Freitag, 20. März 2020

Bzw. ۲ ۳ ۸ [Serenity - метаморфозы 5 (для Франц Кафка)]




["Hamburger", Siegfried Feid (2019)]


Er frißt den Abfall vom eigenen Tisch; dadurch wird er zwar ein Weilchen lang satter als alle, verlernt aber oben vom Tisch zu essen; dadurch hört dann aber auch der Abfall auf. [Franz Kafka, »Nachgelassene Schriften« (1918)]



["Zentrum der Macht", Siegfried Feid (2018)]





Er ist ein freier und gesicherter Bürger der Erde, denn er ist an eine Kette gelegt, die lang genug ist, um ihm alle irdischen Räume frei zu geben und doch nur so lang, daß nichts ihn über die Grenzen der Erde reißen kann. Gleichzeitig aber ist er auch ein freier und gesicherter Bürger des Himmels, denn er ist auch an eine ähnlich berechnete Himmelskette gelegt. Will er nun auf die Erde, drosselt ihn das Halsband des Himmels, will er in den Himmel, jenes der Erde. Und trotzdem hat er alle Möglichkeiten und fühlt es, ja er weigert sich sogar, das Ganze auf einen Fehler bei der ersten Fesselung zurückzuführen. [Franz Kafka, »Nachgelassene Schriften« (1918)]






5


 Gregor,
 heute zum ersten Mal wieder so etwas wie Inspiration gespürt, du kennst das sicherlich, wenn das Gefühl weg ist, kann man sich nicht vorstellen es jemals wieder zu haben, und wenn es da ist, ist es ganz klar.
Es meldet sich gewöhnlich mit meinen üblichen Obsessionen. Nr. eins, mein Held geht an einem monströsen Parkplatz vorbei, der perverserweise beinahe das komplette Zentrum der Kleinstadt einnimmt, eigentlich logisch, weil drumherum eingekauft wird, genauer gesagt, geshopt, du weißt, dass das meinen Erzählnerv kitzelt ... Dabei ist es ein Ritual und sollte mit meinem Verständnis rechnen. Shopping ist so etwas wie das Herausreißen von Herzen bei (erst noch) lebendigem Leib, vorzugsweise eigens dazu herangezogener Prinzen und Prinzessinnen. Nicht, dass die Priester die Herzen äßen und davon, ich betone, davon fett würden. Das sind sie durch die gewöhnliche privilegierte Lebensweise der Elite, ganz normales Fett, sozusagen. Mein Held geht an diesem Parkplatz vorbei, den irgend eine Fernsehshow vollständig mit Ambulanzen beparkt hat, jedes einzelne der Hunderte geparkter Autos ein monströser Krankenwagen in den üblichen grellen Signallackierungen, etwa auf die Art, die Wagen im Stau von Mr. Hulo, nicht gerade mit Martinshorn, im Gegenteil, sozusagen ganz normal geparkt. Eine Art Showmaster tritt an den Passanten heran, um ihn zu fragen, ob ihm in der Stadt am heutigen Tage etwas Besonderes aufgefallen sei. Es ist ihm nichts aufgefallen. Wie ich in die Geschichte noch einbringen könnte, dass Krankenwagen seit Kindertagen zu den Schrecken zählen, die ihn in unzähligen Alpträumen heimgesucht haben, weiß ich nicht, wie gesagt, ich bin ja selber der Held, Krankenwagen gehören zu meinen Obsessionen; dafür taub sein zu können, erhöht meiner Ansicht nach ihren Schrecken.
Wundere dich nicht, dass ich ein paar Schritte weiter an einem Leichenwagen vorbeikam, den der Bestatter auf dem Parkplatz vor seinem Laden lüftete. Von einem Leichenwagen überfahren zu werden, gehört, glaube ich, schon zum Repertoire, woran ich erkenne, dass die Inspiration im Abklingen begriffen war; ich hatte dann noch eine weitere, dem Gefühl nach eine strukturelle, an die ich mich aber wegen des fehlenden Bildes nicht erinnern kann. Meine Seele ist irgendwie in Aufruhr, ich weiß nicht, was es ist, werde meine Nase in den Wind halten. Es wurmt mich auch etwas und ich weiß nicht, wann die Beule, in der dieser Wurm heranwächst in seinem Eiter, platzt. So nebenbei hatte ich gestern aus der eigenartigen Abwesenheit heraus, die mich befällt, einen kleinen Verkehrsunfall. Die Sache ist völlig ohne irgendeine Aufregung an mir vorübergegangen; am heftigsten fühlte ich den damit einhergehenden Zeitverlust. Dabei muss die arme Frau, der ich die dämliche Beule gefahren habe, ja viel mehr Zeit aufbringen, während ich bloß einmal mit der Versicherung telefoniert habe und wahrscheinlich einen Brief lesen muss, in dem sie mir die Erhöhung der Prämie mitteilen. Material für eine unsere Spinnereien wäre die Tatsache, dass ihr Bordcomputer meldet, dass ich ihr den Abstandsmelder kaputt gefahren habe. Irgendein Vogel kreist über mir, ich wollte, es wäre ein Schutzengel, wüsste aber, wenn die neuerdings schwarz wären. Schließe mich in dein Abendgebet ein.
Dein Max


Max,
Schöpfung aus dem Shop, etwa aus den News des tagtäglichen Trashs im Net zu holen, Instantschöpfung mit einer kleinen Plastikkelle als Gimmick, vielleicht gibt dir das noch ein mehr wenig Inspiration. In meinem Abendgebet gratulierst du Franziskus zu seiner guten Absicht, seinen brandneuen Lambo meistbietend zu einem weltverbessernden Zweck zu versteigern, beispielsweise bei Christie's, wo man schließlich gerade Leonardos Christus für 450.000.000$ dem großen Unbekannten preisgab. Bemerkenswert ist des Weiteren, dass sich Moderatorinnen, deren Namen ich mir nicht merken kann, regelmäßig frisch verlieben; gewiss leben sie alle in den moderaten Häusern, die ihre Liebhaber ihnen kaufen und deren Preis letztlich, wie nahezu alles andere auch, beliebig ist. Die Beliebigkeit diktiert die Abendgebete in gleichem Maße wie den Alltag, in dessen Belanglosigkeit sich gelegentlich kleine Intrigantinnen mengen, die ihre libidinösen Störungen dem lyrischen Ich obsessiv entgegenschleudern. Über eine dieser Intrigantinnen schreibt der Held gewiss, sobald ihm die Sinne danach stehen und sofern ihm zwischenzeitlich nicht eine andere beliebige Begebenheit dringlicher erscheint. Übrigens habe ich mich längst in diese Art Briefroman verliebt, die sich mit jeder Art von Alltäglichem bis hinein ins Weltalltägliche verbinden lässt, das von Wurmlöchern (und anderen Spinnereien) bekanntlich nur so strotzt. Einen sehr poetischen Abstandsmelder fand ich jüngst im Vorwort zu Tennessee Williams' "Cat on a Hot Tin Roof",  wovon ich dir bei unserer nächsten Begegnung gern Näheres, Person-to-Person gewissermaßen, berichten will.


Bzw.,
G.


Post scriptum: Vierzig Tage. - »Noli me tangere« lautet die Parole, das Zeichen, ja, der Schlachtruf gekrönter Zeitläufte, welchen wir unsere Kränze spenden. [Z. Z.]



(Vorläufiger) Epilog



Einmal wurde Kafka gefragt, ob er so einsam sei wie Kaspar Hauser. "Viel einsamer", antwortete er, "ich bin so einsam wie Franz Kafka."
Ob es ihm je auch so gegangen sei, wie Mick Jäger, wollte ein Freund Gregors wissen, dass er niemanden finde, der ihn befriedigen könnte. "Nein", sagte Gregor, "ich finde erst niemanden, der ein Verlangen in mir weckte." - "Echt jetzt, und du bist sicher, du hast nicht, ich meine, über so was kann man heute offen reden. Verstehst du, wenn du dich nicht richtig fit fühlst, das ist das erste, was ich bei meinem Urologen auf'm Plakat lese. Nicht dass du meinst, bei mir wär's schon so weit, ohne Scheiß' jetzt, ich glaube, das geht sogar auf Kasse." - "Gab's das Zeug nicht schon immer, hieß nur anders und war bestimmt auch primitiver, auf den Groschenheften hinten, wo's auch immer was gegen Haarausfall gibt und diese Seniorenmobile?"
Das Gespräch hatte eine Wendung genommen, bei der es dem Freund nicht mehr recht geheuer war. Irgendwie war ihm an diesem Tag das Wort satisfaction durch den Kopf gegangen, wie er Gregor erzählt hatte, und dann war der Ohrwurm von dem alten Lied da und wollte nicht mehr verschwinden. Alte Zeiten, herrje! Gregor erinnerte sich, dass er einmal eine Weile an dem Wort herumgekaut hatte, die Stones hatten für ihn etwas Onkelhaftes, und er fragte sich, was ihn eigentlich gegen sie aufbrachte. Ernstlich von ihnen hörte er erst, als man von ihnen gehört haben musste. Kennst du das und das? Er jedenfalls kannte es nicht, konnte sich auch nicht vorstellen, dass man all die englischen Texte verstehen könnte. Satisfaction konnte man auch nicht übersetzen, das klang nach Aufklärung und Oswald Kolle. Tatsächlich müsste man mal überprüfen, ob es in dem Lied wirklich auch darum geht. Manchmal bildete man sich Sachen ein und blieb drauf hängen. Gregor kannte das. Wenn es aber so war, dass Mick Jagger keine Befriedigung finden konnte, das was ihn und seine Jungs daran hinderte, hatten sie jedenfalls gehörig aus dem Weg geräumt. Irgendwie klangen alle sexuellen Wörter auf Deutsch nach Ehehygiene und FKK, Erregung, ein peinliches Wort. Und es traf auch nicht die Sache, auf höchst ärgerliche Weise sogar. Wer hatte nicht Erektionen zu den unpassendsten Gelegenheiten, beispielsweise aus bloßer Müdigkeit! Excitement, dachte Gregor, oder was er neulich einmal ausprobierte, auch weil er es aus einem Lied kannte, sogar aus einem ziemlich alten: thrill. "Das sag mal auf Deutsch", sprach er zu sich selber, so wie er es oft tat, besonders seit er sich zu einem guten Kameraden geworden war. Es war nicht so, dass man selber einfach versagte. Man steckte darinnen in einer Blase aus Versagen. So musste es Menschen im Mittelalter gegangen sein, die sich umzingelt sahen von einer unbegreiflichen Natur, von einem unfassbaren Mangel an allem Möglichen. Dabei gab es immer auch welche, die keinen Mangel litten, und die gesegnet waren mit Wissen. Es hatte etwas damit zu tun, dass man eine Barriere überwand, das hatten wohl auch die Stones gemacht, und Millionen Fans konnten diese Barriere auf diese Weise auch für sich überwunden finden. Das war wie in den alten Mythen, es genügte den Ritus exakt zu vollziehen, und er entfaltete seine Wirkung. Eingeweiht musste man allerdings sein, Gregor war es nicht, diese Weihe hatte er nicht empfangen. Er wusste es, dass er nicht darum gebeten hatte, was man eben dann doch tun musste. Niemand erteilte dir irgendwelche Weihen, wenn du nicht wenigstens das Haupt senken willst. Lerne also die angesagten Sachen und bringe sie vorsichtig ein, so dass die anderen nicht merken, dass es eine gelernte Sache ist. Sie wollen nicht an ihre eigene Demütigung erinnert werden. Vergleiche darfst du schon gleich gar nicht anstellen, weshalb der Freund auch irgendwie bereute das Thema angeschnitten zu haben. Gregor war komisch, ein netter Kerl eigentlich, aber komisch. Andauernd kam man mit ihm in komische Situationen, bei den einfachsten Sachen eigentlich.

Dienstag, 10. März 2020

Bzw. ۲ ۳ ۷ [Acknowledgement - метаморфозы 4 (для Франц Кафка)]





["Friss Deine Feinde", Siegfried Feid (2017)]


Die Enge des Bewußtseins ist eine soziale Forderung. Alle Tugenden sind individuell, alle Laster sozial. Was als soziale Tugend gilt, etwa Liebe, Uneigennützigkeit, Gerechtigkeit, Opfermut sind nur »erstaunlich« abgeschwächte soziale Laster. [Franz Kafka, »Nachgelassene Schriften« (1920)]



["Apokalyptische Worte", Siegfried Feid (2017)]


Wenn es möglich gewesen wäre, den Turm von Babel zu erbauen, ohne ihn zu erklettern, es wäre erlaubt worden. [Franz Kafka, »Nachgelassene Schriften« (1917)]



["Kunststoff", Liana Helas (2020)]

Der Kapitalismus ist ein System von Abhängigkeiten, die von innen nach außen, von außen nach innen, von oben nach unten und von unten nach oben gehen. Alles ist abhängig, alles ist gefesselt. Kapitalismus ist ein Zustand der Welt und der Seele. [Franz Kafka zitiert nach Gustav Janouch, »Gespräche mit Kafka. Erinnerungen und Aufzeichnungen«]





4




In den Gebrauchtwarenladen gegenüber vom Krankenhaus trug ich oft kistenweise Schallplatten, die sich anfangs noch rasch verkauften; irgendwann jedoch verweigerte der Antiquar den weiteren Ankauf, da er meinte, es würden sich keine Käufer mehr für dieses Zeug finden. Er habe sich inzwischen auf gusseiserne Töpfe und Räucheröfen spezialisiert. Auch Geschirr und Modelleisenbahnen gingen nach wie vor sehr gut.
"Wissen Sie eigentlich, dass es geradezu Heerscharen von Antiquaren in diesem Land gibt? Jeder ist ja heutzutage ein potentieller Antiquar und es ist nicht im Geringsten abzusehen, über wie viele Generationen diese Privatisierung des Expertentums sich hinstrecken wird. Was bleibt den Erben Lesender, Schreibender, Hörender und Rechnender letztlich auch anderes übrig als den für sie nutzlosen Nachlass ihrer Vorfahren schonungslos und respektlos zu verhökern? So ist es andererseits immer noch besser als würde man die Erbstücke schlichtweg im nahegelegenen Wertstoffhof entsorgen, nicht wahr? Die Leute sind ja letztlich Sklaven des Designs und glauben unerschütterlich an die ihnen eingeredete, gleichsam eingebildete Individualität, an Wachstum, Innovation und selbstverständlich Fortschritt. Das Design regiert die Auswahl der Sonnenblenden in ihren geleasten Neuwagen. Ihre Websites, Tattoos und Klingeltöne. Die Bibliophilie, Herr Doktor, ist für die breite Masse bereits nichts anderes mehr als eine verspottenswerte Absonderlichkeit."
Zum Zeichen der Ergebenheit kaufte ich meinem Antiquitätenhändler ein unvollständiges japanisches Teeservice mit einem Drachenmotiv und der Lithophanie einer Geisha ab. Es zeigte auch Guanyin, die Göttin der Barmherzigkeit, in Gesellschaft von Arhat, dem Erleuchteten. Das im Tassenboden durchscheinende Gesicht einer Geisha, so ließ ich mir erklären, sei ein Markenzeichen hochwertigen Porzellans. Vielleicht würde Veronika sich darüber freuen, dachte ich.
Die Leute laufen zum Antiquar, und das Geld, das er ihnen zahlt, stellt die Rechtfertigung dafür dar, dass sie sich solcher Gegenstände entledigen, die zu erwerben einmal ein Opfer forderte. Das, womit sich ein Gegenstand schmückte, erhielt sich für einen wesentlich kürzeren Zeitraum als seine reine Brauchbarkeit. Die Brauchbarkeit von Dingen erhält sich für einen wesentlich längeren Zeitraum als das, womit er sich schmückt. Dass man etwas nicht mehr für schmuckvoll hält, entwertet eigentlich einen Gegenstand. Im Antiquitätenhandel wird etwas Altes wieder neu dadurch, dass es eine Weile unserer alltäglichen Wahrnehmung entrückt war. Man brachte ja Dinge nicht zum Antiquar, weil sie noch brauchbar waren, so dass ärmere Leute sich damit ausstatten konnten. Arme Leute kauften von jeher Neues, das allerdings billig. Im Antiquitätenladen kauft ihr Dinge, die vielleicht einmal nicht nicht billig waren. Das ist der Unterschied zum Flohmarkt, wo es auch jede Menge Sachen gibt, die bloß alt sind, sogar kaputt. Natürlich gehen die Meinungen über den Wert der Dinge auseinander. Veronika war ziemlich treffsicher in dieser Hinsicht. Unter einigen ziemlich traurigen Vertretern fand sie die alte Thermoskanne heraus, die unter ihren schönen Händen sich in das Schmuckstück zurückverwandelte, das es einmal war. Dazu musste es auch wieder zu einem Gegenstand des täglichen Gebrauchs werden, so dass man bei ihr in der angenehmen Ruhe einer sonderbaren Zeitlosigkeit lebte.


Intermezzo


Wenn ich kameradschaftlicher Nähe überdrüssig wurde, insbesondere von derjenigen Art, die mich mit irgendwelchen Sentimentalitäten in einem Maße belästigte, das mir als würdelos erschien, bediente ich mich zu meiner rein vorsorglichen Entlastung gezielt ausgewählter Bezeichnungen der sexuellen Umgangssprache des deutschen Volkes, die ihre Wirkung selten verfehlten, gerade weil meine Gegenüber mich als einen feinsinnigen und taktvollen Gesprächspartner zu schätzen wussten. Schwärmte etwa Max von seinen ersten, sanften Berührungen mit einem von ihm verführten Weibchen, möglicherweise sogar noch am offenen Kamin, beendete ich seine Träumereien gelegentlich mit langgezogenen Zischlauten wie "Vsssp, vsssp" oder etikettierte sie brüsk als "leidliche Dingsdasaftphantasien", was Max allerdings seinerseits als spitzbübische Torheiten abtat, um bei nächster Gelegenheit unbenommen andere delikate Details zu ergänzen.
Gerade weil Max und ich die Geisteskrankheit des Sammelns teilten und uns im Grunde über die Notwendigkeit einer schleichend fortzusetzenden Weltrevolution der Seele einig waren, verstanden wir es bis zu seinem endgültigen Verschwinden, uns auf meist einfallsreiche Weise gewissermaßen gegenseitig auf die Palmenwedel des Geistes zu bringen. Manches Mal ließen wir uns dazu hinreißen, uns karnevalistische Szenerien vor Augen zu führen, in denen beispielsweise statt Bonbons Bücher von den Narrenwägen unters Volk geworfen wurden, das sich, worin der eigentliche Surrealismus bestand, begeistert über die Beute hermachte, die sie untereinander tauschten, liebevoll verschenkten oder sorgfältig in Rucksäcken verstauten. "Mutti, Mutti, schau nur! Die Geschichte vom Prinzen Genji in zwei Bänden!" - "Würden Sie wohl ihren Tom Jones gegen diese Ausgabe des Koran tauschen?" - "Meinst du, Liebling, Balzacs Sukkubus passt noch in den Rucksack?" - "Der Wagen mit der übergroßen Kanzlerin wirft ausschließlich Reclambändchen!" - "Der mit dem riesigen Homunculus verteilt Teile des Tristram Shandy!" - "Tausche Marx gegen Bukowski, Kant gegen Walser!"
Man kann alles Mögliche sammeln, jeder fängt einmal klein an damit. Schnapsgläser, das kennt man, gibt's von überall her, Köln, Koblenz, Hamburg. Mehr oder weniger sinnig beschriftet oder geformt, wie zum Beispiel das aus Pisa, schief, wie der Turm eben. Du kannst Schallplatten sammeln, das wird ab ein paar tausend interessant. Es ist völlig klar, dass du sie nie wieder hören wirst, ich meine alle sagen wir zwei-, dreitausend. Darum werden sie in ihrer Tausendschaft zum Gegenstand, den wiederum du mit deinen Gedanken umschreitest, gewissermaßen als virtueller Hörer. Oder konkret in dem einen Stück, das du herausgreifen und durchaus eben auch anhören kannst, vorspielen kannst als dieses eine, das sehr wohl seinen Augenblick gehabt hat, wo es auch dieses eine war, das hinzugekommen ist, heute, an diesem besonderen Tag, wer weiß, wann das war! Ja, selbst der lässt sich zuweilen herausgreifen aus dem Ganzen, das nun als Sammlung vor dir steht. Eines Tages hören die Einkäufe auf, die Sammlung ist einzig Gesammelte, und zuweilen schweigt sie sogar. Ein Teil musste einmal in einen entlegeneren Teil des Hauses verfrachtet werden, aus Platzgründen, eigentlich ein beliebiger Teil, gar nicht einmal die Scheiben, die vorerst zu hören uninteressant geworden wären. Das ist manchmal bei Umzügen so, dass Sachen in Kisten verpackt vorerst abgestellt werden, für die kein Platz da ist, oder für die man keine Zeit hat. Es gibt Leute, die bringen es fertig, eine solche Kiste ungeöffnet zu entsorgen, sagen wir nach zwei oder drei Jahren, mit dem vernünftigen Argument, es müssten Sachen sein, die man nicht brauche, wenn sie jahrelang herumstehen konnten. Es gab aber auch Leute, die kauften Sachen, die aus dem Gebrauch gekommen waren, und zwar deshalb, weil sie einmal etwas gekostet haben, jetzt bekam man sie billig, obwohl sie von ihrem Gebrauchswert kaum etwas eingebüßt haben, wie beispielsweise Schallplatten, von denen es gerade wieder Fans dabei ist zu geben. Der einstige Fortschritt der CD ist keiner mehr, Jugendliche kaufen keine mehr, so wenig wie man noch fernsieht, es sei denn, man habe es bei dieser Gewohnheit gelassen, weil es einem auf einen oder zwei Fortschritte nicht mehr ankam.
In dieser Hinsicht sind digital adicts lediglich die moderne Variante des klassischen Fernsehzuschauers, sagen wir in der Form, die man zuerst aus Amerika kannte, wo der Fernseher nicht brav am Feierabend lief, sondern zu jeder Tages- und Nachtzeit, während es bei uns Programme gab, zu denen man sich versammelte, und nach denen man zu Bett ging. Man blickt gewissermaßen jederzeit auf den Bildschirm, tätigt schnell diese oder jene digitale Verrichtung, jeder, der jungen Leuten zuschaut, wie sie mit den Daumen Texte in Sprechblasen tippen, weiß, was ich meine. Einen solchen Vorgang abschließen und das Handy wieder an seinen Ort verfrachten geschieht in einem Tempo und als Reflex des Unterbewusstseins, wie das dem Nachgeborenen für immer schleierhaft bleibt. Was man allerdings weiß, das ist, dass dem andere Techniken nachfolgen werden. Handys werden wohl eher nicht gesammelt werden, noch viel weniger Apps, so wenig, wie man Fernseher je sammelte. Radiosammlungen, die gibt es noch. Vom Handy gibt es gewisse Anhäufungen, weil man gewöhnlich nicht weiß, was man mit seinem alten Teil machen soll, wenn man ein neues gekauft hat. Ich werde meinen Antiquar fragen, was so die Sachen sind, die die Leute für nostalgisch und sammelbar halten, wenn er schon bei meinen Schallplatten seit einiger Zeit abwinkt.
Kürzlich dachte ich zurück an die gemeinsamen Kinobesuche mit Fellie, von deren Filtern und Wahrnehmungen ich mich für eine Weile in den Bann geschlagen fühlte. Fellie roch stets ein wenig unangenehm für meinen Geschmack, am meisten jedoch störte mich ihre Art sich nach nahezu jedem Satz mit einem kurzen Auflachen zu kommentieren. Vermutlich waren es ihre Grammatik und ihre Syntax, vielleicht sogar ihre Wortwahl, die mich gelegentlich fesselten.


["Filter", Liana Helas (2020)]

Gregor,
kein schlechter Film, nur zu kurz. Ich soll-darf-kann dich alles fragen? Was soll ich denn alles fragen, Frage? Die Fragen klingen so lächerlich-dumm. Außerdem antwortest du dann nicht bzw. ich zermartere mir das Hirn, was nun diese kleine Bemerkung alles wieder zu bedeuten hat-haben könnte oder sollte ich nicht so übertreiben und da ist weiter nichts – was aber nicht sein kann. Warum erzählt er mir jedes Mal seine Partygeschichte, leichte Variationen in der Ausschmückung. Ich kenne sie schon seit 18 Jahren wohl. Erinnerung? Aber er ist doch höchst lebendig und hat doch wieder Recht, aus der Vergangenheit lebendig und die Gegenwart ist eine andere. Fragen. Das beste Hühnerei meines Lebens habe ich in der Türkei gegessen. Was hat es mit dem Freund in der Fremde auf sich, immer mal erwähnt. Die Schurken und Gangster, wo sind sie. Die Telefonfirma ist im Roman verewigt. Die Schwester ist auch immer präsent und ich dachte, weil sie sich gut verstehen. Im Flieger ging mir auf, wie anders die Erscheinung war (und doch auch wieder nicht). So wandelbar. Anderes Viagra? Auf einmal isst er seinen Teller leer. Warum kommt er überhaupt, peculiar. Das Gefühl, ich kann mich auf ihn verlassen, wie das, aber eben auch nicht, Gegenwart. Bist du glücklich?
Fellie

Hört sich an, liebe Fellie, wie ein Schlag mit der Faust in die Matratze … Medikamente lehne ich ab, so weit wie eben möglich … Sowohl Schurken als auch Gangster tummeln sich in meinem Geist … Zwischen den Zeilen wird ein wenig Gift versprüht ... Zu kurz? … It's all too much ... Unter den wunschlos Unglücklichen bin ich gewiss mit gewaltigem Abstand der Glücklichste. Der Freund in der Fremde ist nichts anderes als der Glückliche. Das bin selbstverständlich zum Teil auch ich selbst. Mehr als Teilen ist nicht drin, damn. Geteilte Erinnerungen. Glücklich derjenige, der selbst entscheidet, wann er kommt. Die Tourismusstudentin hätte ich gern verführt. Indiskrete Menschen sind grundsätzlich Gegenstand meiner tiefsten Verachtung, wozu auch meine Schwester gehört. Ich ging davon aus, dass dich meine Vorüberlegungen zu neuen Erzählungen interessieren könnten. Wir erzählen stets die gleichen Geschichten, variiert in der Ausschmückung, verfremdet, hochstilisiert, verdichtet und verzerrt bis hin zur Verlogenheit, darin aber unerschütterlich wahrhaftig. Es gibt keine dummen Fragen. Jede Frage ist eine Provokation. Wechsle die Laufrichtung, du bist beinahe schon in der Falle.
G.


["Verwandtlung", Siegfried Feid (2014)]


Meinen arglos dahingeworfenen Gedanken, es gebe keine dummen Fragen, bezeichnete sie zurecht, wie ich fand, als bloße buzzwords, so drückte sie sich aus, und sie wolle, der Gottesanbeterin gleich, mich lediglich lecken. Wo also, fragte ich mich, mochten jene Besuche im Filmtheater, bei Lichte besehen, hinführen? Erfahrungsgemäß liefen die Bilderstürme wenigstens aufs Händchen halten im Dunkeln hinaus, auf Vorspiele, die sich jenseits der Handlung auf der Leinwand abspielten, ganz zu schweigen von den Andeutungen im Bistro nach der Vorstellung, durch die sich Fellie als Lauerjägerin zu erkennen gab. Bevor sie mich jedoch vollständig zu verschlingen vermochte, beschloss ich, mich vorerst vom Kino fernzuhalten, von Fellie, der Kannibalin, Fellie, der Gottesanbeterin.


Gregor,
Zuletzt habe ich geträumt und nicht sofort alles vergessen. Ich saß mit Gregor in einer Art Restaurant, das aussah wie eine alte englische Bibliothek, hohe Hallen, dunkelbraunes Holz, alles poliert, eher schummrig aber doch Lichtstreifen durch hohe schmalere Fenster. Vielleicht war es auch ein Café, Anklänge an Wien, aber hie und da ein dicker Vorhang. Wir sitzen an der Ecke eines riesigen Tisches, er ist wirklich riesig, Tennisplatzgröße, oder es sieht nur so aus je nachdem, von wo man schaut. Gelbe Lampen, es ist nicht wirklich schummrig. Ein oberartiger Kellner im weißen Kittel bringt auf einem Tablett jede Menge Gläschen und Tässchen. Wassergläser mit mal sparkling, mal Leitungswasser, mit Eis, ohne, und kleine Kaffeetässchen, doppelt so groß Espresso, leckerer türkischartiger Kaffee, bisschen Kaffeesatz, schmeckt. Gregor ist wie üblich gleich vertraut mit der Bedienung, hat irgendwie etwas längere Haare, in denen ich mal wuscheln darf, eine große runde weinrote Brille, seitlich für die Bügel, aber so rechteckige Blöcke, enorm schick. Er ist wieder etwas schlanker geworden, aber glücklicherweise nicht völlig dürr. Und leider habe ich jetzt doch alles wieder vergessen, was ist da nur passiert. Wie immer riecht er gut, diese Mischung aus Zigarette und Aftershave, auch wenn die Zigarette ab und an überhandnimmt und zu streng-bitter ist.
Ich weiß nicht, welche Adresse nehmen, welche Überschrift, passt alles nicht, mir fällt keine neue ein. Kürzlich „Badlands“ geschaut, es war viel von James Dean die Rede. Ich dachte die ganze Zeit: er ist hübscher, er ist so hübsch, er wird wohl immer hübscher, je weniger ich ihn sehe und je mehr ich ihn spüre. Immer da. Hat dir noch keine gesagt, wie wenig es auf den Penis ankommt? Auch wenn sich selbstverständlich die Welt darum dreht.
F.


F.,
Mit James Dean verbinde ich einschneidende Lebenserinnerungen: Immer wieder „Giant“, „East of Eden“ und „Rebel Without a Cause“. In „East of Eden“ höre ich das Schluchzen des Vaters, meines Vaters, ergriffen von einem Verlust, den ich, allenfalls zwölf Jahre alt, nicht begriff; Schluchzen ist indes bei weitem untertrieben. Seit einiger Zeit bringt mich das, was man Herzrhythmusstörungen nennt, ins Wanken – eine Diagnose, nichts weiter; als ob ich nicht seit jeher Rhythmusstörungen verkörpert und verinnerlicht hätte. Selbstverliebt, verletzt und verletzlich nahm ich den Vater wahr. Was davon bleibt? Gene? Veranlagungen?
Das phallische Kultobjekt. Ein geflügeltes Wort, das ich aus dem Rumänischen kenne und nicht zu übersetzen wage, lautet: „Fuţi, nu fuţi, vremea pulii trece!“ Schäbige Assoziationen zu einem häufig unheilschwangeren, aber dafür heiß geliebten Spielzeug, das an sich nicht der Rede wert zu sein bräuchte.
  G.

Was aber, wie man sagt, dem Fass den Boden ausschlug, war Fellies Überzeugung, ich müsse schreiben, für sie, für Leserinnen und Leser, die Welt, für die Dichtung, die Literatur, die Schriftstellerei, die Kunst, die Erkenntnis, die Aufklärung, ja, im Namen der gebündelten dunklen Energie aller geheiligten Götter des Olymp und deren vereinzelten Nachfolgern bis in die finsterste Gegenwart hinein. - Da ist nichts, nicht die geringste Gegebenheit einer Situation, in der es der Mühe wert wäre, auch nur nach einem einzigen Wort zu suchen, Fellie, das, selbst im Falle einer ausgedachten, revolutionären Situation, nicht allerdings in diesem vulgären politischen Sinne des Wortes, mehr als eine Handvoll geneigte Interessenten fände, deren Interesse nur fragwürdig sein kann, sehr fragwürdig, Fellie. Das ist niemals anders gewesen, Fellie. Selbst Max, der Freund in der Fremde, ist, streng genommen, nichts weiter als ein Sklave seiner bigotten Auffassung von einem besseren Menschen, in seinem unermüdlichen Kampf gegen Neuwagen, versnobte Lebensentwürfe, Kapitalismus und Unbarmherzigkeit.