Sonntag, 20. August 2023

Bzw. ۲ ۶ ۶ [»Fünf Gedichte« von Boris Greff]

 


γλυπτική«, Lorena Kirk-Giannoulis]



Wie ein heulender Nordwind, fährt die Gegenwart über die Blüthen unsers Geistes und versengt sie im Entstehen.

[Friedrich Hölderlin »Hyperion oder der Eremit in Griechenland«, I. Band, Erstes Buch, Hyperion an Bellarmin IV (1797)]





Αρχαίος«, Lorena Kirk-Giannoulis]





Karyatiden

 

Tragende Säulen wachsen aus deiner Wirbelsäule

die ganze Gebäudedecke auf deiner Schädeldecke

Tonnenschwere Tonnengewölbe auf zartem Schulterblatt

 

Keine Pupillen, um den milchigen Himmel zu spiegeln

blutleer gehen die kammerlosen Herzschläge ins Leere

Schwesternchor aus Stein, singender Torso und Rumpf

 

Verunsterblichte Sterbliche in Skulpturenglätte,

seelenlos beseelte Tempelheiligkeit,

schürt weiter das Feuer, Vestalinnen aus Stein.

 

Heiß vergossenes Herzblut, geronnen zu Alabaster,

weichfaltenes Tuchgewand, erstarrt zu Marmor,

Infusionen aus Träumen und Tränen, immer alt und neu.






γλυπτική II«, Lorena Kirk-Giannoulis]






nicht ersichtlich

 

Unversehens fiel dein Blick auf mich

nur langsam kam ich da wieder raus

ruhte so lange auf mir

dass ich einbrach

mir das Schweigen brach

spöttische Gesichtszüge mich überrollten

 

Fallengelassene Bemerkungen

wie Laubblätter, die auf dem Strom treiben

Richtung Vergessen

in stromschneller Verdrängung

elektrifiziert in wilden Gewässern

unlöschbar brennend im Ozean

flöße raustimmig verquere Silben

gesprächsflussabwärts

 

Falle sehenden Auges in die

Fußangeln deiner Wimpern

die nicht weinen wollen

zwinkerst mich aus deinem Blickfeld

ein ausgeriebener Fremdkörper:

Liebesmacht, blind.

 




Αρχαίος II«, Lorena Kirk-Giannoulis]


 



             City

 

 

Sonne rutscht über Glasschrägen,

blendet sich blind im Stahl;

horizontale Grasgräber,

an die nur vereinzelte Halme

als Unkraut verfemt

ritzenweise ankämpft.

Die asphaltene Schorfkruste

strapaziert von tonnenschwerem Verkehr

Infarkt in der Rush-Hour

eilig rast alles in den Stillstand;

und drückend, bedrückend

legt sich auf Lunge

zu Smog verbackene Peripheriefrischluft

glockenglasig über die Stadt.

Lebendig begrabene Hochhäuser

wolkenkratzen verzweifelt und stumm

am aufwallenden Dunstglockenwall.

Zufluchtssuchende Paare im Park

zwischen Frozen Yoghurt, Joggen und Yoga

verschmelzen mit dem Holzgerippe

einer initialengegerbten Bank.

Alte Bäume mitten im Großstadtdschungel,

braungeborkte Grünhoffnung

im kunstrasengrellen Plastinat,

umarmen wipfelwiegend

warmzartsuchendes Menschengetier.





γλυπτική III«, Lorena Kirk-Giannoulis]



Herbststraße

 

Kalt.

Schwarze Vogelsilhouetten

vor weißergrauten Wolkenleibern

leergelebtes Geäst

buntblättriger Abschied

sanft rauschen Autos

ein Hämmern nebenan

Fenstergerahmter Bleihimmel

und doch wärmt mich

in dieser zeitlosen Zeit

dein Bild.



[Aus: Boris Greff »Augenblicke und Wimpernschläge«, Treibgut Verlag, 2021; Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags]




Nachtflug

 

Unverzichtbar und doch entbehrlich;

federleicht und doch beschwerlich;

ein segensreicher Fluch;

ein seitenloses Buch:

wie mich der Alltag langsam wiederkäut,

ausspeit, auf tausend Wegen verstreut;

wär’ gern ein kühler Kiesel im Bett,

der rochierende König auf dem Schachbrett:

Ich müsst’ das hohe Gras mal wieder gründlich striegeln,

die kleine Wonne im Gefühl mal wieder entriegeln;

wie im Hula-Hoop kreisen die Planeten

kaum habe ich ihren Orbit betreten.

Du trägst an Deinem Finger Saturns hellsten Ring;

ich hielt ihn an die Sonne, bis er Feuer fing.

Beinahe ebenerdig öffnet sich nun der Sterne Pracht;

wir greifen den Kometenschweif und fliegen durch die Nacht.



[Aus: Boris Greff »Aus meinen Gedanken gerissen«, Athena Verlag, 2023; Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags]