch ,standort´ „Aufstellungsort“]




5. 3 Standard



Hastig schrieb er nunmehr auf die ersten Seiten seines Notizbuchs, die eigens, so schien es ihm, für diesen Moment aufgesparten Worte für seine „armen Leser“:

Sie haben es sich im Leben verdammt leicht gemacht, beispielsweise indem sie uns in die Welt setzten ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, welche Folgen das, und zwar für uns haben würde. Die Folgen haben sie für sich selber vielleicht so halbwegs bedacht, nämlich dass wir eine Art Spielzeugversion von ihnen werden sollten, was auch in den meisten Fällen funktioniert. Aber mein Freund Saeed und ich sind Kuchenbruch, gebacken um in der Tüte verschenkt zu werden. Wir werden von armen Kindern gegessen. Zum Verkauf sind wir nicht geeignet. Trotzdem sind wir im Mund der Kinder süß, und sogar der Konditor lächelt, weil wir ihn praktisch nichts kosten. Die kleinen Tütchen, die der himmlische Zuckerbäcker mal auf mal neben der Ladentheke hinstellt, bleiben da nie lange, was wir nicht wussten. Ganz dunkel und trocken war es um uns geworden, einfältigerweise hatten wir beide zum großen Kuchen gehören wollen, aber wir waren eben Bruch und kamen, wenigstens nicht in die Tonne, dafür in die Tüte. Während man an Wohnzimmertischen Kuchen aß, auf gestärkten Tischdecken bei dampfendem Kaffee, zu unseren Kindertagen noch aus der Kanne, an der sich vorne mit einem Gummichen befestigt ein rosa Schwämmchen befand, waren wir die Krümel. Ein verfressener Onkel, von dem Saeed mir immer erzählte, war dem Laster des Krümelfressens verfallen. Man konnte in seinen fetten Schlund geraten oder zwischen seinen gelben Zähnen kleben. Die Mutter, die die Marotte des Bruders hasste, griff nach dem silbernen Plastikschäufelchen mit dem geschwungenen Besenchen und fegte das Tischtuch sauber. Kinder waren zu unserer Zeit unter den Verwandten die Trabanten. Wären wir so giftig gewesen wie der kleine Oskar, wir hätten unterm Tisch getrommelt, dort wo der bestrumpfte Fuß von Onkel Jan am Bein unserer Mama hinaufgefahren wäre, während unser Papa seine letzten Trümpfe krachend auf den Tisch schlug. Aber das Drama unserer Eltern war nicht das der Erwachsenen im Dritten Reich, sondern das der Kinder jener Zeit. Auch ihre Eltern hatten nicht das Schicksal ihrer Kinder im Blick, als sie sich ihnen passieren ließen, sondern ihr eigenes, an dem sie gierig schluckten, zerrten und sogen. Krümel und ich sind dazu da, in diesem Spiel den Herz Buben auszuspielen. Herz Dame kann nicht bedienen, wird also mitgenommen.

Und so geht die Geschichte: Rohlfs ist ein Tor, der einer Reihe von Mädchen in die Bahn gerät. Jedes Mal ist seine Wahl verzweifelter. Wie jeder Sünder versucht er begangene Taten durch weitere Sünden gut zu machen, bis ihm der Alp auf der Seele kniet, ihn am Hals würgt und ihm ins Gesicht spuckt. Unterdessen wirft er erste Blicke in die Welt anderer Erwachsener als derer am heimischen Küchentisch. Das Tor zur Welt ist, ganz wie es die Epoche vorsieht, das nach Amerika, allerdings in einer besonderen Variante: die US-Streitkräfte in Europa. Die Spur Rohlfs' verliert sich Anfang, Mitte der achtziger Jahre, der New Wave konnte ihn nicht erlösen. Anstatt zu studieren, wie das seine Eltern sich vorgestellt hatten, beginnt er zu kellnern. Sein südländisches Aussehen, das er durch einige Tricks noch ein wenig aufpoliert, lässt ihn als Iraner durchgehen. Das Ganze funktioniert in einer Weise, dass nach einer Weile niemand mehr an seiner wahren Identität interessiert ist. Wegen seiner iranischen Freunde, die sonst noch nichts von deutschen Wahliranern gehört hatten und sich um den Unterschied bald nicht mehr kümmerten, wenn es denn solche Unterschiede in Wirklichkeit überhaupt gab, geriet er im Versorgungsamt in erhebliche Schwierigkeiten. Schließlich lernen wir den Rohlfs kennen, der die Konsequenzen aus dem zieht, was ihm das Schicksal ihm bescheiden wollte. Er spielt ein Spiel. Dieses Spiel ließe sich bis hinaus ins weite Weltall weiterspielen und wird auch von manchen auf diese Spitze getrieben. Dahinter verbirgt sich eine Mafia aus Motorradhelden, die früher einmal Schlagerstars waren, oder im wirklichen Leben Handwerker sind, die zu viel Geld verdienen. Wie ein Dieb lacht darüber Helmuth Wilhelmy, den wir sonst schlafend auf einer Couch in einer Fernschreiberstube kannten.

Durch einen Stich in seinem Nacken, einem Wespenstich ähnlich, vielleicht noch etwas schmerzhafter, wurde Rohlfs jäh aus seinen Aufzeichnungen gerissen und zuckte kurz zusammen. Beinahe hätte er die Gegenwart der Soldaten vergessen, die sich nun unter bösartig aufheulendem Gelächter erneut bemerkbar machten. "Na, hat dich wohl 'ne Tarantel gestochen, Alter?", kommentierte Köhler sarkastisch. "Sicher hat's der Haber nicht so gemeint, oder Haber? Grins nich' so, Haber. Halt einfach 's Maul, Mann!"

Rohlfs biss in seinen Füllfederhalter um den Schmerz zu verdrängen, konnte sich aber nicht erwehren die entsprechende Stelle mit seiner freien Hand zu massieren.

Offenbar musste es sich bei Siggi um das jüngste und vermutlich auch schwächste Mitglied der Gruppe handeln, da er sich derart leicht herumkommandieren ließ. Rohlfs stützte seinen Ellbogen auf den Rücken des noch immer aufgeschlagenen Notizbuchs und nahm einen übertrieben großen Schluck aus seinem Kaffeebecher. Zu viel stand andererseits auf dem Spiel für die drei Burschen, als dass man ihm in aller Öffentlichkeit Gewalt antun würde. Die Bereitschaft hierzu signalisierte Köhler allerdings, indem er die sperrige Bierdose recht theatralisch wie ein Blatt Papier zerknüllte. Vielleicht würde man ihn aus der Cafeteria hinausmanövrieren um ihn in irgendeine abseitige, dunkle Gasse zu drängen. Zweifellos war es kein Spott, der ihm in der Übermacht der Waffenträger begegnete; es war Hass, den er aller Wahrscheinlichkeit nach durch seinen ungehemmten Vortrag über Heimat im WC-Bereich heraufbeschworen hatte. Mochte er auch in mancher Hinsicht weiterhin in der Lage sein, seine geistige Überlegenheit so einzusetzen, dass er für seine Peiniger kein würdiges Opfer mehr darstellte, so war es doch eine unwiderlegbare Tatsache, dass er sich im Kriegszustand befand. Folglich wollte er unter keinen Umständen seine neu gewonnene Stellung als amerikanischer Verteidiger aufgeben, zumal seine bisherigen Kampfhandlungen durchaus den Eindruck einer gewissen Hinterhältigkeit und Strenge vermittelt haben mussten. "Well, after all we're only here to make money", sagte er und setzte den Becher erneut an die Lippen, ließ ihn aber sogleich wieder sinken als ihm bewusst wurde, dass er bereits leer war. "Looks as though the whole place might fall down one day."

Die Tatsache, dass man keiner seiner widersinnigen Äußerungen Beachtung schenkte, konnte naturgemäß mit den stark eingeschränkten Englischkenntnissen der drei Soldaten des 117. Infanterieregiments zusammenhängen. In Frage kam gewiss auch, dass sie ganz offensichtlich stillschweigend beschlossen hatten, ihm vermittels ihrer Gleichgültigkeit eine empfindliche Niederlage zuzufügen. Selbstverständlich ließ sich ihre momentane Absenz nicht zuletzt durch die Anwesenheit der schlanken weiblichen Gestalt erklären, die sich emsig an der benachbarten Sitzgruppe zu schaffen machte, die er vor wenigen Minuten noch als Rückzugsort nutzte. Rohlfs stützte den Kopf in die linke Hand, um seine Augen diskret abzudecken, sodass er sich durch ein rasches, unauffälliges Öffnen des rechten, gesunden Auges in die Lage versetzte, einen schärferen Blick auf das Wesen in seiner Nähe werfen zu können, bei dem es sich bar jeden Zweifels um eine Reinigungskraft handelte, welche die eingetrockneten Reste der Ketchuplache zu entfernen versuchte. Erst an den feingliedrigen Händen der Reinigungskraft erkannte Rohlfs, dass Lucia ihm aus der grässlichen Lage, in der er sich befand, heraushelfen würde. Siegesgewiss und unbeschwert öffnete er nunmehr beide Augen, musterte Haber und Köhler angriffslustig, die noch immer voll und ganz in den Bann dieses Wesens gezogen waren, um sich schließlich wieder in sein Notizbuch zu vertiefen. Was sollte man ihm jetzt noch antun können?

Die Liebe zwischen Mann und Weib, anstelle der des Sohnes zur Mutter, war eine dem Dreizehnjährigen unbekannte Sache, die ihn gleichwohl gefangen nahm. In seinem Tagebuch liest man: "Ich blicke auf Lucia wie eine Göttin. Manchmal, wenn ich näher an sie herankomme oder sie zufällig am Arm streife, schwebe ich in Seligkeiten; ein andermal könnte ich mich umbringen, wenn sie mich nicht beachtet. Ich könnte mit Goethes Klärchen singen: "Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein; langen und bangen in schwebender Pein".

"Trink noch 'en Kurzen, Rosen! Singt sich dann gleich noch 'n Stück besser! Wirst sehen!", hörte er den Soldaten Siggi vertrauensselig neben sich sagen, der seiner Rolle als Laufbursche weiterhin treu geblieben war. "Melde gehorsamst, zwei Bier und zwei Kurze für die Herren Hauptfeldwebel! Die Möse und das Tintenfass sind beide an der Öffnung nass. Das kommt vom vielen Tunken - Prosit ihr Halunken!"

Doch seine Liebesträume waren keine Wirklichkeit; er hatte Angst, die Angebetete, eine Mitschülerin in der vom Prediger gehaltenen Religionsstunde, auch nur anzureden. Im Tagebuch gestand er: "Habe noch keine Courage gehabt, mit ihr zu sprechen. Es sind ja auch immer andere Mädchen bei ihr, und ich habe Angst, sie könnten mich auslachen. Wenn sie einmal allein ist, werde ich es versuchen. Ich muss mir dieses "Langen und Bangen" von der Seele wälzen, der Prediger hat mir geraten, zu ihr zu gehen."

Und endlich war es so weit.

"Mai descurcă-te cu ăstia un pic. Baieţii mei vin imediat înapoi, şi putem să plecăm impreună!", flüsterte Lucia ihm im Vorbeigehen zu. "Verstehst wohl auch Russisch, Rosen! 'N echter Überflieger unser Verseschmied!", übertönte Habers grollende Stimme seine soeben aufkommende Hoffnung mit der eindeutigen Absicht diese zu zerstören. "Wie eine Göttin!", ließ nun auch Köhler verlautbaren. "Wir machen gleich 'nen Abstecher ins Laufhaus auf 'm Damm, Rosen! Wirst sehen, das kühlt dich etwas runter! Aber nicht mehr als zwei- bis dreimal hintereinander – sonst tut's weh!", fügte Siggi unvermittelt hinzu, doch noch immer konnte Rohlfs weder Spott noch Hohn in den Gesichtszügen der Soldaten lesen, musterte seine Gegenüber nun aber mit unverhohlener Abneigung.

Lucias Durchhalteparole gab ihm die Kraft für den letzten Etappensieg. Man würde ihn hier herausholen und in Sicherheit bringen.

"In wartime a soldier fights for peace and dignity!", erhob er nun tatsächlich triumphierend seine Stimme.

Ohne ihre weitere Reaktion abzuwarten, blätterte er erneut in den Seiten seines Notizbuchs und las die gesuchten Zeilen: Also, ich war bei ihr. So, das war einmal mannhaft. Es war schon ganz dunkel. Ich hatte meine Anhängsel verabschiedet; ich war allein. Eine schlanke Gestalt eilte durch den Ledergraben. Ich wusste nicht – war sie es oder war es eine andere. Doch ich lief und holte sie ein. Sie war es! In mir strudelte es und stürmte es, ich sagte mir: "Jetzt keine Bedenken; es muss sein!" und mit ein paar Schritten war ich bei ihr. "Guten Abend! Wie geht es dir?", sagte ich. Ich gab ihr die Hand, und sie reichte mir zögernd die ihre. Eine schneeweiße Hand im Dunkeln. Wie ich zitterte, an nichts dachte, nur ihre Hand fühlte! Wenn einer – es gibt solche Nüchterlinge – sagen würde, das sei alles Einbildung – nein, ihr Götter, nein und tausendmal nein! Das ist Liebe! Ich fühle es und weiß, was Liebe ist. Ich wiederholte meine Frage. "Dankeschön, gut...", sagte sie leise. Ich schauderte, war furchtbar aufgeregt. Und da kam das Grässliche, von dem ich nicht vorher weiß, dass es kommt. Als ich aus dem Anfall erwachte, war sie nicht mehr bei mir; sie war weit voraus gelaufen. "Nun alle Männlichkeit zusammengenommen, ihr nach und sie angeredet!", sagte ich mir, und das tat ich. "Verzeih mir, mir war eben nicht gut!", sagte ich. "Ich bin etwas nervös. Der Prediger sagt, das sei nichts Schlimmes; er will mich heilen." Sie erwiderte nichts darauf, kein Wort. Während ich weiter neben ihr herging, sagte ich: "Warum bist du so still?" Keine Antwort, nur stumme Schritte neben mir. Doch meine ich, ein feines Lächeln auf ihren Lippen gesehen zu haben. "Auf Wiedersehen!", sagte ich mit wehem Herzen, ließ sie allein weitergehen und ging eilends heim. Niemand war zu Hause. Ich war froh darüber. "Hinaus aus dem Haus! Hinaus aus der Stadt! Alles hinter mir zurücklassen: Leben, Liebe ... und Hass und Dreck!", rief ich. "Nur eins mitnehmen: die große Liebe ... den ewigen Schmerz!"

Es war Nacht, kein Stern war am Himmel zu sehen, aus der Stadt unten schienen Lichter und grollte ferner Lärm herauf. Hier oben auf der Wallstraße war alles ruhig. Tiefe Ruhe herrschte, kein Laut war zu hören. Mein Herz war voll Bitterkeit. Ich war böse auf mich, auf meine Nerven, auf Gott und die Welt, und auch auf – Lucia. Warum blieb sie nicht stehen, lief einfach fort, ohne sich um mich armen Teufel zu kümmern? O, ich hätte ein "wildes, Gott verleugnendes Lied" singen können, wie der Prediger neulich eines vorgelesen!

War es der erneute Andrang vor dem Verkaufstresen Mandys oder das Brummen von Köhlers Mobiltelefon, das die Aufmerksamkeit der Soldaten vollends von ihm ablenkte? Rohlfs konnte weder diese Frage beantworten noch mit letzter Sicherheit rekonstruieren, was und ob er den Soldaten überhaupt nachvollziehbare Passagen aus seinem Notizbuch vorgelesen hatte.

Es schien ihm, als habe er vereinzelte Sätze verlautbaren lassen, doch konnte er sich hierin selbstverständlich auch irren. Vermutlich stand sein Zustand auch im Zusammenhang mit dem Medikament, das er inzwischen nicht mehr allzu oft einnahm. Künftig wollte er gänzlich auf die Atosiltropfen verzichten, zumal er glaubte ein wenig Temperatur bekommen zu haben. Unvermittelt erhob sich der Trupp von seinen Plätzen und begab sich ohne ein weiteres Wort an ihn zu verlieren zum Ausgang. "Amazing behavior pattern!", rief Rohlfs den Soldaten hinterher, doch vermutlich nahmen sie auch hiervon keine Notiz mehr. Lediglich Mandy, die ihn an einen dieser unzähligen, gealterten Teenager erinnerte, deren grobschlächtige Schlagfertigkeit, so dachte er nunmehr, zu den größten Errungenschaften des Wirtschaftsstandortes gehörte, warf ihm vom Verkaufstresen her schamlos einen vorwurfsvollen Blick entgegen. War Mandy nicht auch der Name der letzten Sekretärin von First Lieutenant Striker? Womöglich kannten sie sich? Eine leichte Ähnlichkeit in den Gesichtszügen der beiden Frauen war unbestreitbar. Oder hieß sie nicht doch Macy? Macy Righteous. Das gleiche selbstbewusste Auftreten!

"You can show me all the necessary documents, I presume?", verhöhnte ihn Miss Righteous in den Monaten vor seiner Entlassung beinahe täglich und gewiss war es auch sie, die aus seinen Berichten regelmäßig wichtige Unterlagen entfernte um ihn bei seinen Vorgesetzten zu diskreditieren. Naturgemäß handelte sie im Auftrag First Lieutenant Strikers. Es sei die ausdrückliche Anordnung des Lieutenants die Unterlagen durch sie überbringen zu lassen, zumal es nicht nachvollziehbar sei, weswegen er den Bericht persönlich überbringen wolle. Sofern er ihr misstraue, solle er es nur gerade heraus sagen. Seine Tage im Amt seien ohnehin gezählt. Saeed hatte die Lunte rechtzeitig gerochen und sich der Demütigung, als Saboteur entlarvt zu werden, durch seine Kündigung entzogen. "What else was he, but a left-wing extremist?", hörte man die Angestellten im Nachhinein lauthals klagen. Es hätte ohnehin nicht die geringste Möglichkeit gegeben, sich adäquat zu verteidigen. "Anything you say or do can and will be held against you in a court of law."

In den ersten Stock zurückgekehrt, stand Alois lange unbeweglich am Fenster und sah auf die dunkle, regennasse Straße hinaus. Er sann seinen Anfängen nach; die Welt des Knaben lag greifbar nahe vor ihm. Einen Augenblick war er versucht, es so anzusehen. Dann kämpfte er diese Regung entschlossen nieder. "Bekenne dich zu dir selbst!", rief er sich zu. "Wir dürfen unser angeborenes Sein und Wesen nicht verleugnen. Unsere besonderen Kräfte müssen einen Sinn und Zweck gehabt haben. Wir müssen sie entwickeln, auch wenn sie den Rahmen der Menschenwelt zu sprengen drohen." Aber der Drang zum Grenzenlosen, zum Hohen und Großen – gefolgt freilich oft von einem widersinnigen Abstieg in Nacht und Daseinsirre – gehörte er nicht schon dem Knaben? Was für Weiten umschloss nicht dieses Herz!

Alois dachte an die Gänge um die halbe Stadt herum, den Strom hinauf und hinunter oder die Pariser Chaussée hinaus. Auf jeden Fall führten sie weg vom Getriebe der Menschen, das ihn störte. Der Blick auf den Rhein und sein unaufhaltsames Strömen, auf die im Dunst verschwimmenden oder sich nähernden und sich deutlicher abzeichnenden, oft greifbar nahen Taunushöhen – er tat ihn noch immer und immer wieder.

Was nur mutete man dir zu, Alois? Selbst posthum beschmutzen sie dich, die Soldaten des 117. Infanterieregiments. Was nur hatte Rohlfs dem Ahnen angetan, ihn mit dem entweihten Wasser aus dem Toilettenbecken zu besprengen. Allzu vieles war durch das Malheur unlesbar geworden. Es musste umgeschrieben werden, ohne den Sinn all jener großen, erzieherischen Erkenntnisse selbstverständlich allzu sehr zu entstellen.


Man förderte den Durchschnitt.


Hierin gipfelte Alois' Erkenntnis, dachte Rohlfs, während ihn das Fieber zunehmend zu verkrampfen begann. Hierin! Weshalb hätte er sich weiterhin in Henry Fords Karosserien den Schlachten auf dem Asphalt ausliefern sollen, zumal man ihm die Windschutzscheiben jedes soeben neu erworbenen Fahrzeugs – vermutlich vermittels Satellitenbeschuss – beschädigte um winzige Kameras im Frontglas einzusetzen. Kaum wahrnehmbare Miniaturen im Glas!



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