Sonntag, 20. Dezember 2020

Z. Z. XII [»Trost-, Segens- und Seifenspender III«]

 


["Ruta de evacuación", MM]


Man vergisst, dass die Wissenschaften einen inneren Zweck haben, und verliert das eigentlich literarische Interesse, das Streben nach Erkenntnis, als Erkenntnis, aus dem Auge. Die Mathematik kann nichts von ihrer Würde einbüßen, wenn sie als bloßes Objekt der Spekulation, als unanwendbar zur Auflösung praktischer Aufgaben betrachtet wird. [Alexander von Humboldt »Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« (1797)]


Die Denunzianten (Der Erzählung weitere Teile in verwürfelter Anordnung)


Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind weder zufällig noch erfreulich, aber im Interesse der Sache unvermeidlich.


Die Verwaltung von Daten war inzwischen völlig in die Hand von Frau Hinzberger übergegangen. Anfangs war der Computer ja reine Männersache gewesen, Frauen war schlicht und ergreifend nicht klarzumachen, was man im Computerbereich wissen musste und wie man sich auf dem Laufenden zu halten hatte. Man musste mit so einer Entwicklung Schritt halten, sonst war man bald weg vom Fenster. Dabei gab es Anwendungen noch und nöcher auch für Frauen. Beispielsweise konnte man doch ein für alle Male Schluss machen mit jedwedem Zettelsammelsurium. Frau Hinzbergers Kochbuch sei doch nun einmal einfach ein Witz, und jedenfalls gehe es demnächst kaputt, vor lauter eingelegten Rezepten. Sie sollte es mal hergeben, wie da im Nullkommanichts eine Datei draus würde. "Nichts da!", riss sie es ihm aus der Hand, wobei es tatsächlich fast entzweiging. "Siehst du", versuchte er einen Punktsieg, wusste aber, als die Tür ins Schloss fiel, dass ihr auf diesem Gebiet so einfach nicht beizukommen war.

Das Büro hatte er so eingerichtet wie auf seiner früheren Arbeitsstelle, weil es so gemütlich war sich an zwei Schreibtischen gegenüber zu sitzen, besonders gegen Abend, wenn es draußen dunkel wurde und der blaue Schimmer des Bildschirmes das Zimmer matt erleuchtete. Geradezu romantisch. Frau Hinzberger hatte für so etwas keinen Sinn. Leider hatte in der Firma auch nicht die Sekretärin ihm am Schreibtisch gegenüber gesessen. In einem unbedachten Augenblick war Hinzberger dieser Wunsch einmal andeutungsweise herausgerutscht. Auch da war Roswitha türschlagend abgerauscht, und den Platz an ihrem Schreibtisch hatte sie auch nicht ein einziges Mal eingenommen.


* * *


Neuerdings waren Bauarbeiter stylische Youngster in teurer Funktionskleidung. Einen Chef schien es gar nicht mehr zu geben, dafür einen Polier möglicherweise mehr oder weniger aus dem Ausland. Abschlüsse mussten offenbar wohl oder übel anerkannt werden. Wer früher zum Spargelstechen anrückte, kommandierte heute einen Trupp, der zum Beispiel deutschlandweit Fertighäuser aufstellte; wobei das mit dem Kommandieren so eine Sache war, seit niemand mehr irgend jemandem gehorchte.

Dafür schlenderten diese Rotzlöffel mit ihren Tattoos und sonstigem Zierrat lässig mit ein paar Dachlatten mal hierhin, mal dahin. Ein Bein rissen sie sich jedenfalls nicht aus, hatten die überhaupt schon angefangen? Das sollte man eigentlich meinen, zehn, halb elf, was es inzwischen sicherlich schon war. Einer von den Burschen saß eine geschlagene halbe Stunde mit dem Handy am Ohr auf dem Lattengerüst neben einem Schornstein. Mit dem Chef telefonierte der eher nicht. Oder doch, es konnte sein, dass die gesamte Truppe noch vor Mittag abrückte. Offensichtlich hatte die Firma ringsum eine ganze Reihe von Bauten in der Mache, und um die Bauherren hinsichtlich des Termins der Fertigstellung still zu halten, tat man hier ein bisschen etwas und dort. Angeblich musste dieses und jenes trocknen, oder ein Teil war noch nicht eingetroffen. Hinzberger sah dem Treiben zu und schwieg neuerdings. Der Anführer der Kolonne, der Kerl mit den wechselnden Geschäftswagen, hatte ihm Platzverbot erteilt.


* * *


Auch mit den Schusters hatten sie anfänglich auf freundschaftlichem Fuß gestanden. Andeutungen bezüglich der Besitzer anderer Eigenheime im Neubauviertel verstanden die erst nicht, schon gar nicht merkten sie gleich, dass Hinzberger die Namen bösartig verballhornte. Einer sah tatsächlich Gildo Horn geradezu lächerlich ähnlich. Evi lachte, es sei bereits Gildo, der lächerlich aussehe, aber das gehöre ja zu seinem Typ als Komiker. Umgekehrt konnte keiner etwas dafür, wie er aussah, beziehungsweise konnte aussehen, wie er wollte. Zuerst hatten Schusters sogar geglaubt am Ende wirklich einen berühmten Nachbarn zu haben, fanden es schließlich aber komisch, dass Hinzberger auf irgend etwas hinauswollte mit den Namen. Bei einer Nachbarin war ihnen ein "Frau Mutzenbacher" geradezu herausgerutscht, irgendwie ahnend, dass etwas nicht in Ordnung sei damit, aber da war es eben auch schon geschehen, und die Gerti, natürlich war man unter Nachbarn, gleichaltrigen noch dazu, gleich beim Du, also die Gerti, die vielleicht auch nicht wusste, was es mit dem Namen "Mutzenbacher" auf sich hatte, mochte sich allerdings wundern, wie ganz unterschiedlichen Leuten ausgerechnet genau dieselbe Namensverwechslung passierte. Auf dem Klingelschild lasen sie beim Rausgehen "Hollenbacher" und wunderten sich jedenfalls auch. Beide hatten sie klar und deutlich gehört, wie Hinzberger "Mutzenbacher" gesagt hatte, sogar mehrfach. Schließlich konnte der Irrtum einfach auch ihm passiert sein. Aber dass er den Guido "Gildo" nannte, und zwar ausdrücklich "Gildo Horn", das war nun mal kein Versehen.


* * *


Jetzt hatten die Schusters zwar die Gartenhecke geschnitten, Zufall war das aber ganz sicher nicht, dass der Teil stehen geblieben war, wo sonst Hinzbergers Kamera über den Garten strich.

Es hatte schon mehrfach Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Hecke gegeben. Frau Hinzberger konnte die Hecke gar nicht hoch genug sein, was ja nicht heißen musste, dass man sie nicht in Form halten könnte. Herr Hinzberger widersprach, die Frage der Höhe von Gartenhecken sei durch Vorschrift eindeutig geregelt, und zwar schon wegen des Schattenwurfes. Da würde bei ihnen bald nichts mehr wachsen, nicht wahr? Ob die Schusters einmal über so etwas nachgedacht hätten? Hatten sie, ehrlich gesagt, nicht, zumal Hinzbergers nicht etwa Salat oder sonst irgend etwas in ihrem Garten anpflanzten. Da würde sie schon der stinkende Komposthaufen stören, wie Schusters allerdings leider ja einen hätten. Nicht, dass da etwa auch Speiseabfälle entsorgt würden, das wüssten sie ja hoffentlich, dass das die Ratten anzog, und die hätten dann alle am Haus. Inga war bei dem Wort "Ratten" gehörig zusammengefahren. Als "Ratten" hatte Hinzberger Leute ein paar Häuser weiter bezeichnet und das Haus einen "Rattenbau" genannt, wo Kinderfahrräder und anderes Gerümpel den Vorgarten verunzierten. "Vorgarten!", hatte Frau Hinzberger schrill eingeworfen und sich auf dem Absatz umgedreht, wie öfter, wenn sie, sonst ohne ein Wort, dabeistand, während Hinzberger schwadronierte. Ebenso konnte sie aber auch aus einer entfernten Ecke jemanden anrufen, der zum Nachbarhaus hinging: "Ja, Sie meine ich! Da brauchen Sie gar nicht so zu tun, als hörten Sie mich nicht! Ja, gehen Sie nur hin zu dem Gesindel! Viel Spaß auch!" Worauf sie sich in ihrer Art auf dem Absatz umdrehte und darin fortfuhr, ein einzelnes Zweiglein zu beschneiden. Die Schere, die sie dazu benutzte, war so klein, dass man sie in ihrer Hand erst gar nicht sah. Auch einzelne Grashalme beschnitt sie so. Das tat allerdings auch Herr Hinzberger, und zwar quadratmeterweise, wobei er mit schiefem Kopf jeweils zurücktrat um die Rasenlänge zu peilen.


* * *


Letztlich stellte sich die Sache mit Hinzbergers Karriere als Reserveoffizier als Verwechslung heraus. Demnach habe er es als Reservist zum Oberstleutnant gebracht. Geblieben war ihm allerdings der Colonel. Markus, der Elvis-Fan war, hatte diese Version aufgebracht, und so kursierte der Spitzname unter den Nachbarn im Neubauviertel.
Hinzberger, der sich die Sache zwar nicht erklären konnte, und der auch kein Englisch mochte, fühlte sich dennoch geschmeichelt. Er hatte immer bedauert zu den weißen Jahrgängen gehört zu haben und hätte jedenfalls gedient, wenn es nach ihm gegangen wäre. Der Barras, wie er gerne sagte, sei die Schule der Nation, auch wenn ihm da heute nicht mehr alles passen würde, und habe noch keinem geschadet. Man lerne beispielsweise Hemden zu falten - und überhaupt Ordnung.

Ja, Ordnung!

Ordnung konnte doch wenigstens herrschen! Wo kam man hin, wenn es so weiter ginge, nämlich drunter und drüber! Das sollte Ordnung sein, wenn jeder täte, was ihm passte? Nein, so sei die Welt nicht, wenn man genau hinschaute, die Natur, nur um ein Beispiel zu nennen, wenn auch gleich das größte und schlagendste, also die Natur: Ordnung bis ins Kleinste.

Alles hatte da seinen Platz und geschah nach genauen Regeln. Vor allem, und wenn sie es dreimal nicht gerne hören wollten, gab es ein klares Oben und Unten. Und zwar sei das überlebenswichtig. In der Natur ginge es um Sein oder Nichtsein, nicht um Larifari und was einem gerade passt oder nicht. Sich gegen die naturgegebene Ordnung zu stellen, das konnte nur böse enden. Die Natur, das sei sozusagen der Ernstfall, da werde nicht gefackelt, da gebe es kein Hüh oder Hott, kein Hin oder Her.
Roswitha hielt sich bei diesen Reden des
Colonels auf ihre Art etwas abseits, wo sie irgendetwas an einem Strauch zu schnippeln hatte, oder ein paar abgefallene Blätter mit dem Handfeger aufnahm. Sie teilte die Ansichten Herrn Hinzbergers und freute sich darüber, dass seine Zuhörer mit blödem Lächeln dastanden und halb aus Höflichkeit nicht widersprachen, wohl auch wissend, dass sie dadurch nur weitaus furchtbarere Tiraden des Colonels riskierten, wobei er dann auch vom Allgemeinen sehr bald auf das Allerkonkreteste zu sprechen kam, persönlich und ausfallend. [B. Karl Decker]




["Gála", Lorena Kirk-Giannoulis]



2033 (An – und Ablässe 1. 17 – 1. 28)


2033 – 1. 17


Kniefälle (und Glaubensfragen): Ob es jemals einen bemerkenswerten Geist gegeben hat, der es für erstrebenswert hielt, ein Straßenschild, einen Platz oder eine Allee mit seinem Namen zu schmücken? - Von einigen kirchlichen und politischen Würdenträgern einmal abgesehen, scheint dies unvorstellbar. Fragen Sie doch beispielsweise, na Heinrich Heine! - Lo hält das Altern für ein Drama; zumindest mag sie es nicht. Seit ich jede Nacht gegen zwei mein Bett verlasse, was ich ebenfalls dem Altern zum Vorwurf mache, stimme ich ihr rückhaltlos zu. Vom Rennen und Laufen bin ich müd', Lo; wenigstens hast du dir ein sonniges Plätzchen ausgesucht. Das Kreuz, die Hüfte, König, Kind und Knie! Zu den Griechen möcht' ich kriechen; wenn's sein muss, geh' ich in die Knie vor dir, Lo.


2033 – 1. 18


Vermied es gestern hartnäckig, mit auch nur einem einzigen Wort Lasse zu erwähnen, dachte aber fortwährend an ihn. Sich mit freundlicher Gesinnung denjenigen zu widmen, von denen wir uns verraten fühlen. Noch blieb Zeit, sich von Schmähungen zu lösen. Gedanken über Barmherzigkeit, Arbeit an einem Traktat über Loyalität. (Randnotiz: Schmarrn.) Auf der Suche nach den leichten, unverfänglichen Themen: Meditative Landschaftsmalerei – Gedanken an die unwiederbringliche Ruhe vor sintflutartigen Stürmen, Szenarien verheerender Pandemien als Folge zerstörter Lebensräume, ließen auch diesen Zufluchtsort verblassen. Die Freude an der Integrität des eigenen Nachwuchses: War dies nicht Ausdruck rückhaltloser Lebensbejahung? - „Der Schwerpunkt aus dem gegenwärtigen ins künftige Leben verlegt!“ (Verachtung alles Irdischen durch den Heiligen und den Mönch: „Die körperliche Welt, die sie verachteten, mochte verderben, wenn nur die Seelen gerettet würden.“) - „Wir alle warten auf bessere Zeiten.“ (Franz Rosen, 1921) – Einige Gedanken an ehemalige Studentinnen und Studenten: Die junge Frau, die ihr Muttersein letztlich dem schulischen Wettkampf vorzog, die, die sich mit einem letzten Täuschungsversuch über Wasser zu halten versuchte, diejenigen, die sich scheuten, einen Beitrag zu leisten, einfach nur die Füße auf den Tisch legen wollten, vor der Syntax kapitulierten, wunderbare Gedanken zutage brachten, sich den Reizen der Schönheit und Kontemplation hingaben, philosophierten, auf Albernheiten lauerten, ihrer Faulheit frönten, die Uhren vorstellten, den Unterricht schwänzten, sich bloßgestellt fühlten, anstrengten, nachdenklich und einsichtig zeigten, sich berieseln ließen oder schlicht vorgaben »keine Ahnung« zu haben. Was also bliebe einem anderes übrig, als jedem einzelnen jener launenhaften Wesen die vollste Aufmerksamkeit und größte Hochachtung zu schenken und sich in jedem einzelnen Moment darüber bewusst zu sein, dass man allenfalls die »Perspektive« wechselte.


2033 – 1. 19


Das Nachdenken über Freundschaften im höheren Alter hat etwas entwürdigend Sentimentales. Das Gefühle: fortan nur noch im Singular mit sächlichem Artikel den Horror des Plurals bannen. Apokryphen Ansichten zufolge liege die Erlösung gerade im Verrat. Val interessierte sich nicht für die Ansichten der Leute. Seine eigenen Gedanken machten ihm genug zu schaffen. Meinungen. Er wolle bloß in Ruhe lesen.


2033 – 1. 20


Seifenoper der Leidenschaften oder das Motiv des Hundes: Die Redewendungen Lasses, eines windigen Typen, der immerhin den fragwürdigen Mut aufbrachte, die schütteren Stellen der Verhältnisse mit dem patinagrünen Ausdruck der Ambivalenz aufzumischen, machten Bosse, dem in seinen Augen heroischen Nihilisten, zugegebenermaßen redlich zu schaffen: „Seit du in mein Leben getreten bist, ziehst du viel Energie!“ Was er sich davon wohl versprochen haben mochte, als er einst die Banner der Freundschaft leidenschaftlich hisste? - „Seht her, dies ist mein Freund!“ - Mit Possessivpronomen hatte Bosse seit jeher erhebliche Schwierigkeiten: erblich bedingt; vermutlich. (Fragte mich am frühen Vormittag, wie lange es wohl möglich wäre, sich unbeschwert von üppigen Torten zu ernähren.) „Du würdest stolz auf mich sein!“ - Ließe sich ein Leben unter äußerst bescheidenen Verhältnissen durch die regelmäßige Spende von Blut, Samen oder Trost fristen? (Hätte er ihm von Anfang an misstrauen sollen? Eine törichte Frage! -, zumal Bosses ethisches Instrumentarium sich ex negativo konstituierte, worin er ein Grundgesetz menschlichen Verhaltens erkannte: wir schufen die Regeln unseres Verhaltens ausschließlich aus dem Gegenteil heraus; ein tatsächlich herkulisches Unterfangen.) „Nimm dich in Acht, mein Freund!“ (nimm2) - „Nimm einen Joint, mein Freund!“ (Witthüser & Westrupp)


2033 – 1. 21


Vom Trost des Schlagers. - Beginne den Tag mit einem Marmeladenbrot. Trotze der Versuchung, dich der ewigen Verdammnis ein für alle Mal hinzugeben, mit einem Entspannungsbad: Eintauchen und sich wohlfühlen (Apfel, Kokos, Lavendel, Sandelholz, Barbra Streisand: Someone to Watch Over Me.)


2033 – 1. 22


Kitsch und Cage. - Sich allem Tand des Lebens, ganz so wie es zufallsbedingt vorzufinden war, hemmungslos hinzugeben, darin sah Bosse, ganz im Gegensatz zu Lasse, dem Gefährten, sein Elixier. Zwar stets der Hand des Vaters, des Direktors, widerstrebend, lernte Lasse rasch den Wert von Zucht und Ordnung, dass man den Käse nicht vor der Wurst zu verspeisen hatte, sowie die Vorzüge der Anpassung an alles, was den Lebensweg mit Erfolg zu krönen versprach. Während man Bosse in seinem Nest schier alle erdenklichen Freiheiten ließ, fast sogar seinem Zorn wider den Umstand, schon im zartesten Alter eine Schule besuchen zu müssen, nachzugeben neigte, brillierte Lasse als Lernender, leistete Ausgezeichnetes, machte sich stets dort nützlich, wo Organisation und Verantwortung Bestallung in Aussicht stellten und erwies sich recht bald schon als ganz und gar starker Charakter. War es Bosses ungezügeltes, rastloses Wesen, das Lasse anzog? War es die züchtigende Hand des Direktors, die Lasse trotz zunehmenden Widerstands dauerhaft zu bändigen vermochte? Noch im reifen Mannesalter blieb Lasse, durch und durch ein gebundener Geist, ein Nachahmungskünstler, ein Meister des Mimikry, ganz so, wie es ihm selbst in den verworrensten Situationen des Lebens einen Nutzen einbrachte. Die anfängliche Begeisterung für die mannigfaltigen Missgeschicke Bosses, dessen Leben nach allen Seiten sauste, der Huren den Hof machte, finstre Tanzmusik ersann, überall dort zu stehlen pflegte, wo niemand es vermutete, dennoch stets Räume schuf für diejenigen, die nach eigenständiger Erkenntnis der Welt strebten, ihnen Aufmerksamkeit, ja höchste Achtung erwies, weil ihm das Schenken als Notwendigkeit schien, wandelte sich schleichend in Argwohn und Missgunst, erzeugte ein Bild der Verachtung Bosses, den er noch nach Jahrzehnten getrennter Wege Dritten gegenüber verurteilte und verunglimpfte.


2033 – 1. 23


Perpetuierte Tabubrüche: Keine Geschichten aufkommen lassen; sie im Keim ersticken – oder in Parenthesen (Geschichten von Val, von Lo oder von Lasse und Bosse). Gesammelte Indiskretionen aus grob geschätzt circa fünfundzwanzig Jahrhunderten; vielleicht mehr, vielleicht weniger: Confessiones und Gender Reveal Parties.


2033 – 1. 24


(Eurozentristische) Jubiläen. - Feierlichkeiten waren nach wie vor durch und durch obszön. „Den Untergang vor sich her stoßen“; so der Wortlaut eines vergilbten Eintrags (1983 – 1. 30). Die Satire war längst zum Gewäsch verkommen. Jedes der jüngeren Gesichter hatte sich teils bewusst und opportun, teils unbewusst, der Missachtung der Geschichte verschrieben: Blöße und Bloßstellung der Geschlechter (und ihrer Kämpfe) über Generationen (und Generationen) hinweg: Generation Z – Generation X Generation Δ + Generation Ω ≠ П². (Selbst der Mathematik wohnte letztlich die fade, allzumenschliche Ungeduld inne, endlich etwas Bleibendes im Unendlichen schaffen zu können, was sich freilich nicht einfach ausrechnen ließ. Anlass eines anfänglichen Interesses an der Willkür der mathematischen Technik, der Kunst des Lernens schlechthin, sowie ihrem unablässigen Beweggrund, Lösungswege zu konstruieren, war die Einsicht von der Unmöglichkeit zu beweisen, dass 1 + 1 = 2 sei, was eine Form bisher nicht enden wollender Schadenfreude auslöste: Man hatte sich seit jeher in zahllosen Berechnungen verrechnet!)


2033 – 1. 25


Eight days a week. Eine kleine Nachtmusik für »Kammerjäger« (Notiz auf einer Spielkarte): Wo immer eine althergebrachte Idee lauerte, galt es, Abstand zu halten, sofern man danach trachtete, weitgehend in »Frieden« zu leben. Die (schwärmerische) Idee der Freundschaft (und freien Liebe) war ihm wenigstens ebenso fragwürdig geworden wie jede begeistert vorgetragene (esoterische) Hoffnung auf vorzügliche (und verwegene) Verbesserungsvorschläge durch proteinhaltige Lebensmittel (0,8 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht), die totale (keimfreie) Digitalisierung [Sozialkreditsytem(e)], Sozialismus (inklusive aller weiteren Ismen), die sanfte Rebellion des (Free) Jazz, marktwirtschaftliche Nachhaltigkeit (Auf- und Abrüstung), praktische und erkenntnistheoretische Psychologie, rezeptpflichtige Heilmittel und mathematisch projizierte Gottesbeweise { Ringparabel: „Vertragt euch, Kinder!“}.


2033 – 1. 26


Schnelle Zehntel. - Schwankte nochmals wie der Zeiger eines Metronoms zwischen Zuneigung und Ablehnung Äußerungen anderer gegenüber. Das zügige Denken entschleunigen: Von maximal vierzehn Wörtern im Zehntel einer Sekunde zu der gleichen Anzahl in einer Minute. Ausdehnung des Raums: Suche nach Ereignissen in der habitablen Zone vergangener Begegnungen. Fragwürdigkeit rückwärts gewandter Sondierungen. Diebstahl zur Freude »schöner Götterfunken«: Ein emsig gepflegtes Laster - ohne ein gewisses Maß an Kleptomanie wäre die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben äußerst fade. »Alle Guten, alle Bösen folgen ihrer Rosenspur.«


2033 – 1. 27


Aufruf des amtierenden Präsidenten der Intergalaktischen Föderation zur kollektiven Kontaktaufnahme. Auch im vergangenen Jahr, so die Pressestelle der Föderation, seien die Sichtungen unbekannter Flugobjekte erneut angestiegen. Die Beweggründe, die Himmelskörper auszuloten, würden sich nur geringfügig von denen unterschieden, die vor etwa einer Million von Sonnenaufgängen ins Visier genommen worden seien. Es sei weit darüber hinaus, so der Präsident mit größtem Nachdruck, eine nunmehr unumstößliche Tatsache, dass jede uns bekannte Form des Lebens als Abbild des Ganzen, welches wir weiterhin Galaxie, also verspritzte Milch, nannten, aufgefasst werden dürfe. Die Vereinigung solcher Ganzheiten entspräche der Gesetzmäßigkeit des Eis als biomorpher Urbrutstätte tiefschwarzer Püppchen: Die animalische Pupille als Analogon der Schwarzen Löcher und ihrer Haarlosigkeit. Der Präsident versprach sich und seiner Anhängerschaft die bevorstehende Beantwortung aller Fragen bezüglich des »Woher?« und des »Wohin?« jeder erdenklichen Lebensform innerhalb des Großen und Ganzen (GroGa) im intergalaktischen Rahmen eines synchronen Informationsaustauschs im Telepresence-Verfahren: „Endlich!“


2033 – 1. 28


8 + 1 ≥ 9 (¾ Uhren²) – Und wenn er doch einer Idee auf den Leim ging, etwa der der Freiheit, ließ er sie sprachlos gedeihen: Aus dem Staunen (und Raunen) kam man ohne weiteres sowieso nicht heraus; jedenfalls nicht lebend. Oder dünkt es dich nicht so? Den Dingen auf den Grund gehen zu wollen, verursachte entweder Atemnot oder führte geringstenfalls zu Verstopfung. Die meisten zur Verfügung stehenden Abführmittel, wiederholte Spiegelungen (Goethe) der Verdauungsorgane, Karl Augusts spekulative Existenzphilosophie, die holde Kunst der Aufzählung und Übertreibung, dienten schließlich, dem Himmel über den Weltmeeren sei Dank, der Erleichterung und Linderung. Erstaunlich auch, dass, noch bevor soeben Zusammengefügtes zu erkalten in der Lage war, sich nahezu von überall her kaum wahrnehmbare, beinahe unsichtbare Urteile – wie durch Geisterhand - in Bewegung setzten: Er brauche fortan nicht mehr zu wissen, welche Stunde es sei. „Alles andere ist probiert.“ Wohl dem, der keinen Staub aufwirbelt! [Liana Helas]




["La última costa", MM]


Milchfarben


Das Präsidium der Intergalaktischen Föderation ist natürlich bis auf Weiteres eine Stabsabteilung, aber immerhin, denn zuvor waren die intergalaktischen Angelegenheiten bis zuletzt geradezu belächelt worden, die Macke von notorischen Spinnern und Faslern. Immerhin konnte es dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen, dass es Intergalaktiker über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinaus gab, eine regelrechte Pizza-Connection 2.0.

In den verschiedenen Weltraumbehörden waren diese Leute natürlich nicht gerne gesehen, denn darin unterschieden sie sich vom etablierten Geschäft mit dem Orbit, dass es dort ja letztlich um rein irdische Belange ging: das Schürfen knapper Mineralien, die Besiedlung des Mars, Verklappung brisanter Abfälle. Der intergalaktische Ansatz sah die Sphäre des Außerirdischen grundsätzlich interaktiv, was seinen Vertretern die wenn auch abgedroschene Häme und den Spott der kleinen grünen Männlein eintrug. Neuerdings krähte bei solchen Gelegenheiten noch jemand aus dem Hintergrund: "Kleine grüne Weiber nit vergesse, wenn i bitten darf, haha!"
Tatsächlich ging dann die Zeit doch nach und nach über die Einfaltspinsel hinweg und unter der Hand wurden den Intergalaktikern wenn auch erst bescheidene Ressourcen für ihre Arbeit bereitgestellt, Bürostunden und Equipment, sehr zum Ärger der etablierten Weltraumbehörden und der Raumfahrtindustrie, die noch dazu einen stetig steigenden Betrag an intergalaktischen Abgaben aufs Auge gedrückt bekamen. [B. Karl Decker]



Donnerstag, 10. Dezember 2020

Bzw. ۲ ۴ ۸ [»Das blanke Eisen des Mondes (nach Thomas Bernhard)« für Bariton und Klavier (1996) von R. A. ol-Omoum]



["Natural Playing", Lorena Kirk-Giannoulis]


Das Gehirn ist so unfrei und das System, in das mein Gehirn hineingeboren worden ist, so frei, das System so frei und mein Gehirn so unfrei, daß System und Gehirn untergehen. [Thomas Bernhard »Die Irren   Die Häftlinge« (1962)]

Wir können uns einreden, dass wir mit einem Buch nicht allein sind, wie wir uns einreden können, dass wir mit einem Menschen nicht allein sind. [Thomas Bernhard »Verstörung« (1967)]




["Around Me Black", Lorena Kirk-Giannoulis]


Unser Unterrichtssystem ist in Jahrhunderten krank geworden, und die in dieses Unterrichtssystem hineingezwungenen jungen Menschen werden von diesem kranken Unterrichtssystem angesteckt und erkranken zu Millionen, und an Heilung ist nicht zu denken. Die Gesellschaft muß ihr Unterrichtssystem ändern, wenn sie sich ändern will, weil sie, wenn sie sich nicht ändert und einschränkt und zum Großteil abschafft, bald an ihrem sicheren Ende ist. [Thomas Bernhard »Die Ursache« (1977)]

Wir müssen den Papst von Angesicht zu Angesicht sehen und persönlich feststellen, dass er alles in allem ein genauso hilflos-grotesker Mensch ist, wie alle andern auch, um es aushalten zu können. [Thomas Bernhard »Alte Meister« (1985)]












[Aus: Thomas Bernhard »Unter dem Eisen des Mondes« (1958)]


Es gibt ja nur Gescheitertes. Indem wir wenigstens den Willen zum Scheitern haben, kommen wir vorwärts und wir müssen in jeder Sache und in allem und jedem immer wieder wenigstens den Willen zum Scheitern haben, wenn wir nicht schon sehr früh zugrunde gehen wollen, was tatsächlich nicht die Absicht sein kann, mit welcher wir da sind. [Thomas Bernhard »Ja« (1978)]

Die Großväter sind die Lehrer, die eigentlichen Philosophen jedes Menschen, sie reißen immer den Vorhang auf, den die andern fortwährend zuziehen. [Thomas Bernhard »Ein Kind« (1982)]




["Nature 1", Lorena Kirk-Giannoulis]


Dem Sport ist zu aller Zeit und vor allem von allen Regierungen aus gutem Grund immer die größte Bedeutung beigemessen worden: er unterhält und benebelt und verdummt die Massen, und vor allem die Diktatoren wissen, warum sie immer und in jedem Fall für den Sport sind. [Thomas Bernhard »Die Ursache« (1977)]

Alles ist künstlich, alles ist Kunst. Es gibt keine Natur mehr. Wir gehen immer noch von der Naturbetrachtung aus, wo wir doch schon lange nurmehr noch von der Kunstbetrachtung ausgehen sollten. [Thomas Bernhard »Auslöschung« (1986)]


Freitag, 20. November 2020

Z. Z. XI [»Hinkünftige Tages- und Nervensegen II«]

 


["Sísifo", José de Ribera (1591 - 1652)]


Je laisse Sisyphe au bas de la montagne ! On retrouve toujours son fardeau. Mais Sisyphe enseigne la fidélité supérieure qui nie les dieux et soulève les rochers. Lui aussi juge que tout est bien. Cet univers désormais sans maître ne lui paraît ni stérile ni fertile. Chacun des grains de cette pierre, chaque éclat minéral de cette montagne pleine de nuit, à lui seul, forme un monde. La lutte elle-même vers les sommets suffit à remplir un cœur d'homme. Il faut imaginer Sisyphe heureux. [Albert Camus »Le Mythe de Sisyphe« (1942)]



Stapfen (Pfarrersprech IX)


Mögest du die hellen Fußstapfen des Glücks finden und ihnen auf dem ganzen Weg folgen.

Helle Fußstapfen, das muss so ein Reklame-Firlefanz der Kirche sein, wie die Turnschuhe mit Blinklichtern, die sie jetzt den kleinen Kindern kaufen. Eigentlich sind für so etwas die Großeltern zuständig, und den Eltern geht's auf die Nerven. Kommt aber auch umgekehrt vor, besonders ärgerlich, wenn das Geld schon für vernünftige Sachen nicht reicht. Neuerdings kriegt man in der Kirche dies und das geschenkt, ähnlich wie's die Parteien im Wahlkampf machen. Steht aber zu Hause länger rum, irgendwie fällt es einem schwerer etwas wegzuwerfen, was mit der Kirche zu tun hat. Weiterschenken hilft da manchmal, man kommt sich aber doch komisch dabei vor. Am schlimmsten sind Basare, Orgelpfeifen, Kirchenbänke, man kennt das, besser einfach das Geld geben und Schwamm drüber. Jetzt also "helle Fußstapfen", da können wir sehen, wie wir die wieder loswerden! [B. Karl Decker]


Die Denunzianten (Der Erzählung weiterer Teil)


Es im Denunzieren zu einiger Meisterschaft zu bringen, erforderte ein beträchtliches Maß an Übung, wie die Hinzbergers wussten, aber natürlich nicht wissen wollten, schon deshalb nicht, weil ihnen die Gehässigkeit sozusagen im Blut lag. Die Missachtung von Regeln, an sich etwas Alltägliches und im Grunde Unvermeidliches, rührte bei ihnen an einen Nerv ganz im Sinne überhaupt einer Daseinsfrage. Nicht dass sie nicht auch selber gegen Regeln verstießen, aber ganz offensichtlich machte sich, im Gegensatz zu ihnen, eben niemand die Mühe Anzeige zu erstatten. Im Gegenteil, stattdessen setzte man sich ins Unrecht durch mehr oder weniger waghalsige Racheakte.

Mit der Überwachungskamera hatte Hinzberger dokumentiert, wie ein Nachbar rechtswidrig in der Einfahrt den Wagen wusch. Diese Kamera, die eigentlich den Eingangsbereich des Hauses der Hinzbergers abdeckte, ließ sich vom Bildschirm im Büro aus schwenken, eine Möglichkeit, mit der man vorsichtig umgehen musste, weil die Drehbewegung Reflexe der Linse verursachte, etwa wie Kinder, die mit einem Spiegel spielten. Auch machte Frau Hinzberger Gezeter, die ihrem Mann vorwarf lüsterne Blicke ins Bad der Nachbarn zu werfen, was natürlich Unsinn war, weil das Badezimmer Milchglasscheiben hatte. Allerdings, Herrn Hinzberger war vor Schrecken schier das Herz stehen geblieben, schwenkte die Kamera auch über das Gartenstück, in dem sich die Nachbarin oben ohne sonnte. Man musste einmal nachforschen, ob so etwas überhaupt erlaubt war. Mit Frau Hinzberger war darüber natürlich kein vernünftiges Wort zu wechseln, weshalb er plante dieses Projekt vorerst alleine voranzutreiben.


* * *


Herr Hinzberger führte nicht nur Buch über die verschiedenen auszuführenden Arbeiten am Bau und machte Anmerkungen dazu, wie sie eigentlich anders, nämlich richtig, gemacht werden mussten, vor allem überwachte er genauestens Ankunft und Aufbruch eines jeden der auf der Baustelle eintreffenden und abfahrenden Arbeiter. Diese Liste führte er erst heimlich für sich selber, um allerdings zu gegebener Zeit doch mit den Bauherren einmal einen Abgleich vorzunehmen und ihnen die Augen zu öffnen. Schließlich wusste er am besten, dass bei nichts mehr Schindluder getrieben wurde als bei der Verrechnung der geleisteten Arbeitsstunden. Natürlich wurde auch beim Material geschummelt, weshalb er über diesen Punkt ebenfalls eine Liste führte, was schon zu Auseinandersetzungen mit den Fahrern geführt hatte. Einer hatte ihm seinen Block vor die Füße in den Dreck geschmissen, er versuchte nämlich sich seine Notizen nach Möglichkeit durch Unterschrift bestätigen zu lassen. Verwirrt oder zerstreut hatte der eine oder der andere irgendeinen Krakel auf das Blatt geschmiert. Die Sache hatte sich aber bis zum Chef herumgesprochen. "Hier wird gar nichts unterschrieben!", war der hochgegangen wie eine Rakete. Der Alte war sogar ihm selber schon ein paarmal dumm gekommen. "Ziehen Sie hier Leine, und stolpern Sie nicht in meiner Gegenwart mal übern Mörteleimer oder kriegen eine Latte an die Birne, von bisschen nachhelfen will ich lieber nichts gesagt haben!" Damit war der Krieg endgültig erklärt. Eine Anzeige wegen Beleidigung, schließlich war das Wort "Birne" gefallen, lief ins Leere oder war irgendwie verschütt gegangen. Hinzberger wusste aber, dass man bei diesem Kerl aufpassen musste. Eine Liste mit den Kennzeichen der Autos, mit denen der vorfuhr, legte er jedenfalls schon einmal an. [B. Karl Decker]


2065 (Ablässe 1. 1 – 1. 9)


2065 – 1. 1


Dass i einmal neunundneunzig Jahre alt werden würde, hätte ich mir, trotz der prophetischen Vorhersagen meiner Hausärztin, etwa um die Jahrtausendwende herum, niemals träumen lassen. Dass man hie und da noch längere, mehr oder weniger wohlgeformte Sätze, konsequenterweise Konsekutivsätze, vorfand, war freilich eines der schönsten Geschenke, die einem Greis gemacht werden konnten, auch wenn inzwischen niemand mehr 'ich' sagte, bloß eben i, allerdings ein lang gesprochenes, klein geschriebenes i; das ist nicht allzu wichtig, denke i; das große englische 'I' war dem eher keuchenden, mitunter krächzenden 'ich' seit jeher überlegen; erhabener gewissermaßen, imperialer. Man konnte diese Spielchen eine Weile mitspielen und darauf achten, ob sie etwas mit einem anstellten, ob sie den Umgang miteinander maßgeblich veränderten oder nicht. Aus meiner unmaßgeblichen Sicht haben sie zwar keinen Schaden angerichtet, die großen Feindseligkeiten konnten sie aber bisher nicht aus der Welt schaffen. Auch dass wir uns fortwährend Namen für all die Stürme und Himmelskörper erfanden, Pflanzen und Viren, denen wir die Eigenschaften eines Lebewesens absprachen, änderte rein gar nichts an unserem Ausgeliefertsein an die Erscheinungen; noch immer hielt man an den Regularien geltender Kalender fest; noch immer klammerte man sich an Kraftfahrzeuge, Religionen, Uhren oder Geld. Dass nunmehr ein neues Jahr begonnen hatte, brachte mi schon lange nit mehr aus der Fassung.


2065 – 1. 2


Zeit seines Lebens hielt ihn das Wunder, die Wunde der Wörter, auf Trab, wie einen Kuhjungen das Rodeo. Du wächst hinein in dieses Labyrinth, orientierst dich darin, mit Redensarten im Gepäck, mehr schlecht als recht zum Beispiel, gewöhnst dich an deine Ausrüstung, reagierst leicht gereizt über die Ausweichmanöver derjenigen, die sich nach dir ins Labyrinth begeben, möglicherweise sogar deinen Weg kreuzen, dich in ihre Nischen zu zerren versuchen, in denen sie sich eingerichtet haben, und dabei auch noch den Mund verziehen; es sieht so aus, als würden sie mit dir spielen wollen; sie grinsen.


2065 - 1. 3


Es ist absehbar, dass die Aufzeichnungen ebenso abrupt enden werden wie sie irgendwann einmal begonnen haben. Der Eintrag mit der Datierung 1977 – 4. 23 gibt Aufschluss über die Freude, die der Buchhalter darüber empfunden haben musste, als seine Erzeuger ihm einen Zehnmarkschein zusteckten, mit dem er ein Exemplar der Langspielplatte Magical Mystery Tour erwarb. „Danach gingen wir Fisch essen“, heißt es weiter, „und ich bekam später die zweite LP von Paul Anka. Sie kostete drei Mark, aber der Haken war, ich brauchte einen Club-Ausweis, um sie zu bekommen. Das wußte ich jedoch vorher nicht. Aber als ich an der Kasse stand und die Verkäuferin mich aufklärte, sagte eine nette junge Frau, daß sie die Platte für mich nehmen wolle und so bekam ich sie dann, - obwohl ich die Platte, als ich sie gehörte hatte, gar nicht so besonders fand!“ Was für ein Knirps! Worin er einen Glückstag für sich sah, erkannten andere möglicherweise bloß eine belanglose Begebenheit, einen Kaufrausch; vielleicht lag hierin eines der Geheimnisse des Altwerdens, nämlich Glückstage zu erhaschen; vielleicht lag es aber auch an den Unmengen von genmanipuliertem Käse, den der Knirps seitdem verschlungen hatte, dass er sich nunmehr einen Greis nennen durfte. Und was hatte er an Käse, auch sehr feinem, und an Musik nicht alles in sich hineingefressen! Noch immer, sehr leise, manchmal kaum noch wahrnehmbar, verzehrte der Greis Tag für Tag sehr streng nach dem Zufall ausgewählte, höchst komprimierte Datenmengen an Klängen und Geräusch.


2065 – 1. 4


Es hatte sich nichts Wesentliches geändert; allenfalls, dass kaum einer mehr von Dystopien etwas wissen wollte (oder konnte), über die ich schon staunte, als ich noch keinen Bartwuchs hatte. Sic! Ohnehin begegnete ich kaum noch lebendigen Wesen; diejenigen, die nach den großen Wirbelstürmen geboren worden waren, erinnerten mich beinahe alle an den Autisten Klaus, mit dem ich zwischen 1985 - 12 und 1987 - 7 einige Zeit verbrachte. Etwas in Klaus, einem etwa zwei Meter großen Mann von damals rund dreißig Jahren, vermittelte den Eindruck, dass er spürte, ja vielleicht sogar sehr genau wusste, wie er seine Umgebung mit dem im Rundfunk aufgeschnappten Potpourri aus Werbesprüchen belustigen würde: „Wir reißen uns sechs Beine für Sie aus! Vorsprung durch Technik. Schönes Haar ist dir gegeben. Pausen sind lila, Pausen sind lila. Vorsprung durch Technik. Vorsprung, Vorsprung. Sechs Beine für Sie! Pausen, Pausen; lila. Verlässlichkeit für viele, viele Jahre. Man gönnt sich ja sonst nichts! Pausen sind lila, lila, lila. 8 mal 4, 8 mal 4. Nicht nur sauber, sondern rein! Man gönnt sich ja sonst nichts! Rein, rein, rein. Man gönnt sich ja sonst nichts!“ Die Sprüche waren seit geraumer Zeit, wie man sagt, auf die Nachfrage zugeschnitten: auf Verstopfung, Hygiene, Anästhesie, Well- und Fitness, Stimmungsaufheller und Fortpflanzungssimulatoren; nach wie vor aber auf Düfte und Aromen mit allerlei exotischen Namen. Ein anderer warf mit Stühlen, wenn das Wetter in geringfügigster Weise von der Vorhersage abwich; er sah ein wenig aus wie Anthony Perkins in seinen Rollen als Norman Bates oder Josef K., an die sich heute kaum noch einer erinnern wird, da man das Interesse an Filmen ebenso verloren hatte wie das Interesse an umfangreicheren Schriftstücken. Freilich schnappte man noch, ähnlich wie Klaus, Bruchstücke aus Literatur und Philosophie auf, wenn man sich einen sozialen Nutzen oder Vorteil davon versprach.


2065 – 1. 5


Heute Nacht von Duke Ellington geträumt: Bei einem Kaffeekränzchen in einem altmodisch eingerichteten Wintergarten tauchte der Duke unvermittelt auf, schlug eine Glaspuppe mit einem hellblauen, bayrischen Blumenkleid mit den Füßen so lange auf den gedeckten Tisch, bis sie zerschellte. Die anwesenden Gäste, fast ausschließlich Damen in meinem Alter, klatschten begeistert in die Hände; einige begannen hemmungslos zu schreien, ganz so als handele es sich nicht um den Duke, sondern vielmehr um die Wiederkehr Elvis Presleys. In der schier nicht enden wollenden Extase verschwand der Duke schließlich. Später gab er im Wohnzimmer des gleichen Anwesens vor demselben Publikum eine Kostprobe seines Könnens auf einer Konzertgitarre, deren obere Zarge er fest gegen seinen Unterleib presste, während er mit seinen Zähnen die Stimmwirbel drehte. Das Griffbrett bearbeitete er virtuos mit der rechten Hand und hin und wieder konnte man Motive aus What Am I Here For und Day Dream erkennen. Als die begeisterte Zuhörerschaft den Vortrag mit ihrem Gesang zu unterstützen begann, wachte ich auf mit den Worten: „Daydream, why do you haunt me so?“


2065 – 1. 6


Der viel diskutierte Politologe und Verschwörungstheoretiker Palopp, der es bemerkenswerterweise für einen Teil der Verschwörung hielt, dass man ihn als Verschwörungstheoretiker bezeichnete, hatte schon zu Beginn der durchseuchten Zwanzigerjahre zu einer Demonstration in einer mittelgroßen Stadt, etwa in der Mitte des Landes, aufgerufen, auf der man mit Sprechchören wie »Wir sind wir!« durch die Straßen zog. Anlass für den Aufmarsch waren unter anderem erweiterte Hygieneschutzmaßnahmen sowie die dauerhafte Ansiedlung sogenannter »Halbmenschen« auf dem Planeten März; sein bedeutendstes Projekt aber bestand in dem leidenschaftlichen Aufruf, die amerikanischen Kontinente den Ureinwohnern zurückzugeben: »Wir sind wir! Wir sind wir! Wir sind wir!« Palopp scharte Redner um sich, die die Regierung vor Gericht stellen, eine neue Verfassung aufsetzen und zu einer kritischen Masse aufrufen wollte: »Wir haben keine Armeen, wir haben keine Waffen! Wir lassen uns nicht degradieren zu Biorobotern. Wir sind wir!« Die Stimmen wurden bald lauter, bald wieder leiser, suchten Zuflucht in der Hoffnung, dass allen Trümmern der Vergangenheit zum Trotz noch nicht alles ausgeschöpft worden sei, dass Heroismus und Revolution sich auf schmalen Wegen doch noch mit antiker Weisheit verbinden lassen würden, es einen Volkswillen geben könne, der endlich in Einigkeit und Seligkeit zur Freiheit führe. Der Stein rollt wieder. »Es werde Recht!« In den Dreißigerjahren soll sich Palopp nach Argentinien abgesetzt haben, um dort seinen Kampf gegen den Gipfel fortzusetzen. Seine Nachfahren behaupten, er sei ein glücklicher Mensch gewesen. Gerüchten zufolge soll Palopp auf einem kleinen Friedhof im Département Vaucluse bestattet worden sein.


2065 – 1. 7


Neuerdings erhielten Neugeborene überwiegend Namen, die entweder dem medizinischen Fachvokabular oder dem der Automobilbranche entstammten. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich seit mindestens einem Jahrzehnt männliche Vornamen wie Dekubitus (Kubi), Dermatom (Dermi), Heck oder Kolben sowie weibliche wie Slicks, Gingiva, Hypnotika oder Plasma. Die Eltern hießen meist Tesla, Adipositas, Dopamin oder Elon. Dass das Bedürfnis nach Science Fiction nach und nach verschwunden war, leuchtete mir ein.


2065 – 1. 8


Obacht! - Schleichend verschwand die lineare Zeit in den Assoziationsmechanismen schon der Großmutter. Wirst du den Übergang bemerken? Wirst auch du in deinen Vergangenheiten die Besinnung verlieren? Die Großmutter berichtete von berittenen Soldaten im Ersten Weltkrieg, befand sich im nächsten Moment ganz in einem Streitgespräch mit ihrem Ehemann über eine Dose Ananas für die Kinder, plötzlich selbst ein Kind, sang sie ein Lied auf einem gestohlenen Motorrad fahrend, stahl Kartoffeln im Zweiten Weltkrieg, trug den Ehemann die Treppen hinauf und hinab, lachte und weinte und nässte sich ein.


2065 – 1. 9


Etwa um das fünfzigste Lebensjahr des Greises herum begann die Menschheit als Ganzes in Digits zu denken. Alles sollte zu Digits werden, weil dies unser Dasein erleichtere, uns endlich in einen Zustand versetze, in dem alles gut werden müsse: „Sei in Digits!“ - Ganze Völker sangen nun, gleich ob links oder rechts, gelb, rot, weiß oder schwarz, in wachsender Lautstärke, in unterschiedlichen Tonlagen und Harmonien, vollumfänglich und nachhaltig, weltlich und geistlich, den Siegeschor des Absurden: „Alles gut, alles gut!“ [Liana Helas]




["Thanatos II", Jacek Maleczewski (1854 - 1929)]



Unseglich (Pfarrersprech X)


Möge Klarheit sich spiegeln auf dem Grunde deines Herzens. Rein sei deine Seele wie ein See in der Stille des Gebirges.

(Volksweisheit / Volksgut: Dieser schöne irische Segenswunsch ist vielleicht besonders für liebe Menschen geeignet, die gerade vor einer Entscheidung stehen und sich nicht ganz klar darüber sind, welchen Weg sie einschlagen sollen.)


Wenn mir etwas klar geworden ist, wundere ich mich als mein bester Kumpel darüber, wie blöd ich eigentlich sein konnte.

Meistens kommt man ja zu Einsichten, die andere längst haben; bloß, dass einem das bis dahin nichts nützt.

Was anderes ist, nicht zu wissen, was man will. Die meisten haben damit kein Problem, weil sie normalerweise unzufrieden sind; schließlich haben andere Leute, was ihnen aber noch fehlt.

Fatal wäre demnach, wenn dir nicht weiter fehlt, was andere haben. Das wäre eine Art Antriebslosigkeit, aber auch Freiheit von Bedingungen, die nun mal dem gestellt werden, der etwas verlangt. Dein Herz schlägt indessen unbemerkt seinen Takt, die Zeit ist vorübergegangen in Tun oder Nichtstun; man könnte nicht sagen, welches von beidem. Bist du denn nun auf deinem Weg rechts abgebogen, oder links, oder gar nicht? [B. Karl Decker]