Mittwoch, 10. Juli 2019

The Gas Station (Variationen) [= S / W 5.15]



["Erdpunkt", Werner Windisch (1999)]


The question is not what you look at, but what you see. It is only necessary to behold the least fact or phenomenon, however familiar, from a point a hair's breadth aside from our habitual path or routine, to be overcome, enchanted by its beauty and significance. [Henry David Thoreau]



["Laufrichtung", Michelle Schneider (2019)]


Beauty is no quality in things themselves: It exists merely in the mind which contemplates them; and each mind perceives a different beauty. [David Hume]



["Oriunde", Liana Helas (2009)]


To paraphrase several sages: Nobody can think and hit someone at the same time. [Susan Sontag]




5. 15 Aral



Recht bald erlebten wir die ersten Schwierigkeiten. Der stolze Mercedes schaffte die Steigungen hinter Salzburg nicht. Das Kühlwasser kochte und der Wagen rollte rückwärts. Mit Mühe und Not schafften wir es gemeinsam durch Steine, die wir hinter die hinteren Räder legten, und Wasser, herbeigeschleppt aus einem nahegelegenen Bach. Unser nächstes Ziel war der Autoput Richtung Jugoslawien. Gleich hinter der Grenze suchten wir eine Übernachtungsmöglichkeit. Das einzige Gasthaus war belegt. Man bot uns den Dachboden an, was die beiden Frauen annahmen. Die vier Männer schliefen sicherheitshalber in den Autos. Am nächsten Morgen kamen Constance und Barbara kratzend und verstochen vom Dach. Sie hatten sich hunderte von Flöhen eingefangen, die uns bis in den Iran treu blieben. In den folgenden Nächten blieben wir auch nachts alle in den Autos. In Bulgarien gerieten wir in ein Zigeunerlager, wohl ein Familientreffen. Die Planwagen kreisten uns ein. Es war so beängstigend, dass wir alles stehen und liegen ließen und in Eile den Rastplatz Richtung Türkei verließen. Bei wahnsinniger Hitze fuhren wir Tag und Nacht bis zum Marmarameer.

Wir parkten am Strand und rasten ins Wasser um uns abzukühlen und den Sand und den Staub abzuwaschen. Leider blieben uns die Flöhe weiterhin treu. Wir suchten in Istanbul ein gutes Hotel. Dort entledigten wir uns sämtlicher Kleider und badeten ausgiebig in heißem Wasser. Die Stadt war sehr beeindruckend. Vor uns war das Goldene Horn mit vielen Schiffen zu sehen und auf der anderen Seite die Hagia Sophia. Die Mädchen wollten das alles besichtigen, aber wir interessierten uns nur für ein sauberes Bett zum Ausschlafen. Nach einem feudalen Abendessen gingen wir ohne die Frauen nochmals in den nahe gelegenen Bazar, was wir ihnen nicht sagten. Noch heute wird uns das vorgeworfen, zumal wir die Zimmertür abgeschlossen hatten. Schon am nächsten Tag ging die Karawane weiter Richtung Heimat. Eine riesengroße Fähre brachte uns über den Bosporus von der europäischen auf die orientalische Seite Istanbuls. Vor uns lag der schwierigste Teil der Reise in Richtung Ankara. Es war glühend heiß, vor uns nur Sand und Staub. Es war fast unmöglich hintereinander zu bleiben. Wir beschlossen nur noch nachts mit großem Abstand weiterzufahren.

Jedes Schlagloch ließ Rohlfs inzwischen vor Schmerzen stöhnen, was unter Umständen auch damit zusammenhängen mochte, dass die Wirkung des Betäubungsmittels erneut nachgelassen hatte. Er schlug sein Notizbuch zu um durch einen Biss in den Buchrücken die Schmerzen unter Kontrolle zu bringen. Kaum war er gewahr geworden, dass man den Weg vermutlich schon seit geraumer Zeit über eine nicht asphaltierte Seitenstraße fortgesetzt hatte. Erst als der Transporter abrupt am Straßenrand abbremste und der Fahrer sich ihm mit einer geflochtenen Flasche und einem Stück Brot in der Hand zuwandt, spürte Rohlfs erneut etwas wie Leben in den Gliedern.

Dankbar und ein wenig verwirrt richtete er sich auf und nahm die Gabe an, ohne der Geste weiter Beachtung zu schenken, dass der Fahrer offenbar absichtlich etwas vom Inhalt der Flasche auf den Boden schwappen ließ. Gierig biss Rohlfs in das trockene Brot, bevor er den Mund an den Rand der Flasche setzte um noch vor dem ersten Schluck den aufsteigenden Geruch von selbst gebranntem Tuică einzuatmen.

"Dumnezeu să aibă milă de sufletul tău!", prostete der Fahrer ihm sarkastisch zu, während Reich gleichgültig das Fahrzeug verließ. "Oamenii de la putere nu au timp să citească; şi totuşi, oamenii care nu citesc nu sunt potriviţi pentru a fi la putere." Sichtlich amüsiert über seine geistreiche Äußerung, wo auch immer er diese aufgeschnappt haben mochte, lachte der Fahrer unwillkürlich laut auf. Vermutlich hielt er Rohlfs für einen hommes de lettres und glaubte ihn mit derartigen Abschweifungen um den Finger wickeln zu können.

Die Hintertüren des Transporters wurden aufgerissen und gaben den Blick frei auf eine alte Zapfsäule inmitten einer ungemähten Futterwiese. Eine aus kreuzweise übereinander genagelten Brettern bestehende Werbetafel zeigte vorbeifahrenden Fahrzeugen in handgemalten schwarzen Schriftzeichen, dass sie hier für ein paar Lei ihre alten Reifen flicken lassen konnten. "Vulcanizare Non Stop". Die Niederlassung schien jedoch, abgelegen wie sie war, schon sehr lange nicht mehr aufgesucht worden zu sein. In einem Hinterhof, in dem sich stapelweise Reifen aller möglichen Größen befanden, sah Rohlfs Reich inmitten einer Gruppe von Männern lebhaft gestikulieren und immer wieder auf den Transporter weisen. Der fast zahnlose ältere Mann, der die Hintertüren des Transporters geöffnet hatte, schien auf Anweisungen zu warten. Zwei dunkelhäutige Männer lösten sich kurz darauf aus der Gruppe, ohne dass Reich sie dazu auffordern musste, um zu ihm in den Transporter zu steigen. Rohlfs schloss die Augen und ließ die Männer gewähren, die ihn recht gekonnt aus dem Wagen hieften. Fast schien er den Vorgang zu genießen und hielt den Atem an um bloß keine störende Bewegung zu machen.

"Wie heißt du, Mann?", wollte indes einer der beiden von ihm wissen. "Saeed, der Glückliche", antwortete Rohlfs unwillkürlich. "Siehst übel mitgenommen aus. Vai de capul meu. Krank?" Rohlfs ging nicht weiter auf die Frage ein, zumal ihm der Sinn nicht nach Auskünften stand. "Wo sind wir hier? Unde suntem noi aici?", wollte er dennoch wissen. "De fapt nici unde, domnule Saeed!", meinte der eine. "Pe lânga Roadeş", klärte ihn der andere auf. "El ştie limba noastră, a învăţat-o", sagten sie zueinander.

Man trug ihn, fast wie auf einer Sänfte, an der Gruppe um Dr. Reich vorbei, die sich zu seinem Erstaunen in gebrochenem Deutsch über eine empfindliche Niederlage Steaua Bukarests gegen eine deutsche Mannschaft aufregte und keine Notiz von ihm nahm.

Dr. Reich schien seine Aufgabe darin zu sehen, die erhitzten Gemüter durch sein Expertenwissen zu besänftigen, indem er augenzwinkernd darauf hinwies, dass die großen Zeiten eines Emerich Jenei oder Gheorghe Hagi nun einmal vorüber seien, man aber nach wie vor über hervorragende individuelle Talente verfüge, die leider allzu schnell von den Spitzenclubs aufgekauft würden. Gern hätte Rohlfs einige Bemerkungen über absurde Gehälter, den wachsenden Einfluss der Oligarchen, die Petrodollars der Scheichs, gigantische Ablösesummen und zweistellige Millionengehälter an Manager in die Runde geworfen, doch die Stimme versagte ihm und seine Zähne schlugen aufeinander, obwohl er weder Kälte noch Schmerz verspürte.

Außerordentlich behutsam, wie Rohlfs zugeben musste, brachte man ihn schließlich in eine Kammer im Hinterhof der Baracke, in der sich eine alte, ein Kopftuch tragende, bucklige Frau an einer Kochstelle zu schaffen machte. "Vai de mine, mare nedreptate a făcut Dumnezeu aici!", entfuhr es ihr, als sie Rohlfs in seinem erbärmlichen Zustand erblickte. Die beiden Männer bahrten ihn auf einem breiten Tisch zwischen leuchtend bunten, verschlissenen Decken mit traditionellen Mustern mitten in der Kammer auf und ließen ihn wortlos mit der Alten zurück, die das Gesicht verschämt von ihm abwendete. In einem großen Kessel brodelte Wasser über einem Feuer. Die Alte murmelte fortwährend etwas, das Rohlfs nicht verstehen konnte. Hin und wieder seufzte sie, als unterdrückte sie ein Schluchzen. Der Boden um den Hof begann zu vibrieren, als würde das Haus jeden Moment über ihm und der Alten zusammenbrechen. Das Beben entpuppte sich jedoch schon bald als lautes Brummen schwerer Motorräder, die sich dem Hof näherten. Die Tatsache, dass der Aufruhr die Alte nicht aus der Ruhe zu bringen schien, hatte eine unendlich beruhigende Wirkung auf Rohlfs, der sich nunmehr erneut in der Wärme seiner Decken einzurichten begann. Dem Geräusch wuchtiger, bestiefelter Schritte folgte ein ausgelassenes Begrüßungsritual. Nach lautem Schulterklopfen erscholl ausgelassenes Gejohle und Gelächter, was auf Vertrautheit schließen ließ. Bald darauf stand der Zahnlose in der Tür um recht einsilbig die Ankunft von domnul Petrică zu melden. Hinter ihm näherte sich eine Frau mit wallendem schwarzen Haar in voller Ledermontur. Sie hatte einen Packen Handtücher auf dem Arm und drängte sich an dem Zahnlosen vorbei, der wie versteinert in der Tür stehen geblieben war. Offenbar wartete der Mann auf eine Reaktion der Alten, die sich jedoch weiterhin völlig abwesend in unverständlichem Gemurmel erging und ganz mit der Kochstelle, so wirkte es zumindest auf Rohlfs, eins zu sein schien.

An den feingliedrigen Händen und dem dunkelroten Nagellack meinte Rohlfs Lucia erkannt zu haben, war sich allerdings nicht allzu sicher, zumal er spürte, dass sich Wut über ihre lange Abwesenheit in ihm angestaut hatte. Durch die Mischung von Schnaps und Medikamenten hindurch erkannte er schließlich auch die ihm vertraute Stimme: "Dumnezeu să te ierte şi să aibă milă de sufletul tău pentru tot ce ai făcut tu. Nun bist du fern der Heimat, ein Vertriebener, fremd in fremdem Land, und nicht mit eignen Händen hab' ich dich mit Waschungen so aufgenommen, wie es hier üblich ist! Nenne mich wie du willst, Rohlfs, aber verzeih mir bitte!" - "Wer ist domnul Petrică?", platzte es aus Rohlfs heraus, während die Alte und der Zahnlose die Kammer verließen und Lucia die Waschungen vorbereitete. "Cine este domnul acela?", wiederholte Rohlfs beinahe wie ein eifersüchtiger Ehemann, der beharrlich sein Recht auf rückhaltlose Aufklärung einforderte.

Behutsam brachte Lucia ihn in eine ruhige Seitenlage und befreite ihn nach und nach von seinen verklebten Kleidungsstücken, ohne hierbei seine Schamgefühle zu verletzen. Seine verkrustete Haut säuberte sie vorsichtig mit einem Desinfektionslappen. "Verkehr ist Zivilisation! Progresul, stimabile, progresul! Petrică bringt uns all dies, Rohlfs", sagte Lucia, wobei sie jetzt auch seine Hand ergriff und, von Rührung ergriffen, für eine Weile innehielt. "Mein Gott, es ist jemand da! Jemand, der wieder Leben in unsere kleine Einöde bringt, sich unserer Kinder annimmt, Bäume pflanzt und uns neue Hoffnung schenkt. Eu nu te judec, dar te provoc să te judeci singur înaintea zilei judecaţii. Poţi să inţelegi asta? E chiar atât de greu sa inţelegi asta, Rohlfs?"

Die bestiefelten Schritte näherten sich der Kammer. Instinktiv drückte Rohlfs seinen entblößten Leib fester in die Handtücher und Decken. Ein kleines Ikonenbild der Mutter Gottes mit dem Jesuskind auf den Armen an der Wand des ansonsten kahlen Zimmerchens fesselte für einen kurzen Augenblick seine Aufmerksamkeit. Gleichzeitig spürte Rohlfs wie das warme Öl in Lucias Händen mit seinem Körper verschmolz. Während sie ihr Loblied auf Petricăs Gönnerschaft fortsetzte, lauschte er mit geschlossenen Augen den sich nahenden Tritten und Stimmen. "Wir arbeiten daran, doch der Straßenbau verschlingt weiterhin Riesensummen. Unsere Regierung hat jetzt noch kein Geld für solche Straßen, domnule. Aber lassen wir das. Es gibt doch hier niemanden außer dem Greis und seiner buckligen Alten. Zwei heruntergekommene Kreaturen, die wie alles hier aus längst vergangenen Zeiten stammen. Irgendwann wird hier einmal eine prächtige Tankstelle stehen." - "Wir tun, was wir können, Dorel. Man muss die Infrastruktur wieder in Gang bringen, die hat ja mal existiert, und das ist jetzt noch nicht zu spät, im Gegenteil. Die deutschen Handwerker haben bisher hervorragend gearbeitet im Dorf. Was macht übrigens Onkel Ionică? Seine Maschine sieht immer noch wie aus dem Ei gepellt aus!" - "Ionică spart schon seit über zwei Jahren für eine Reise nach Milwaukee. Etwas anderes kommt für ihn überhaupt nicht in Frage, domnule Petrică." - "Weißt du, Dorel, wenn du an dein Ziel kommen willst, musst du dich beizeiten auf den Weg machen. Eine Harley ist vielleicht etwas teurer, aber dafür bekommt man auch etwas mehr dafür. Wer den Anschaffungspreis wuppt, hat sein Geld in ein ehrliches Motorrad investiert. Willst du dich irgendwann mal von deiner Harley trennen, Dorel, werden die etwas höheren Anschaffungskosten vom entsprechend hohen Wiederverkaufswert in der Regel kompensiert." - "Hier, domnule Petrică, kann sich kaum ein Mensch eine solche Maschine leisten. Ja, in der Stadt vielleicht, domnule Petrică, in der Stadt!" - "Harleys sind tatsächlich zuverlässiger und fortschrittlicher als ihr Ruf. Jetzt zählt nur noch das Lebensgefühl! Der fette Bob hat mehr zu bieten, als man auf den ersten Blick erwartet und wer diesem Motorsound nichts abgewinnen kann, muss entweder schon tot oder Japaner sein. Zugegeben, die Tommy-Gun Auspuffanlage klingt etwas zu leise, weil es die Lärm-Emissionsvorschriften der Paragraphenreiter heute so fordern. Na gut, sei's drum, Dorel. Was habt ihr vor mit dem armen Schwein da drin?" - "Der Doktor erwartet den Ersatzfahrer noch heute Nacht. Und dann soll's weiter Richtung Nordosten gehen, so viel ich weiß, domnule Petrică." - "Ja, ein Schwein wäscht sozusagen das andere." Beide lachten. "Dieser Dr. Reich ist mit allen Wassern gewaschen." - "Wir müssen zusehen, dass wir uns bald aus dem Staub machen, bevor es wieder zu regnen anfängt, Dorel." Rohlfs genoss die Pflege und Fürsorglichkeit, die Lucia ihm angedeihen ließ. "Wir leben in einer schrecklichen Welt", sagte er leise, doch sie wusste dem nichts hinzuzufügen. Die Glückseligkeit des Paradieses konnte nicht anders sein als das Glück, das er unter den feingliedrigen Händen der Frau empfand, die ihm so viel Zuwendung zu schenken verstand. Gerade hatte er begonnen die Melodie von Fools Rush In zu summen, als der Zahnlose mit Rasierzeug und einem Packen militärisch wirkender Kleidungsstücke auf dem Arm überraschend die Kammer betrat und Lucia zu sich rief, die nach einem verstohlenen Wortwechsel mit dem Alten eilig den Raum verließ. Der Alte schien indes äußerst vergnügt zu sein und lachte ihm herzlich entgegen. Noch ehe Rohlfs protestieren konnte, befeuchtete der Alte seinen Bart mit lauwarmem Wasser um ihm anschließend eine warme Kompresse ins Gesicht zu drücken. Mehrmals führte er das Rasiermesser in Richtung des Klingenrückens über einen Abziehriemen, wobei er immer wieder seltsam vor sich hin gluckste. Schließlich klappte er das Rasiermesser vorsichtig auf und hielt es mit Daumen und Zeigefinger so, dass die geöffnete Schale vom Gesicht weg wies. Er entfernte die Kompresse und begann Rohlfs einzuschäumen, was den Alten ganz besonders zu belustigen schien. Er straffte die mit dem Rasierschaum vorbereitete Haut und spannte die Rasierzone mit den Fingern der freien Hand zunächst nur mit dem Strich des Bartwuchses, bevor er das Messer über seine Haut fahren ließ. Beim nächsten Rasurdurchgang arbeitete er dann vorsichtig und stets gleichmäßig gegen den Strich. An den Wangenknochen, am Kinngrübchen und an der Oberlippe hielt er das Messer ein wenig steiler. Manchmal lachte er hierbei laut auf, summte oder sang ein paar Takte aus einem Lied, das Rohlfs recht bekannt vorkam: "Şi, Tudoriţo, sa-ţi spun drept, Tudorito, nene, mi-ai făcut o rană-n piept, Tudoriţo, nene, da nu e rană de cuţit, Tudoriţo, nene, ci e rană de iubit, Tudoriţo, nene." Schließlich hielt er inne, trat einen Schritt zurück und bewunderte sein Werk. "Vai, ce barbat frumos! Ein schöner Mann ist er, ein schöner Mann", hauchte er zufrieden durch seinen zahnlosen Mund und machte sich umgehend daran Rohlfs in seine neuen, etwas zu großen Kleider zu helfen, in denen er aussah, so wirkte es auf ihn, wie die Karikatur eines Soldaten.

Offenbar waren die einzelnen Teile wild zusammengerafft worden, stellten jedenfalls keine vorschriftsmäßige Uniform dar, erwiesen sich aber in der Weise als solide und praktisch, wie es derartige Kleidung gewöhnlich war, und weshalb man sich als Kind so sehr dafür begeisterte. Das Hemd mit seinen Brusttaschen, die, wie Rohlfs feststellte, beide ihren Knopf noch besaßen, und zwar ganz offensichtlich nachträglich und mit großer Sorgfalt angenäht, es war am Kragen weit genug, so dass man eine Krawatte tragen könnte, und überhaupt weit, militärische Kleidung sollte einen nicht einengen. Die Ärmel hatten die richtige Länge, die Manschetten würden gerade noch ein wenig zu sehen sein, wenn man die Jacke anzog. Die, die der Alte ihm gegeben hatte, war dunkelblau und aus einem derben Wollstoff hergestellt. An einem der Schulterstücke befand sich eine rote Litze, Rangabzeichen gab es keine mehr, man sah allerdings noch schwach die Löcher, in denen sie einst gesteckt hatten. Die Knöpfe, die vielleicht einmal aus Metall und silbern oder goldglänzend gewesen waren, hatte jemand durch zivile ersetzt, die meisten davon einheitlich, nur oben am Kragen entdeckte Rohlfs einen dunkelbraunen und auch etwas zu kleinen Knopf, offenbar war durchaus kein passenderer zu finden gewesen. Das Futter war ebenso intakt wie der Rock insgesamt, lediglich an einem Ärmel im Bereich der Achsel hatte sich einmal jemand, und zwar überaus grob mit langen Stichen eines schnurartigen Garns zu schaffen gemacht um jedenfalls zu verhindern, dass das Futter weiter ausriss und beim Anziehen störte.

Zum Glück war es keine jener eng geschneiderten Militärjacken, in die man sich mit einem Koppel regelrecht einschnürte, sondern sie saß, auch wenn man sie ganz zuknöpfte, noch bequem und war so stabil, dass diejenigen Utensilien, die Rohlfs gewöhnlich bei sich trug, vor allem das Notizbuch, sich sowohl innen als auch außen in eine der Taschen stecken ließen, ohne dass es das Kleidungsstück irgendwie herabzog oder es einen irgendwo am Körper drückte. Wenn die Brille, die er gewohnheitsmäßig auf- und absetzte, wenn es etwas zu lesen gab, in eine der Brusttaschen passte, wäre die Jacke geradezu perfekt. Man musste dazu bloß die Klappe in die Tasche einstecken. Rohlfs probierte den Handgriff mit der Brille einige Male aus. Es funktionierte.

Die Hose, von einem leicht unterschiedlichen Dunkelblau, bestand ebenso aus einem winterlichen, wenn auch etwas dünneren Stoff als die Jacke, und sie war weit genug, so dass grobe Stiefelschäfte darin verschwinden konnten, was einem das Gefühl gab, Schuhe zu tragen, die jeder Lage gewachsen waren, alles Martialische von Stiefeln aber vergessen lassen würden. Die Mütze war ganz offensichtlich selbstgestrickt und sowohl in der Farbe als auch dem Muster nach von der Art, wie Rohlfs sie allenthalben von Frauen ebenso wie von Männern getragen sah. Mehr als jede Uniform wies sie den Träger aus als Mann, der zum Volk gehört, und zwar jenem Volk, das draußen arbeitet, wo man sich erkälten könnte, beispielsweise, wenn man die Hühner füttert, oder Küchenabfälle zum Komposthaufen trägt. So trug man, wie Rohlfs wusste, Gummilatschen als häuslichstes aller Kleidungsstücke in warmen Ländern, arme Leute trugen sie immer. Hier, wo es jetzt kühl war, trugen diese Mütze die Frauen auf dem Markt, es trug sie der Lastwagenfahrer, auch die Mützen der Busfahrerinnen waren von dieser Art, wenn auch so, dass man sah, dass sie darunter frisiert waren, so wie es sich für einen offiziellen Beruf gehörte.

Auch der Alte trug jetzt eine solche Mütze, denn er hatte draußen zu tun gehabt. Sie war von einem dunkleren Orangerot, und seine knollige Altmännernase leuchtete fröhlich dazu in seinem gutmütigen Gesicht, das allerdings unrasiert war, so dass die Bartstoppeln darin silberig glitzerten. Er stellte scheppernd einen blechernen Eimer in den Ausguss, wo er ihn mit einem groben Spültuch auswischte, bevor er ihn ebenso scheppernd an seinen Platz räumte. Er wandte sich zu Rohlfs um, der offenbar zu seiner vollsten Zufriedenheit, jetzt mit der erforderlichen Robustheit gekleidet am Küchentisch saß. "Mann, raucht?", sprach er radebrechend und wies auf ein Päckchen Tabak, das geöffnet dalag, und woraus Rohlfs sich bedienen könne. Rohlfs hielt ihm lächelnd seinen Becher hin und schüttelte den Kopf, er rauchte nicht, aber von dem heißen Kaffee, der auf dem Herd gewärmt wurde, wollte er gerne noch trinken.

Begeistert klatschte der Alte in die Hände und rief nach seiner Frau, die wenig später mit einem Paar schwerer Stiefel in der Hand in die Kammer trat. "Vai, ce treaba buna ai facut, Mihai!" Sie seufzte und strich sich mit der freien Hand über die Stirn. Gemeinsam halfen sie ihm nun in die Stiefel zu kommen, bevor sie ihn schließlich sich selbst überließen. Seine eigenen Kleider lagen in einem Bündel auf dem Boden neben der Kochstelle, aus dem er sein Notizbuch herausragen sah. Auf allen Vieren kroch er umgehend über die Dielen der Kammer um zu retten, was noch zu retten war. Das Übrige sollte man seinetwegen als Brennstoff verwerten. Glücklicherweise stellte sich schon bald heraus, dass die Innentaschen der neuen Uniform für das Verstauen seiner bescheidenen Habseligkeiten, namentlich seines Schreibgeräts, der Brille und des Buchs, weitaus besser geeignet waren als sein verschlissenes Sakko. Rohlfs nutzte die Zeit um sofort mit einigen Steh- und Gehübungen zu beginnen, die zwar mit größeren Schmerzen verbunden waren, deren Fortschritte sich seiner Auffassung nach jedoch sehr rasch wahrnehmen ließen, auch wenn ihn das klobige Schuhwerk anfangs ein wenig beeinträchtigte. Besonders bei der Durchführung einer Reihe von Kniebeugen achtete er äußerst bedachtsam auf eine korrekte Bewegungsausführung. Er führte die Übungen sehr langsam und kontrolliert durch und achtete darauf, dass seine Gelenke auch in den Endpositionen immer leicht gebeugt blieben, um die Muskelspannung der zu trainierenden Muskulatur aufrecht zu erhalten. Des Weiteren bemühte er sich um eine ruhige und gleichmäßige Atmung, wobei er in der Phase der geringeren Belastung ein- und in der Phase der stärkeren Belastung ausatmete. Er atmete während der gesamten Übungszeit gleichmäßig weiter und vermied es die Luft anzuhalten um sich durch die Übungen keine größeren gesundheitlichen Schäden zuzufügen.

"Niemand kann uns den Schmerz nehmen", sagte sich Rohlfs, "jeder von uns muss ihn letztlich allein durchstehen und verarbeiten." Er versuchte ruhig durchzuatmen und mit den Augen einen festen Punkt zu fixieren um das aufkommende Schwindelgefühl zu bekämpfen.

Die deutschen Handwerker leisten Außerordentliches, dachte Rohlfs, insbesondere, wenn sie nach getaner Arbeit ihre Fleischeslust in den kleinen Bars und Clubs des In- und Auslands befriedigten. Die Handwerker rissen ihre Witze über jede der Frauen, mit denen sie, nachdem sie verschwitzt aus den Separées oder den SM-Kellern zurückgekehrt waren, oft noch ein paar vertrauliche Blicke tauschten, ehe sie im Kreis der Kollegen ausgelassen die Vorzüge und Eigenheiten der einzelnen Mädchen diskutierten. Man wurde von der Gastgeberin des Hauses mit leckeren Buffets verwöhnt, welche bis spät in die Nacht stets nachgefüllt wurden. Die traumhafte Auswahl an warmen und kalten Speisen, bei der so manches Nobelrestaurant, so Wilhelmy, ziemlich alt aussehe, sorgte für neue Kräfte um ein zweites oder drittes Stelldichein zu bewältigen. Ob an der Bar, in den Spielräumen oder in der Lounge, im ganzen Club herrschte bis in die frühen Morgenstunden zwanglose und ausgelassene Stimmung. Wilhelmy kannte sie alle, die Oasen der Lust, in der man sich den Feierabend versüßen lassen konnte. Gegebenenfalls genügte auch ein Anruf seinerseits, denn er kannte auch die Ansprechpartner, und das Mädchen blieb so lange man wollte. Die rumänischen Mädchen erfreuten sich besonderer Beliebtheit, denn sie waren einfühlsam, devot und hatten meist sogar Humor. Selbst Palle erzählte hin und wieder von Wilhelmys diskreten Vermittlungen, von Danas blassblauen Augen, ihren weißblonden Haarsträhnen, ihren Küssen. Sie habe auf seinem Wohnzimmertisch für ihn getanzt, der Schweiß habe auf ihrem Gesicht geglänzt, sogar einen Spagat habe sie für ihn gemacht. Er sei drauf und dran gewesen sich in das Mädchen zu verlieben, das ihm bei ihrer ersten Begegnung ihren Ausweis gezeigt hatte, wobei ihm nicht ganz klar war, was sie damit bezweckte. Auch fühlte er sich dadurch geschmeichelt, dass sie ihm ihren echten Namen anvertraut hatte, denn Wilhelmy sprach lediglich von der blonden Nicole mit dem kantigen Gesicht und der rauchigen Stimme. Irgendwann sei sie dann einfach verschwunden gewesen.

Für mehrere Tage war Palle überhaupt nicht mehr ansprechbar, vollkommen apathisch und verstört, erinnerte sich Rohlfs. Später schwärmte er dann doch noch einmal von ihrer Weltklasse und den ein wenig zu hohen Plateauschuhen.

Das Gesicht Petricăs, Rohlfs konnte nicht sagen, wie lange es ihn schon durch die halb geöffnete Tür der Kammer entgeistert anstarrte, kam ihm auf sonderbare Weise bekannt vor, als habe er es einmal auf einer der vielen bedruckten Papphüllen von Palles umfangreicher Schallplattensammlung gesehen. Für einen Moment verweilte sein inneres Auge vor den Gesichtern von Palles gefeierten Helden, doch konnte er sich auf keinen Namen besinnen, der dem Mann in Ledermontur geähnelt hätte. Stattdessen bemühte er sich mit größter Bedachtsamkeit die für ihn so wichtigen Leibesübungen fortzusetzen.

"Ich gebe zu neugierig geworden zu sein", drang es wie von fern in seine Ohren. "Eigentlich wollten wir schon längst wieder auf der Straße sein, aber was man draußen von dir erzählt, Bruder, macht mich stutzig, Mann!"

Rohlfs versuchte indes sich nicht beirren zu lassen und sich den Schmerz, den die Kniebeugen verursachten, nicht anmerken zu lassen.

"Und eins und zwei und drei und vier, sie soffen unheimlich viel Lagen Bier und fünf und sechs und sieben und acht, sie soffen die ganze Nacht", rezitierte er nun absichtlich übertrieben und überraschend herb.

Vielleicht, so dachte Rohlfs, würde es ihm gelingen den Mann mit dem rollenden R mit seinem zugegebenermaßen albernen Germanenlied abzuwimmeln, spürte aber, dass ihn Petrică unvermittelt von hinten zu stützen begann, so dass er seine Übungen nicht mehr fortzusetzen in der Lage war.

"Irgendetwas stinkt hier zum Himmel, Mann!", sagte Petrică, während er ihn behutsam zu seiner Ruhestätte begleitete.

"Jetzt reden wir mal Tacheles, Rohlfs! So heißt du doch, oder? Dumnezeu iti da dar nu-ti baga si-n traista. Meine Jungs können dich in zwei Stunden hier rausholen. Wir werden es verdammt nochmal nicht zulassen, dass in unserem Revier auf jemandem herumgetrampelt wird. Lucica ist eine erfahrene Kosmonautin. Zu den Göttern ist es von überall her gleich weit. Hörst du mir eigentlich zu, Bruder?"

Sein Nicken konnte durchaus als Zustimmung aufgefasst werden, dachte Rohlfs, und er ließ sich sogar dazu hinreißen, dem Mann recht tief in die Augen zu schauen.

"Es erwärmt ein Herz in uns", sagte er schließlich mehr zu sich selbst als zu Petrică, der nunmehr amüsiert seufzte.

"Wird man mich pünktlich zum Weltraumbahnhof nach Baikonur bringen?", fragte ihn Rohlfs ein wenig mürrisch und misstrauisch, erhielt jedoch keine Antwort mehr, da Lucia die beiden Männer unterbrach. "Reich ist soeben mit Ion nach Kronstadt aufgebrochen, Petrică. Wir sollten uns beeilen. Mach schon, Petrică! Ich bleib' solange hier bei Rohlfs."

Motoren heulten auf und alles um ihn schien vom einen aufs andere in Aufruhr zu sein. Rohlfs spürte Lucias rissige Fingerkuppen an seinen Lippen. "Nun, da dein Körper mit dem Alter verfällt und anfängt, dem Ende entgegenzugehen, wehre dich nicht dagegen, aber lass deinen Geist nicht mit verfallen. Ich denke, es wird heute noch regnen, Rohlfs!"

Natürlich hätte er sich wehren können, doch auch dieses Mal ließ er es geschehen, hielt ganz still und schaute sie an. Gefiel es ihm am Ende sogar? Er glaubte den Geschmack des frisch aufgetragenen Nagellacks wiederzuerkennen, schluckte etwas herunter und begann, als wollte er seine ganze Entschlossenheit demonstrieren, mit leiser, immer wieder stockender Stimme zu reden.

Ihre Stimmen vervielfältigten sich, schwollen an und verschmolzen zu einem Ganzen wie die Klänge eines vielfältigen Orchesters.

"Eine Art verkümmerter Spatz!", wiederholte Rohlfs verlegen die letzten Worte, die Lucia an ihn gerichtet hatte. Er brauchte sich nicht vor ihr zu fürchten. Brachte er ihr nicht mehr Verständnis entgegen als irgend jemand sonst?

Die Pastille, die sie ihm verabreicht hatte, verursachte zunächst einen langen, schwerelosen Sturz in Rot-, dann Dunkelviolett- und schließlich in die verschiedensten Blautöne. Rohlfs wehrte sich nicht.

Abteilungen geflügelter Wesen, deren Gesichter ihn anblickten, rissen ihn durch gewundene Gletscher, jede Abteilung mit einer höheren befehlenden Kreatur an ihrer Spitze. In Lucias Pupille sah er endlich den roten Planeten in all seiner Pracht, Phyllosilikate, wasserreiche Lehme, Schwefel und hydrierte Mineralien in allen Schichten, umkreist von Phobos und Deimos.

Durch Stäbchen und Zapfen der Netzhaut hindurch näherte er sich der Sehbahn, drang ein in die Ganglien und wurde zurückgeschleudert in die Abzweigungen des Axons. Erst an der nahenden Sehnervenkreuzung gelang ihm der erste Ruf: "Nun, Lucia, zeigt er sich ganz deutlich von allen Seiten, den Fremden zeigt er sich gedankenlos, überströmenden Sturzbächen gleichend, vielleicht unverständlich wie dichter Schnee, doch Phobos nähert sich uns, er entfernt sich, unser Fassungsvermögen überschreitend, nähert sich, naturgemäß und vorsätzlich, auf dem Weg zu Aphrodite und Ares, um sie endgültig zu zerstören und neue Götter zu gebären. Aber dennoch, Lucia, werden wir uns einrichten in der Nacht, in den Pyramiden, am Ort des schärfsten Sehens und dem Ruß. Wir werden teilhaben an dem lichten Gift der Götter, die wir leugneten." Phobos indes antwortete: "Schau hinein in das Innerste der Kreatur, du siehst es in ihren Augen, das Schwarze Loch, es verschlingt und gebärt. Hierin bist du Abbild. Und zahllos sind sie, blutlos, und heißen daher, außerhalb der Ordnung, Götter." In den Kollateralen nahm Rohlfs die Umrisse einer Orgel wahr, die langsam anschwellend die Erinnerung an das, was er Lucia mitzuteilen gedachte, zersetzte. Ares hob mahnend den Zeigefinger seiner rechten Hand: "Was zeigst du uns? Den Innenraum einer Fabrik? Museumsbesucher? Thermen und Spielplätze, wo die Jugend durch Lauf, Sprung, Faustkampf, Speer-, Diskuswurf und Ballspiel, Schwimmen und Baden kräftig und beweglich werden sollte? Eine Straßenszene in Pakistan, den Taj Mahal, ein Haus in Neuengland, Fische auf dem Grill, ein chinesisches Abendessen, eine Gruppe sitzender Kinder, Adler und Delfine? Eine Tänzerin aus Bali, einen Mann aus Guatemala, Frauen aus den Anden, ein auf dem Rücken liegendes Krokodil, die Verschiebung der Kontinente, die Anatomie des Menschen, ein Streichquartett und Eiskristalle!" Tsunamis überfluteten das ausgedörrte Land unterhalb des Olympus Mons. Zu dem Sturm gesellten sich die furchtbarsten Gewitter mit Regen, Schnee und Hagel. Nec deus intersit, nisi dignus vindice nodus inciderit. Vom Fuß des gewaltigen Berges hinab schleuderte Rohlfs den zornigen Göttern seine frohe Botschaft entgegen: "Alles ist nichts als Betrug! In der Unverantwortlichkeit und Unverbindlichkeit sind sie euer Abbild!"

Die wenigen menschlichen Wesen, ausnahmslos Kosmonauten, hörten ihn nicht mehr. Überrascht von der Flut versanken sie samt ihrer Forschungsstationen unter den Wogen.

Man war, so dachte Rohlfs beinahe erleichtert, auf das Ausmaß der Wassermassen durch die Sprengung der Pole nicht vorbereitet. Als wäre das Land jemals trocken gewesen. Das Projekt zivilisierten Verkehrs war erneut gescheitert. Die Kollision mit Phobos hatte die auf die Pole gerichteten monströsen japanischen Spiegel in Mitleidenschaft gezogen, sodass sie in Rotation versetzt wurden. Die abgeleitete Strahlung mochte selbst auf dem Heimatplaneten die heftigsten Folgen für die Bewohner haben, vermutete Rohlfs. Zumindest war er sich sicher, dass einmal mehr das Scheitern der Prunksucht und dem Irrsinn Einhalt geboten hatte.

Furchtlos machte sich Rohlfs auf die Suche nach Überlebenden auf der anderen Seite des Olymps, ohne dass ihn der knappe Vorrat an Sauerstoff in den Druckflaschen außerordentlich beunruhigte. Endlich war er jemand, der keinen einzigen Feind mehr hatte. In der Augenhöhle Lucias, die sich auf der anderen Seite befinden musste, fand er Zuflucht und Gewissheit.

Die Orbita bot ihm naturgemäß keine dauerhafte Aufenthaltsmöglichkeit. Deutlich spürte Rohlfs den Regen auf der Haut und wie seine Kleider durchweichten. Erneut heulten Motoren auf und irgendwo weit hinter sich wurde Rohlfs gewahr, wie das Raumfahrzeug zwischen den rissigen Fingerkuppen des wütenden Gottes zerbarst.

"Wir wollen hoffen, dass unser Gott uns behüten wird", sagte Petrică und zündete sich mit der rechten Hand einen Zigarillo an, während er den Wagen, einen älteren Land Rover, mit der linken Hand geschickt über die schlammige, kurvige Landstraße lenkte.

Auf dem Beifahrersitz saß eine weibliche Person mit langen schwarzen Haaren und einer Umhängetasche auf dem Schoß. Das Licht des Mondes drang nur schwach durch die Kronen der Bäume hindurch. Neben ihm auf der zerschlissenen Sitzbank befand sich ein Bündel mit goldenen Datenplatten, auf dem er in fetten Edding-Lettern seinen Namen erkannte. Das Morgengrauen konnte nicht mehr allzu fern sein, dachte er zuversichtlich.

Erst die Berührung mit seinem wieder etwa zwei Finger breit nachgewachsenen Bart machte Rohlfs stutzig. Der Versuch Vergangenes zu rekonstruieren schlug fehl. Die Stimme der Beifahrerin ähnelte nicht dem strahlenden Ton Lucias, was ihm missfiel. Am liebsten hätte er darum gebeten, die Fahrt umgehend abzubrechen und schlug, wie um seinen Gedankengang dramatisch zu unterstreichen, mit aller Kraft auf das Leder der Rückbank. Der Schlag ließ indes lediglich ihn verstummen. Die Frau murmelte Petrică, unbeeindruckt von seinem, wie er fand, doch protestierenden Vorstoß, etwas ins Ohr, wobei sie sich von Zeit zu Zeit selbst durch ein leises, krächzendes Kichern unterbrach. Petrică allerdings zog es offenbar nicht einmal in Betracht sich ungewöhnlich zu verhalten oder Unruhe zu zeigen. Vielmehr ließ er den Zigarillo im Mundwinkel wippen und summte mit rauer Stimme eine Melodie aus einem Musical, das Rohlfs von Palle kannte, dessen Titel ihm im Augenblick jedoch nicht einfiel. "Hörte, du kannst was mit Musik anfangen, Bruder?", richtete Petrică das Wort unvermittelt an ihn, als hätte er seine Gedanken mitverfolgt. "Es gibt keinen Kummer, Rohlfs, kein Elend", fügte er hinzu ohne eine Antwort abzuwarten, "kein Elend, hörst du, dem wir nicht durch Musik etwas von seiner Unerträglichkeit nehmen könnten." Zum Ausklang seiner kleinen Belehrung intonierte er virtuos eine Zeile aus dem Musicalsong. "And the Lord God hunted through the wide night air for the little dark star in the wind down there, and he stated and promised he'd take special care so it wouldn't get lost again." Dann bat die Beifahrerin mit erhobenen Händen um Ruhe und begann aus Rohlfs' Notizbuch vorzulesen. "Nein", brach es kaum hörbar aus Rohlfs hervor, doch seine Kehle war derart eng, dass er fast zu ersticken glaubte. "Es drängte ihn", fuhr die Beifahrerin andächtig mit ebenfalls stark rollendem R fort, "nach dem Schönen, auch wenn es längst vergangen war; er lebte nicht in dieser Zeit. Das Lautenspiel brachte, so schwer es Alois auch fiel zwei Saiten mit einem Finger zu greifen, einen wunderbaren Ton ins Haus. Und: In diesem Stil könnte ich noch lange fortfahren, doch denke ich, dass nun ich es bin, der langweilt, denn einem jeden steht dasselbe bevor, ob klug oder dumm, reich oder arm, um noch einmal in die Fundgrube der Binsenweisheiten zu greifen. Und da nutzt es gar nichts, mit Gott zu hadern, wie ich es fast täglich tue, weil er zwar als "Allmächtiger" und "Barmherziger" gepriesen wird, seine Macht aber beweist an den kleinen und schwachen Menschen oder den unschuldigsten Tieren und allen diesen selbst noch ihr bisschen Leben verleidet; der Rest ist Weihrauch." Rohlfs versank in dem Bündel neben sich und dem Rhythmus der Fahrt, während die Frau weiter las und Petrică weiterhin Fragmente der Melodie vor sich her summte. "Der Mann ist Dichter, zeigt aber keine äußeren Symptome seines bedenklichen Handwerks", diagnostizierte die Beifahrerin schließlich und musterte ihn für einen längeren Moment beinahe freundlich. "Gib dem Mann sein Buch, Francesca!", unterbrach Petrică die wortlose Vernehmung seiner Beifahrerin in scharfem, befehlendem Ton. "Das Buch", ergänzte Petrică ein wenig sanfter, "ist nicht viel mehr als die knabenhafte Sehnsucht ins Weite. Zumindest meint das Reich und ich glaube, er hat hiermit nicht ganz Unrecht, oder? Außerdem haben wir jetzt andere Probleme, Leute. Man kann nicht von einer besseren Welt singen und die Realität unverändert lassen. Der Wagen muss vollgetankt werden und ich wollte eigentlich, noch bevor es dunkel wird, in Şoldăneşti ankommen. Ion kennt dort Leute, denen wir vertrauen können. Was wir jetzt wissen, geht uns nichts mehr an. Unsere Jungs kümmern sich um den Rest. Nun mach' schon, Baby!" Francesca, offensichtlich verstimmt wegen der recht groben Zurechtweisung durch Petrică, warf Rohlfs ohne ein weiteres Wort das Notizbuch zu und verschränkte die Arme vor der Brust. Rasch verstaute er es in der Innentasche seiner neuen Uniform. Nur ganz allmählich tauchten weitere flüchtige Bruchstücke der Vergangenheit in ihm auf, doch Rohlfs versuchte sich so zu verhalten, als sei die Hoffnung in die Zukunft gerechtfertigt und begann nun seinerseits einige Takte der seltsamen Melodie Petricăs zu summen. "Seit Jahren versucht mich mein Agent davon zu überzeugen, ein Album mit Standards aufzunehmen. Klar, die Stimme habe ich nicht dazu, doch das Zeug würde sich verdammt gut verkaufen. Verfeinert den Geschmack der breiten Masse, meint mein Agent, etwa wie die Belper Knolle, ein feiner Trüffelkäse, in feine Späne gehobelt, Bruder. Der ist heute in der Sterneküche zu Hause. Pasta mit einem Stück fein gehobelter Belper Knolle, Rohlfs. Der Wahnsinn! Oder ein Double Glouchester mit Schnittlauch und Zwiebeln! Geniales Zeug! Auch der Wahnsinn! Es kommt nicht die Bohne darauf an, sagt mein Agent, irgendetwas Neues auf den Markt zu bringen, Bruder, nicht Erkenntnis ist die Grundlage des Glaubens, sondern der Glaube die Grundlage von Erkenntnis, sagt er fortwährend. Man muss bloß das, was wir haben, solange in Späne hobeln und der breiten Masse ins Essen rühren, bis sie glauben, es ist das Höchste!"

Petrică ließ die Melodie eines Schlagers von Lale Andersen zwischen den Zähnen hervorgleiten, die Rohlfs augenblicklich an Palles überwältigende Schallplattensammlung erinnerte, mit der er ihn gewissermaßen darin unterwies, auf sich selbst zu verzichten, sodass Rohlfs tatsächlich nach und nach Palles Gedanken zu denken begonnen hatte.

"Auf die Idiome kommt es an, lieber Rohlfs", hatte Palle immer wieder gesagt, "Idioms, Rohlfs! That's what it's all about, man! What do we do? You bomb! You bomb them! What do we do? We bomb! We bomb you!" Petrică legte den dritten Gang des Rovers ein und steuerte den Wagen durch die kurvenreiche Karpatenlandschaft. "Treceţi pe lângă Pazan Eniko pe partea stângă", meldete sich die weibliche Stimme des Navigators. Petrică schaltete das Gerät aus, das Rohlfs bisher genauso wenig aufgefallen war wie die Tatsache, dass sie durch Ortschaften und Industriegebiete gefahren waren und die Beifahrerin unruhig geschnarcht hatte. Vermutlich kannte Petrică die Strecke von früher her, dachte Rohlfs. Er bog nach links ab, nahm im Kreisverkehr die erste Ausfahrt und beschleunigte den Wagen auf dem Bulevardul Lacu Roşu.

Auch Rohlfs kannte die Region sehr gut und fast war er davon überzeugt, dass er an der Seite Saeeds und Palles genau diese Strecke bereits mehrmals zu verschiedenen Jahreszeiten zurückgelegt hatte. In Kürze würden sie eine Tankstelle erreichen. Dessen war er sich vollkommen sicher. Tatsächlich musste es in eben jener Gegend des Parcul Naţional Cheile Bicazului gewesen sein, dass sich die Gespräche zwischen ihnen dreien regelrecht zugespitzt hatten.

Unwidersprochen war Palle ein ebenso außerordentlich talentierter Chauffeur wie Petrică. Der Fahrstil der Rumänen inspirierte Palle, er hielt ihn darin für engelsgleich, wie er oft sagte, was ihn aber zu halsbrecherischen Überholmanövern bewegte, die Saeed missbilligte. Man möge doch das Tempo drosseln und ein wenig mehr in Betracht ziehen, so Saeed, mit welcher Geschwindigkeit die Markenzeichen des Wirtschaftsstandortes förmlich aus dem Boden geschossen seien und stattdessen der Landschaft ein wenig mehr Respekt zollen. Man sollte das Fahrzeug verlassen und sich endlich seinen Feigheiten, seiner Faulheit und Genusssucht hingeben. Es sei ohnehin verantwortungslos den wahnwitzigen Forderungen und Zumutungen eines Mannes wie Reich widerstandslos zu folgen. Es sei verwerflich ein friedfertiges Volk wie das rumänische, das in seiner Geschichte so oft in politischer Hinsicht dem Gefühl für die Werte einer freiheitlichen Weltanschauung entfremdet wurde, so zu überfahren. Irgendwo müsse man sich eine Bleibe suchen, mit einem treuen Weib an seiner Seite und einfach untertauchen. Palle, der seinen Fahrstil mäßigte, betonte, er werde derartige Unternehmungen künftig nur noch mit einer Sekretärin durchführen, mit irgendeinem blonden Gift, etwa der scharfen Barbara, die selbst Rohlfs nicht von der Bettkante stoßen würde. Wenigstens käme er dann zumindest in den Genuss von ab und zu einer schnellen Nummer. Der Königsweg sei es schließlich, grundsätzlich möglichst jeden zufriedenzustellen. "Es gibt nun einmal, mein lieber Palle", formulierte Saeed scharf anklagend, "vermutlich zwischen jedem Mann und jeder Frau, zwischen Männern untereinander sowie vermutlich auch unter Frauen, einige Dinge, die unvereinbar sind. Die Kunst, durch die die Dinge in diesem Labyrinth so gestaltet werden, dass sie einigermaßen erträglich werden, nenne ich die holde Kunst der Charakterbildung. Selbstverständlich, Palle, bleibt dir stets die Möglichkeit dich auf den Weg zu begeben, allein und heroisch, Palle, doch dein Gerede hinsichtlich der Existenz irgendeines besseren Weges oder, wie du es gelegentlich nennst, des Königsweges ist einfältig. Es ist geradezu kopflos, Palle."

Im Übrigen weigere er sich, meinte Saeed, während Palle das Tempo nunmehr wieder erhöhte, ein Held zu werden. Er wolle, das sei ihm klar geworden, in Piatra Neamţ aussteigen. Er habe schon längst aussteigen wollen und so schnell werde man ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Mit dem Argwohn und der Geltungssucht der Amerikaner habe er außerdem nie etwas am Hut gehabt.

Auch Rohlfs pflichtete Saeed bei, dass man an und für sich mit einem Minimum an Intelligenz, Mut, Vaterlandsliebe, Ehrgefühl und Gerechtigkeitssinn auskomme. Gewiss sei die nächste Tankstelle nicht weit. Es sei gerade die richtige Zeit in irgendeinem Lokal auf den Sozialismus anzustoßen, einen, den es auf Erden niemals gegeben habe und vermutlich niemals geben könne.

Die Armen, für die wir so gerne eintreten wollten, waren am Ende arm an Verachtung des Reichtums, weshalb sie moralisch ihren Ausbeutern so wenig entgegenzusetzen hatten. Sie waren entsprechend schlechte Verbündete der Revolutionäre, die, zumindest die Führer unter ihnen, ja nicht den armen Schichten angehörten. Diese waren vielmehr die Kritiker ihrer korrupten Verwandten und Standesgenossen, deren plumper Hedonismus sie abstieß.

In ihrem Idealismus übersahen sie die Bedingtheiten ihrer moralischen Vorrangstellung. Sie würden, wenn sie erfolgreich wären, vorübergehend Siege erringen, allerdings nicht genügend Gefolgsleute finden, die ihre Ideen in die Tat umsetzten. Überall würde der wahre Feind von Freiheit und Mitmenschlichkeit lauern, die Gier zu besitzen, damit sich materialisiere, worin es ihnen an Schöpfertum mangelte, und dass sie sich nicht mit der Einsicht auseinandersetzen müssten, nämlich sich letztlich in die Tatsache wahrer menschlicher Begrenztheit ergeben zu müssen.

Natürlich gab es auch geschäftliche Verbindungen zwischen Renegaten und dem Establishment der sogenannten Dritten Welt. Gekaufte Oligarchen des Südens waren die treuesten Freunde des Westens schließlich wohl nicht. Am Ende stand hinter den bewaffneten Kämpfen der Handel mit Waffen. Weit weniger schambesetzt war im Süden dieses Terrain als etwa in Europa, wo man nur zu gerne verschwieg korrupte Vasallen des ausbeuterischen Amerika zu sein, das die Idee der Freiheit an die Bedingung des Reichtums knüpfte.

Rohlfs sei ja wohl völlig immun gegen Frauen. "Mal im Ernst, das mit Constance ist doch eine komplett platonische Beziehung." - "Alle Beziehungen sind sowohl platonisch als auch erotisch. Schlägt das Pendel eines Tages völlig in die eine oder die andere Richtung, dann ist es aus mit der Liebe." Das sei doch Quatsch, er könne gar nicht genug kriegen von der einen Seite, meinte Palle, Rohlfs wisse schon, welche er meine, hehe. Am Flackern in Palles Augen konnte er erkennen, dass er sich so sicher seiner Sache wohl nicht war. Jedenfalls wusste Rohlfs von Veronika, Palles Derzeitiger, dass es im Übrigen bei Palle auch in dieser Hinsicht nicht zum Besten stand. Es hatte sogar Schwierigkeiten gegeben, bei denen peinlicherweise ein Arzt hatte zu Rate gezogen werden müssen. Die Sache sei dann so verlaufen, dass der Palle eine Riesenportion, so jedenfalls Palles Überzeugung, Penicillin verabreicht habe. "Wenn es davon nicht weggeht, dann ist es nicht, wonach es aussieht. Im anderen Fall muss ich die Angelegenheit dem Gesundheitsamt melden. Reden Sie auf jeden Fall mit ihrer Frau darüber, am besten sagen Sie ihr auch, wo Sie sich die Sache eingefangen haben."

Er sei nicht verheiratet, versuchte Palle, dem der Schmerz der Injektion die Tränen in die Augen getrieben hatte, dem Arzt zaghaft Widerstand entgegenzusetzen. Der hatte sich aber schon anderen Dingen zugewandt und ließ den Patienten mit heruntergezogenen Hosen zurück, so wie er auch zuvor schon geschlagene zwanzig Minuten im Behandlungszimmer gewartet hatte, mit den Händen auf die Liege aufgestützt, die Sprechstundenhilfe, die ungerührt den Raum betrat oder verließ, zweimal auch längere Zeit mit Gerätschaften hantierte, würdigte ihn kaum kurzer Blicke, es sei eine aufgedonnerte Blondine gewesen, hatte Palle gewohnt großsprecherisch behauptet. Nach einer Weile begriff er, dass die Behandlung jedenfalls für heute abgeschlossen sei, und war gerade im Begriff sich das Hemd in die Hose zu stecken, als die besagte Arzthelferin auch schon wieder hereinkam. Sie stülpte die Unterlippe vor und blies sich eine Strähne von der Stirn, ein Tick, den Palle schon gleich bei ihr bemerkt hatte und bei dem er nicht sicher war, ob er für attraktiv zu halten sei. Später probierte er in vager Erinnerung an das Mädchen das Blasen mit der Unterlippe noch einige Male auf der Straße selber, allerdings erreichte der Luftstrom bei ihm keine lose Strähne, und überhaupt fand er, das könnte zu einem Tick werden, der zu einem Mann jedenfalls schon gar nicht passte.

Sie passierten Consulting & Project Business Srl auf der rechten Seite, bevor sie links auf die Strada Preot Teofănescu abbogen. Rohlfs erinnerte sich nur vage an die Erhabenheit der Karpaten und vertiefte sich in die Aufschriften des Bündels neben sich, bis ihn einige schrille Klingeltöne aus seinen Meditationen rissen. "Herrgott, wo bist du? Das ist nicht dein Ernst, du meinst diese russische Weltraumstation. Jetzt hör mir mal zu! Ich glaub's einfach nicht. Kannst du dir vorstellen, welche Sorgen wir uns hier gemacht haben? Du bist seit Wochen verschwunden, zu fremden Leuten ins Auto gestiegen. Sag mal, stimmt das? Aber warum denn? Was, Dr. Reich, was hat der denn damit zu tun? Rohlfs, das kannst du einfach nicht machen. Ich bin halb verrückt geworden vor Angst. Tine ist hier. Es war ein Riesenartikel in der Zeitung. Was sind das für Leute, mit denen du da unterwegs bist? Die sagen hier, sie hätten dich im rumänischen Fernsehen gesehen, irgendeine Sache mit einem Jugenddorf. Rohlfs, was denn für ein Jugenddorf? Hör zu, du haust da ab und findest einen Flughafen. Wie weit ist das eigentlich, kann man auch mit dem Zug fahren? Ich weiß, dass die dich nicht festhalten. Aber es ist trotzdem gefährlich. Ich weiß nicht mehr, was ich mit dem Mädchen machen soll, du musst einfach aufhören mit dem Unsinn!"

Sie nahmen ihm das Telefon einfach weg. Petrică, der als einziger Deutsch sprach, sagte wohl noch etwas, unterbrach dann aber die Verbindung ohne auf eine Entgegnung zu warten. Constances Stimme hatte sich wirklich besorgt angehört, trotz aller Vorwürfe. Ob sie das mit Baikonur für bare Münze hielt, schwer zu sagen. Soviel war klar, die Marsmission hatte ihre erste Proselytin gemacht. Später würde Rohlfs vielleicht behaupten, er hätte von Anfang an gewusst, dass er von oben auserwählt worden sei ein falsches Evangelium zu predigen um damit umso mehr die Richtigen zu retten.

Von irgendwo am Straßenrand drang Francescas Schluchzen zu ihm. Der Fahrersitz war leer und Rohlfs musterte die verzweifelte Frau mit verschwommenem Blick. Etwas hatte sie zutiefst erschüttert, daran bestand kein Zweifel. Seine Neugierde bezog sich dennoch mehr auf den Verbleib Petricăs als auf den Zustand Francescas, was ihm für einen Augenblick das Ausmaß seiner Unempfindlichkeit und Teilnahmslosigkeit bewusst machte. Das Gefühl für die Tageszeit war ihm abhanden gekommen und er wusste auch nicht, wie lange sie unterwegs waren.

"Das wird schon gutgehen", schniefte Francesca, als befürchtete sie, man könnte sie belauschen. "Mit Verlaub, Herr Rohlfs", platzte es nun aus ihr heraus, "aber ich empfinde es als zutiefst beleidigend und abstoßend, dass Sie in Petricăs Gegenwart derart reden. Es bleibt für mich ein Rätsel, wie man einen Sozialismus auch nur für denkbar halten kann. Ist Ihnen eigentlich klar, was Familien wie denen von Petrică in diesem geplagten Land zugestoßen ist?"

Es sei sogar durchaus möglich, dass er überhaupt nicht mehr erscheinen werde. Es sei möglich, dass er überhaupt nicht mehr singen könne. "Wer weiß das schon? Alles ist möglich. Und dass er sich darauf eingelassen hat diese Strapazen auf sich zu nehmen, das ist einfach unglaublich! Wer einen dahergelaufenen Soldaten durch die Berge zu fahren bereit ist", fuhr sie ihn schließlich grimmig an, "der sich, wer weiß aus welchem Grund, auf der Flucht vor diesem Reich befindet, zeigt ein fühlendes Herz und einen unbeugsamen Geist. Diese Welt ist nicht zu retten, mein Herr! Alles steuert seit Menschengedenken dem Abgrund entgegen, Herr Rohlfs!"

Francesca packte ihn kurz am Handgelenk, öffnete die Beifahrertür und schien Ausschau nach ihrem Helden zu halten. "Noch nicht einmal zum Tanken hat er Halt gemacht", zischte sie in nun offenkundiger Erregung, "und jetzt stehen wir hier irgendwo in Moldova! Das kann doch nicht sein Ernst sein!" Langsam entfernte sie sich von dem Wagen und ließ Rohlfs allein zurück. Er möge sich vor Lucia in Acht nehmen, hatte sie ihm noch zugerufen. Sie sei eine falsche Schlange und habe kein Rückgrat.

Die Welt um ihn herum lag in grauem Dämmerlicht, sodass es ihm noch immer unmöglich war die Tageszeit zu bestimmen. Stunden mochten vergangen sein, bevor er sich entschloss sich von seinen Verbündeten zu trennen und sich zunächst ohne sie auf den Weg zu machen. Geistesgegenwärtig griff er im letzten Moment nach dem Bündel neben sich und verstaute es sorgfältig in der großzügigen Innentasche seiner Uniform. Aus einem ihm unerfindlichen Grund hatte er auch Francescas Umhängetasche an sich genommen. Er bildete sich ein ein Recht zu haben die Tasche, was auch immer sie enthalten mochte, mitzunehmen. Ja, es kam ihm geradezu gelegen, dass man ihn für einen Dieb, einen Lump hielt. Soweit er sich erinnerte, hatte er sich in seinem Leben nur selten des Diebstahls schuldig gemacht, von kleineren Jugendsünden, so erinnerte er sich, einmal abgesehen. Da waren, gestand er sich ein, doch das musste Jahrzehnte zurückliegen, diese kleineren Ladendiebstähle, die er mit Stephane unternommen hatte. Nutzloses Zeug, des Rauschs wegen, vermutete Rohlfs zunächst, das vor allem sein Jugendfreund geschickt in den ausgebeulten Taschen seines viel zu großen Lodenmantels zu verschwinden lassen wusste. Zu Hause teilte man die Beute großmütig: Alkoholika, Musikkonserven, Bücher, Zeitschriften, Spielzeug, billigen Schmuck, Uhren, Stifte, Schrauben, Heftpflaster und Mullbinden. Stephane hatte meist keinerlei Interesse an den Dingen, hielt es aber im Laufe der Zeit mehr und mehr für seine moralische Pflicht dem Umsatz der Warenhäuser einen gewissen Schaden zuzufügen, zumal er in der Verkaufs- und Angebotsstruktur der Warenhäuser einen kulturellen Niedergang durch die Verbreitung von Massengütern, sowie eine Deformation der Individuen durch die Verführung zum rauschhaften Kaufen sah, weshalb er den Vorwurf der Kleptomanie weit von sich wies. Zeitweise begann er sogar Buch über die von ihm eingetriebenen Güter zu führen, die er in einem eigens angemieteten Lager unterbrachte. Nach und nach entwickelte er die Idee insbesondere Spielsachen nach Rumänien, Moldawien und in die Ukraine zu fahren, wofür er Busse und Konvois von Fahrzeugen organisieren wollte.

Einen dahergelaufenen Soldaten! Vielleicht waren sogar Wertsachen in der Umhängetasche, die sich auf dem langen Weg als nützlich erweisen würden. Auch die goldenen Datenplatten konnte man gewiss in kostbare Wegzehrung verwandeln.

Wie lange würde es dauern, bis er einer Menschenseele begegnete. Immer an der Landstraße entlang. Auch querfeldein, also durch Bäche, Tümpel, über Trampelpfade, um sich an das unebene Gelände und die Hindernisse zu gewöhnen, käme in Frage, dachte Rohlfs. Was ließ er schon zurück außer seinen belanglosen Erinnerungen an vermeintliche Verbündete, Verweigerer und Verräter?

An irgendetwas musste man schließlich denken, redete er sich gut zu und beschleunigte seinen Schritt. Gestartet wurde mit dem linken Fuß auf das Kommando: „Im Gleichschritt – Marsch!“ Angehalten wurde auf das Kommando: „Abteilung – Halt!“, wobei das Halt als Ausführungskommando erfolgte, wenn sich der rechte Fuß auf dem Boden befand. Dann wurde der linke Fuß nach vorn bewegt. Wie ein Mantra wiederholte Rohlfs das Kommando: „Im Gleichschritt – Marsch!