Samstag, 10. August 2019

The Gas Station (Variationen) [= S / W 5.16] - »A evita ridicolul înseamnă a refuza singura şansa de nemurire.« [Mircea Eliade]



["Crepuscul", Liana Helas (2009)]


Misiunea mea este să îmi omor timpul, a lui să mă omoare pe mine. Ne înţelegem bine, ca între asasini. [E.M. Cioran]



["Undeva", Liana Helas (2009)]


Nemurirea sufletului e o consolare. Dar nu trebuie să abuzăm de ea. [Mircea Eliade]

Fiecare om pe care îl întâlnesc în drumul meu îmi e superior prin ceva. De aceea încerc să învăț câte ceva pe lângă fiecare. [Sigmund Freud]






5. 16 Rosen


Natürlich meldete sich das Gewissen nicht ohne seine üblichen Begleiter, wie auch sonst? Hätte es die Stimme aus dem Untergrund sein sollen, tief und mit viel Hall: "Rohlfs, du sollst nicht töten!" Oder das Bimmeln des Armsünderglöckleins?

Zur Gefechtsübung waren sie bei denkbar schlechtem Wetter ausgerückt. Es musste eine beträchtliche Wegstrecke zu viert und nach dem Kompass zurückgelegt werden. Weil so gut wie keine Vorbereitung auf diesen Teil der Übung stattgefunden hatte, hatten die Unteroffiziere alle Hände voll zu tun, mit dem Jeep an den entscheidenden Wegkreuzungen zu stehen und durch mehr oder weniger pädagogisches Geschick die einherirrenden Rekruten mit der Nase auf den richtigen Abzweig zu stoßen.

Dieses Schummeln wurde nicht sogleich als solches verstanden, vielmehr versuchte man sich herauszumogeln, weil man das Ganze für eine Prüfung hielt, bei der zu versagen irgendwelche Schikanen zur Folge haben würde.

Tatsächlich war aber natürlich ein Zeitplan einzuhalten, schon wegen der Feldküche, aber auch wegen der sonst noch geplanten Übungen. So fand man sich also ziemlich genau mittags auf einer Lichtung ein, die einem irgendwie bekannt  vorkam, so als sei man hier, jedenfalls keine fünfzig Meter von hier, schon einmal, wenn nicht mehrmals bereits vorbeigekommen.

Ohnehin war man Kameraden anderer Trupps begegnet, die mehr oder weniger dieselbe Route abzulaufen hatten, bloß dass die Reihenfolge der Etappen eine andere war.

Das Essen aus der Feldküche hatte man sich anders vorgestellt, weil ja jeder schon einmal auf einer Ausstellung bei der Bundeswehr gegessen hatte. Dies war aber das Mittagessen, wie es nach Vorschrift von ebensolchen Neulingen wie sie selber, wenn auch unter Aufsicht eines Feldwebels, mehr zusammengeschüttet als zubereitet worden war. Man wunderte sich, wie in einer derart heißen, deutlich brandig schmeckenden Suppe die Fleisch- oder Wursteinlage, so genau konnte man das nicht sagen, kalt geblieben sein konnte, worüber ein allgemeines Gemecker bereits im höchsten Gange war, als Rohlfs an die Reihe kam. Die Küchenbullen hatten bei Kritik am Essen natürlich gleichgültig zu bleiben. Wahrscheinlich wurde ihnen das im theoretischen Unterricht beigebracht. Auch war man vorne in der Schlange doch froh, wenigstens demnächst dran zu sein, schließlich hatte man Hunger und konnte nach dem langen Marschieren kaum noch auf den Beinen stehen. Also gab man die Marke unter leidlich munterem Gefrotzel ab, bekam seinen Schlag und auch noch die eiserne Ration, um doch sogleich festzustellen, dass es wirklich ein miserabler Eintopf war.

Der Nachmittag war dahingegangen mit einigem Herummarschieren, bei der Hitze für die Dickeren und die Kleineren eine Strapaze, die der eine mit Verbissenheit wegzustecken versuchte, obwohl es eigentlich nicht mehr ging, der andere ergab sich fatalistisch, lud den Zorn derer auf sich, die seinetwegen ins Stolpern kamen. Als einige bemerkt zu haben glaubten, dass man an einer Stelle vor längerer Zeit schon einmal vorbeigekommen war, noch dazu an einer, die man vom Vormittag her bereits kannte, lud sich die Atmosphäre gefährlich auf. Die Stimme des Unteroffiziers, die sich ohnehin leicht überschlug, wollte sich gar nicht mehr aus ihrer hysterischen Fistelei herabbewegen. Es war nicht leicht zu glauben, wie ein solches Unteroffiziersbübchen dem Zorn des Zuges, den er kommandierte, nur auch noch für Minuten Einhalt gebieten wollte. Irgendwie schaffte man es doch den Platz zu erreichen, an dem für die Nacht kampiert wurde. Die verschiedenen Gruppen lagerten mehr oder weniger auf Sicht- und Hörweite. Es war relativ rasch ziemlich stark abgekühlt, weshalb die Gemüter sich gleichermaßen beruhigten, abgesehen davon, dass einige mutmaßten, es werde wohl auch noch zu regnen anfangen. Das war dann allerdings mit Einbruch der Dunkelheit tatsächlich der Fall, so dass man kleine Rinnen grub, damit die Zelte nicht vollliefen. Wenn man auch vorher schon nur wenig von den anderen Gruppen gesehen hatte, so hörte man doch, dass das ganze Wäldchen voller Leute war, die mit Gegenständen hantierten, wohl auch einmal auflachten, hauptsächlich aber kleine Flüche ausstießen, denn natürlich lief das Wasser eben doch in die Zelte, denkbar primitiv, wie sie waren; aber da sie keinen Boden besaßen, konnte die Nässe wenigstens ein wenig versickern. In einiger Entfernung durch das Waldstück hindurch waren von einer vorhergehenden Übung noch die Gräben vorhanden, in denen sie abwechselnd Stellung zu beziehen hatten. Unter strengem Befehl, dass die Übungsmunition zu verschießen sei, wurden Platzpatronen ausgegeben, der Gipfel der Lächerlichkeit, wie Rohlfs meinte. "Herrgott nochmal, dann verschießt du sie eben", sagte der kleine Pilarski, neben dem er zusammen im Graben lag. "Halt in die Luft, oder meinst du, mir wäre es nicht auch zu blöd?" Einmal erschraken sie zu Tode, weil der Unteroffizier lautlos hinter sie gekrochen war und unvermittelt sagte: „Dass mir hier keiner einpennt. Das ist ganz klar, dann setzt es eine Diszi, die sich aber gewaschen hat“, wobei sich auch geflüstert seine Stimme wie üblich überschlug. "Der Heini macht sich die Hosen voll, weil es schon mit dem Orientierungsmarsch nicht die Bohne gelappt hat", Pilarski fummelte an seinem Gewehr herum, fehlte nur, dass es losging, irgendwie gefiel ihm das Indianerspielen doch. Rohlfs, der ihn eigentlich mochte, beneidete ihn um die Fähigkeit sich aus noch so großen Demütigungen fröhlich zu erheben, als sei das Leben nun einmal so und so und nicht anders.

Als sie einmal nachts Alarm hatten, war Pilarski mit wehendem Hemd und baumelnden Hosenträgern zum Antreten gerannt gekommen, der Helm hing ihm im Genick wie eine Mütze, zum Gelächter des gesamten Zuges, nur der Feldwebel versuchte sich künstlich aufzuregen.

Pilarski, der neben Rohlfs marschierte und auch sonst redselig war, erklärte in seinem hessischen Tonfall, der Alarm sei ihm sofort in die "Gedärme gefahre", er sei "buchstäblisch nit vom Klo runnergekomme". Aber was das Übelste sei, er habe nämlich in der Eile keine Strümpfe in seine Stiefel angezogen.

Wer dachte denn auch, dass die uns um die ganze Kaserne herumjagten in aller Herrgottsfrüh! Wenn er nicht gleich sein Quasselmaul halten würde, bekäme er einfach mal einen Tritt in den Arsch, verdammt nochmal, wie einer um diese Uhrzeit pausenlos quatschen könne, fuhr ihn der an, der hinter ihm lief, was Pilarski in gleicher Geschwätzigkeit beschwichtigte, woraufhin dann aber für längere Zeit wirklich Ruhe war. Irgendwann fing er an zu stöhnen, es würde jetzt bald nicht mehr gehen, weil er ja keine Strümpfe anhabe.

Der Hintermann stolperte, Pilarski schrie auf und wimmerte von diesem Moment an bis zum Ende des Marsches. Die letzten vier-, fünfhundert Meter hatte er alleine, weit abgeschlagen hinter dem Zug laufen müssen. Im Hof warf er sich weinend auf die Erde. Was in seinen Schuhen glänzte, war alles Blut, er hatte sich, so sah es aus, alle Haut von den Füßen gelaufen, man glaubte das rohe Fleisch zu sehen.

 Sie verabredeten auf der nächsten Wache doch abwechselnd zu schlafen, der Uffz hätte selber die Hosen voll und würde wahrscheinlich auch nicht ausgerechnet zu ihnen noch einmal kommen.

Gedankendiebstahl sollte man ihm vielleicht eines Tages zum Vorwurf machen, wobei er dies fast beinahe schon als Tugend definierte. Was für eine Anmaßung, dachte er, jeden gelungenen Gedankengang gewissermaßen in eigenen Worten formulieren zu wollen. Welche Instanz sollte sich wohl erlauben, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen, wo er doch gar keinen Hehl daraus machte, wen er für die Gleichgesinnten hielt. Fast resultierte eine Pflicht daraus, doch konnte man sich natürlich hierin leicht täuschen. Irgendwo wollte er seine Beute sichten, seine Benommenheit würde sich bald legen, hieran konnte kein Zweifel bestehen, sagte er sich, doch musste er zunächst durch Moldova marschieren. Nichts und niemand würde ihn jetzt noch aufhalten können; niemand würde ihn jetzt davon ablenken können, seinen wichtigen Auftrag zu erfüllen. Ein unbezwingbares Glücksgefühl machte sich in ihm breit. Marching with Honor. Das erlegte er sich zumindest auf und es schien ihm, als sei dies die erste wohldurchdachte Entscheidung, die er seit seiner Verschleppung getroffen hatte. Ohne Groll dachte er vor allem an Lucia, als er, einer Laune folgend, seinen Weg durch ein Maisfeld zu bahnen begann, auch wenn sich herausstellen sollte, dass vielleicht gerade sie die zerstörerischste Kraft in seinem Leben verkörperte. Der Duft von Lindenblüten, Lavendel und Steinklee tat sein Übriges um all seine Körperzellen voll und ganz in freudige Erregung zu versetzen. Rohlfs brauchte lediglich dem Duft zu folgen um einen Ort oder jemanden zu finden, der ihm Unterschlupf gewährte.

Die Umhängetasche schien ihm keineswegs zu damenhaft, ja, sie passte ihrer olivgrünen Farbe wegen sogar recht gut zu seiner Uniform, sodass er zumindest rein äußerlich unauffällig wirken musste. Vorerst wollte er es aber vermeiden sich in irgendeiner Form bemerkbar zu machen um sich erneute Unannehmlichkeiten zu ersparen, denn der Feind, sagte sich Rohlfs, verfügte über schier unerschöpfliche Reserven, zumal er sich sicher war, dass er sich heute mindestens zwei weitere Feinde gemacht hatte. Unvermittelt empfand er Abscheu vor sich selber, weil er sich des Diebstahls schuldig gemacht hatte. Von plötzlicher Unruhe erfasst, blickte er um sich und beschleunigte seinen Schritt. Die scharfen Blätter der Maispflanzen schlugen in sein Gesicht. Erst jetzt bemerkte er, dass ihm nur noch das intensive Licht des Vollmondes zur Orientierung diente.

Keuchend erreichte er eine einzelne Linde am Rande des verschlungenen Feldweges, der links und rechts von Wiesen umgeben war. Die Gegend wirkte trotz der vielen Pflanzen auf seltsame Weise verlassen und einsam, als habe man sie vor langer Zeit aufgegeben. Langsam ließ sich Rohlfs gegen den mächtigen Stamm der Linde fallen und blickte hinaus in die vom Mondlicht überflutete, hügelige Landschaft, bis er erschöpft in sich zusammensank. Emilian, vermutete er, als Rohlfs die Augen öffnete, habe offenbar die ganze Nacht über ihn gewacht. Tatsächlich brannten noch die Reste eines Lagerfeuers ganz in der Nähe der Linde. Es fiel Rohlfs nicht schwer Vertrauen zu dem kauzigen Mann zu fassen, der ihm aufmerksam zuhörte, während er ihm seine Geschichte erzählte bis die Mittagssonne den Männern die Schweißperlen aus den Poren trieb.

Emilian begleitete Rohlfs' Erzählungen mit gelegentlichen Ausrufen der Verwunderung, Empörung oder Entrüstung. Hin und wieder klatschte er ausgelassen in die Hände, zuweilen gar rhythmisch. Dann wieder verlor er sich in Ausrufen der Verzweiflung und Flüchen über das Unabänderliche. Mit einer Bewegung voller herzlicher Freundlichkeit reichte er Rohlfs schließlich die Hand und forderte ihn auf ihn zu begleiten. Nicht nur, dass sich allmählich die brennenden Schmerzen an Rohlfs' Füßen bemerkbar machten, während Emilian ihm ehrfurchtsvoll von seiner abenteuerlichen Zeit in Deutschland berichtete, er stellte auch immer mehr die Wirklichkeit seiner Begegnungen in Frage. Würde auch diese in einem Dunst aus süßlicher Melancholie verblassen?

Angestrengt versuchte Rohlfs sich zu drehen und zu hüpfen, doch es war ihm, als würden die Blasen unter seinen Füßen platzen, was ihn häufig taumeln ließ und in die Knie zwang. Es gebe nichts, was nicht mit etwas Ruhe und einer guten Mahlzeit behoben werden könne, meinte Emilian, der ihn nahezu fortwährend mit starkem Arm stützte und stärkte, indem er ihm von einem Stück geräuchertem Speck zu essen gab, den er aus seiner Jackentasche gefischt hatte. Er habe die größte Hochachtung vor dem Fleiß und der Ordnungsliebe der Deutschen, ihrer Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit, wobei er immer den Eindruck gehabt habe, sie verachteten alles Lebendige und Naturwüchsige, indem sie dieses bis zur Unkenntlichkeit vertuschten. Hier sei man hingegen gewohnt den Dingen ihren Lauf zu lassen. Vermutlich sitze der Gehorsam, dem das deutsche Volk seinen beinahe unaufhaltsamen Aufstieg zu verdanken habe, noch immer sehr tief. Oft habe man ihm keine Arbeitserlaubnis erteilt, da sein Aufenthaltsstatus entscheidend für den Arbeitsmarktzugang gewesen sei. Auch die Bauern und Gutsbesitzer, so Emilian, hätten ihn immer wieder auf das Aufenthaltsgesetz und die Beschäftigungsverordnung hingewiesen, obwohl sie seine Hilfe gern in Anspruch genommen hätten. Eine derartige Untertänigkeit gebe es in seiner Heimat nicht. Gleichzeitig beteuerte er Rohlfs gegenüber, dass er ihm selbstverständlich nicht zu nahe treten wolle, da er schließlich nicht wisse, wie er darüber denke. Glücklicherweise kenne er inzwischen viele barmherzige Menschen in Deutschland, doch erst in Spanien sei es ihm möglich gewesen einige Jahre regelmäßig dem Broterwerb nachzugehen, bis er bei einem Anschlag der ETA auf ein Kaufhaus um ein Haar ein Bein verloren hätte. Seitdem lebe er nach längeren Krankenhausaufenthalten in Barcelona endlich wieder in seiner über alles geliebten Heimat, was ganz sicher auch der Wille Gottes gewesen sein müsse. "Dumnezeu nu ne dă niciodată mai mult decât putem duce!" Sein Anwesen sei im Übrigen nicht mehr allzu weit entfernt, betonte Emilian, doch er habe natürlich auch nichts gegen eine weitere Rast einzuwenden. Es bestehe schließlich kein Grund zur Eile und gewiss tue es ihm gut sich nach dem langen Fußweg von seinem schweren Schuhwerk zu befreien.

Von einer mäßig erhobenen Anhöhe aus zeigte ihm Emilian sein, wie er es ausdrückte, bescheidenes Zuhause, das abgeschieden an einem schmalen Waldrand lag, der aber im Grunde mehr aus Gebüsch und nur aus wenigen großen Bäumen bestand. Nach Augenmaß würde man wohl mindestens noch etwa eine Stunde zu Fuß unterwegs sein.

Unwillkürlich bückte sich Rohlfs um sich die Schuhe mit der flachen Hand abzuwischen, bemerkte aber sogleich den befremdeten Ausdruck in Emilians Gesicht. Man ließ sich auf die von der Sonne aufgeheizte Erde sinken und Rohlfs griff blindlings in die Umhängetasche, deren Inhalt er dann nach und nach auspackte. Es fanden sich eine Uhr und ein Schlüsselbund, ein Portemonnaie, ein Kamm und Münzen, sogar zusammengerollte Geldscheine, ein Schnupftuch, eine angebrochene Packung Zigaretten, ein Diktiergerät mit einer Mikrokassette sowie ein Schneidemesser und vier verschiedene Reisepässe. Zuletzt legte er noch das Bündel mit den goldenen Datenplatten und sein Notizbuch auf den Haufen vor sich.

"Gott schütze mich vor meinen Freunden, denn vor meinen Feinden kann ich mich selbst schützen", sagte Emilian schließlich, lächelte und half Rohlfs aus seinen schweren Stiefeln.

Emilian ließ sich ins Gras sinken und kaute auf einem Grashalm herum. Rohlfs tat es ihm nach und sie sahen einander einen langen Moment ins Gesicht, bis Emilian schließlich ein paar Worte auf Hebräisch sprach: "Ahava, V'rachamim, chesed V'shalom." Dies bedeute so viel wie Liebe und Erbarmen, Güte und Frieden. Mitunter meine man, so Emilian, all diese Tugenden seien lediglich Fiktionen, Ideale ähnlich dem unerreichbaren Grenzwert in der Mathematik, göttliche Attribute, Poesie, Projektionen unseres belanglosen Schattendaseins.

Die großen Infamien, dass man seine jüdischen Vorfahren in Lager verschleppt, dort ermordet oder vorsätzlich dem Hungertod ausgesetzt habe, dass er seine Tochter Lucia vermutlich an Menschenhändler verloren habe, seine Frau in der Folge der Trunksucht verfallen und schließlich sehr bald darauf gestorben sei, diese unaussprechlichen Abscheulichkeiten verwunderten ihn allerdings inzwischen weitaus weniger, betonte Emilian, als die tagtägliche kleine Schande der Tatenlosigkeit und Teilnahmslosigkeit, die allgegenwärtig schien und in der beinahe jeder befangen war.

Seine bescheidene Bleibe, die er vor sehr langer Zeit gemeinsam mit seinem Bruder in der Abgeschiedenheit dieser Umgebung errichtet habe, bewohne er jetzt, nach dessen frühem Tod durch einen Unfall im Sägewerk, bereits seit einigen Jahren allein.

Er liebe die Verlassenheit und das Angewiesensein auf sich selbst, wolle ihm aber seinen unaussprechlichen Erfahrungen zum Trotz gern Gesellschaft leisten und ihm ein Gefährte werden, da er ihn, Rohlfs, für einen Mann guten Willens halte. "Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich", sagte Emilian und lachte breit und einladend. "Wenn ich Sie richtig verstanden habe", fügte er nach einer Weile hinzu, "sind wir beide Witwer und, wie man sagt, vogelfrei. Was hält uns davon ab uns auf und davon zu machen? Eine Zeit lang sollten Sie den Unterschlupf in meiner Bleibe jedoch nutzen, denn die Leute, von denen Sie erzählt haben, werden Sie sicher aufzufinden versuchen. Mir fehlt es hier an nichts, müssen Sie wissen, mein Herr.

Erst gestern war der alte Vasile mit seinem Karren bei mir, hat Brennholz gebracht, einen großen Kübel Milch, Brot, Salz, Öl, Mehl, Schnaps und zwei Kanister Diesel für meinen alten TV-14 C, der seit mindestens einem halben Jahr unbenutzt im Hof steht. Manchmal mache ich mich auch selbst auf den Weg ins Dorf, doch auf den alten Vasile ist Verlass. Was man ansonsten fürs Leben braucht, findet man im Garten hinter dem Haus, mein Herr. Neben ein paar Hühnern haben wir Weißkohl, Paprika, Tomaten, allerhand Kräuter und Wein. Den selbstgemachten Most erhält der alte Vasile im Tausch. Strom gibt es nicht, aber man wird ihn nicht vermissen. Gelegentlich bringt mir Vasile Batterien für meinen Radioempfänger mit, die verrückte Welt da draußen bringt mich kaum noch aus dem Takt."

Der TV-14 C sei ihm stets ein zuverlässiger und treuer Diener gewesen. Catalin, sein Bruder, habe das Fahrzeug ungefähr fünf Jahre vor der Revolution von einem Genossen aus Tulcea erstanden und ihm zeit seines Lebens mehr Liebe und Zuneigung geschenkt als allem anderen auf der Welt. Catalin sei allerdings auch unverheiratet von ihnen gegangen. Gemeinsam hätten sie den Wagen in den Landesfarben lackiert und es gebe nicht ein Schräubchen in dem Gefährt, das man nicht eigenhändig überprüft und von Zeit zu Zeit poliert habe. Heute könne ohnehin kein Normalsterblicher mehr größere Fahrten oder gar Reisen unternehmen, denn wenn man nicht zur Klasse der blutsaugenden Ausbeuter gehöre, verfüge man eben einfach nicht über das nötige Kapital für den Brennstoff.

Inzwischen gewähre ihm der Tauschhandel den Vorteil des Überlebens und vielleicht, wer könne das schon wissen, sei es ja kein Zufall, dass er gerade gestern die zwei Kanister erworben habe.

Eine jüngere Schwester lebe in Camenca und da ihr Mann vermutlich noch immer mit den Russen Geschäfte mache, sei es nicht ausgeschlossen mit dessen Hilfe ohne größere Schwierigkeiten Baikonur zu erreichen. Damals seien sie sogar einige Male zu dritt nach Saratov und Engels gefahren, wobei ihn die Geschäfte seines Schwagers im Grunde nie interessiert hätten. Das Unterwegssein, ob in seiner objektiven Verwirklichung oder lediglich als Vorstellung, sei für ihn die einzig angemessene Daseinsform. Entfernungen spielten hierbei nicht die geringste Rolle, sagte Emilian, woraufhin er erneut in ein breites Lachen ausbrach um schließlich lauthals zu betonen, dass auch er bereit sei, das ausgedörrte Land unterhalb des Olympus Mons zu bebauen: "Denn wir haben hier keine Stadt, die bestehen bleibt, sondern wir suchen die künftige."

Rohlfs fragte sich, während er dankend die ausgestreckte Hand Emilians annahm um sich aufhelfen zu lassen, ob er ihm tatsächlich mitgeteilt haben konnte, dass er verwitwet sei. Mit wenigen Handgriffen sorgte Emilian dafür, dass nichts im Gras liegen blieb. Rohlfs schulterte lediglich seine schweren Stiefel und genoss den warmen, moosigen Duft des Bodens. Er spürte das Gras und die Erde unter seinen nackten Füßen. Spitze Steine bohrten sich tief in seine geschundenen Fußsohlen, doch er nahm den Schmerz nicht mehr wahr.

Mit schweren, aber weiten Schritten stapften sie auf Emilians Haus zu. Die wenigen Bäume am Weg waren das Zeichen baldiger Ankunft, dachte Rohlfs. Es war beinahe, als hörte er sich selbst mit fremder Zunge sprechen: "Zerbrich in meinem Herzen den Spiegel, vor dem ich stehe! Teile mit mir den Duft deines Leibes! Das Idiotische ist, na klar, dieses Warten hier auf den Typen, der mich erschossen hat. Wahrscheinlich haben sie ihn, ich will mal sagen: unten, eingebuchtet. Wenn es so gelaufen ist, wie ich es mir vorstelle. Ich weiß natürlich nichts. Nur das, woran ich mich erinnere, bis es krachte. Es ist alles so, wie man es sich immer vorstellt. Du siehst den Blitz des Mündungsfeuers der Waffe. Dann der unglaubliche Schlag, wenn die Kugel dich trifft. Also das war ungefähr hier. Wie es dann weiter geht, keine Ahnung. Ich meine, das Körperliche, welche Organe verletzt werden, wo die Kugel wieder austritt, ob sie stecken bleibt und so weiter. Aber schlagartig das, was man ja unten auch die Erlösung nennt. Nichts  von dieser Panik, dass du jetzt stirbst, oder, wie vorher, dass man überhaupt stirbt. Das Krampfhafte des Lebens irgendwie deshalb. Dabei ist der Tod tatsächlich, wie jedes Kind unten ihn sich vorstellt. Zum Beispiel friedlich. Ich kann wirklich sagen, dass sich sofort ein geradezu idiotischer Friede um mich herum eingestellt hat. Ich war noch eine Weile unter den Bäumen dort, wo dieser Typ mich abgeknallt hat, fühlte die Panik seiner Flucht, hörte das Stampfen seiner rasenden Schritte im Laub. Wie seltsam die Verwunderung darüber ist, dass es einen nun wirklich ereilt hat, das Schicksal, meine ich, und wie man ja auch immer gedacht hat. Dass es ja nämlich eines Tages kommen muss, natürlich nicht so, aber wie alle Dinge, so eben auch der Tod. An seinem Platz auch er, einmal geschehen nicht ungeschehen zu machen. Du kannst nicht versuchsweise sterben, einfach um mal zu sehen, wie es so ist. Bist eines Tages tot, tot eben, OK. Du kannst nicht wieder sterben, so wie du eine Reise wiederholen kannst. Aber genau genommen wiederholst du ja auch keine Reise, machst sie nicht zweimal, kein einziges Ereignis tut das. Darum ist der Tod ja auch nicht so anders, wie man immer denkt, und es stimmt, dass wir jeden Tag etwas sterben, weil der Fluss dessen, was sich für uns ereignet, sich nicht umkehren lässt. Genau genommen bin ich nicht ermordet worden, sondern es war, vielleicht musste das bei mir so sein, ein Missverständnis."

War es tatsächlich möglich, dass er verwitwet war? Emilian hatte ihm offenbar mit aller Sorgfalt in seiner Wohnstube ein Lager hergerichtet. Er lag auf mehreren aufeinander gestapelten Decken und Kissen. Seine Kleider hingen an Nägeln an der Wand. Schaffelle lagen über den unebenen Holzdielen verteilt. In der Mitte des Raumes lief ein rund gemauerter Ofen konisch zur Decke hin zu. Auf zwei gegeneinander verschobenen, gekrümmten Regalwänden standen alte Bücher, deren Lederrücken abgegriffen wirkten. Rohlfs ließ seinen Blick durch die von Kerzenlicht beleuchtete Kammer schweifen, blieb aber an einem Foto mit Glasrahmen hängen, das eine junge Frau im Pelz zeigte. Etwas in dem Bild schien ihm vertraut, sprach ihn auf eine Weise an, die ihm geradezu vorwurfsvoll zu sein schien. Was aber mochte die junge Frau ihm vorzuwerfen haben? Tadelte etwa auch sie seine Tatenlosigkeit? Oder war es sein Alter, an dem sie Anstoß nahm? Rohlfs seinerseits beanstandete nun allerdings einiges von der Art und Weise, wie sie sich hatte ablichten lassen, ja, er verurteilte ihre Selbstzufriedenheit, ihre Überheblichkeit und Launenhaftigkeit sowie ihren aggressiven, aufgeblähten Stolz. Wer hatte sie gelehrt das mächtige Werkzeug der Koketterie derart bewusst einzusetzen? Sie starrte ihn an, starrte ihn immer wieder an. Und dazu die kecke Bewegung ihres Kopfes! Er stellte sich vor, wie Lucia auf ihn zukam, spürte ihren Kuss, den ersten nach so langer Trennung. Noch war der dunkelrote Nagellack, wie deutlich zu erkennen war, makellos. Erst die Geräusche im Hof besänftigten ihn ein wenig. Emilian machte sich an dem TV-14 C zu schaffen, vermutete Rohlfs. Es galt sich nunmehr mit dem Dringendsten zu befassen, loszulassen. Vorkehrungen mussten getroffen werden, doch die Ereignisse der letzten Tage wogen schwer auf seinen Schultern, seiner Seele und seinen Lidern. "Hören Sie mich?" "Ich kann Sie hören!"

"Wer sagt dir", sprach Rohlfs, der sommerliche Wind ließ die gelbe Seidenübergardine sich ein ums andere Mal behäbig aufblähen, die Constance neuerdings im Schlafzimmer aufgehängt hatte, "ob es die Erzähler unserer Geschichte sich nicht einfallen lassen, dass dieser Magnus ausgerechnet mich sozusagen als Versuchskaninchen auf seine verrückte Exkursion schickt?" "Warum stellst du dir immerzu vor, dass es  jemand anderes sei, der sich unsere Geschichte ausdenkt? Das wäre ja gerade so, als seien es nicht wir, die jetzt in diesem Bett liegen und glücklich sind. Du bist doch glücklich, Rohlfs? Sie hatte eine der Trockenblumen aus der Vase genommen, die auf einem Bord seitlich stand und strich damit zart über seine Züge. Es war in all der Wärme dieses Sommers wie ein kühler Hauch, der alles von ihm nahm, was an Hypothetischem ihn von sich und Constance fern hielt. Allerdings war er auch schon eingeschlummert. Constance machte sich mit einigen Dingen im Zimmer zu schaffen, es war angenehm im Schlaf ihre Nähe zu spüren.

Rohlfs, von dessen Gewissen die Glocken Albert Schweitzers nichts wussten, machte Bekanntschaft mit dem Schießen auf Vögel, und da es modernere Zeiten waren, nicht mit der Schleuder, sondern mit dem Luftgewehr seines Schulfreundes. Derartiges selbst im Haus zu haben war völlig unvorstellbar, weder Rohlfs Vater noch wohl gar seine Mutter wären im Entferntesten darauf verfallen, eine Waffe zu kaufen. Natürlich wäre auch gar kein Geld dafür dagewesen, wiewohl man Geld verdiente, wenn auch nur gerade so viel, dass man nicht in Not war. Im Haus seines Schulfreundes arbeiteten beide Eltern, was dazu beitrug, dass in jeder Hinsicht etwas mehr zur Verfügung stand als das, was unbedingt gebraucht wurde. Auch gab es drei Männer in der Familie, was den Ton eindeutig ins Männliche verschob, ohne dass man den Eindruck hatte, die Mutter oder die Großmutter kamen dabei nicht auf ihre Kosten. Man sah ihnen den Stolz auf die Männer an, nicht zuletzt wegen der Nachsicht, die sie mit ihnen üben konnten. Einen Hobbykeller, das Wort kannte man ansonsten aus Zeitschriften, gab es bei Rufs in jener Zeit, so wie es zwanzig, dreißig Jahre später in Häusern von Ärzten Saunas gab, Zeugen eines sagenhaften Reichtums, nicht nur an Geld, sondern auch in Hinsicht darauf, dass man sich überhaupt so etwas leistete. Vater Ruf hatte möglicherweise an jenem Flugplatz mitgebaut, der auf einer riesigen Sperrholzplatte in jenem Hobbykeller zu sehen war. Es war übrigens ein stillgelegtes Projekt aus noch dazu bereits  vergangenen Zeiten, wo man doch noch ärmer war!

Auch der zerbrochene Flügel eines Segelflugzeugs, mit dem Siegfrieds älterer Bruder Johannes abgestürzt war, befand sich in jenem Keller, Rohlfs erfuhr, dass man bei Flugzeugabstürzen nicht in jedem Fall ums Leben kam, schauderte aber vor den Narben, die er wohl schon irgendwo am Hals von Siegfrieds Bruder gesehen hatte. Das Luftgewehr durften sie eigentlich nicht nehmen ohne zu fragen, aber streng ging es bei den Rufs nun einmal nicht zu, wie hätte man auch streng sein wollen, da doch beide Eltern tagsüber nur am Wochenende zu Hause waren? Die Großmutter, selber häufig auch nicht anwesend, hatte bereits jedes Maß verloren, was Kinder heutzutage durften und was nicht. Genügend Munition war vorhanden.

Die kleinen Hütchen, die man für Luftgewehre benutzte, enttäuschten Rohlfs, der an Cowboygurte dachte, dafür sah das Gewehr umso echter aus. Man schoss auf die üblichen Blechbüchsen, die ordentlich schepperten. Siegfried traf, Rohlfs nicht.

Ohne jemals etwas von Albert Schweitzer gehört zu haben, sprangen die Spatzen von Ast zu Ast eines noch kahlen Baumes, es war Anfang März, und brachten die beiden Buben auf die Idee, sie einmal aufs Korn zu nehmen. Ohne weiter darüber nachzudenken legte Rohlfs an, schoss und traf. Der Vogel fiel von seinem Ast wie ein Stein, es konnte also nicht wahr sein, denn so fiel ein Vogel nicht einfach getroffen von einem Baum, einfach nur tot von einer auf die andere Sekunde, man hatte getroffen, der man bei zehn oder mehr Versuchen nicht eine einzige von den scheppernden Blechbüchsen traf, auch bei noch so geduldigen Erklärungen nicht, wie man zielte, dass man nicht verreißen durfte, wenn man den Abzug bewegte. Die Schießerei war damit zu Ende, nicht etwa, dass Siegfried auch einmal auf einen der übrigen Vögel anlegen wollte. Es sei ja nur ein Vogel, deutete er lahm an und sie warfen ihn mit einer Kohlenschaufel über den Zaun zum Nachbargarten.

Rohlfs, der an diesem Nachmittag seine Bedrückung nicht mehr überwand, erfand einen Grund früher nach Hause zu müssen. Sprach das Schicksal also diese Sprache, redete es nur zu ihm auf diese Weise? Es war ihm, als hätte Siegfried durchaus auch verstanden, wenn es mit ihm selber auch nichts zu tun hatte.

"Hören Sie mich?" – "Ich kann Sie hören!" Rohlfs wollte Emilian inständig darum bitten eine sehr stille, äußerst andächtige Klaviermusik für ihn im Radio zu suchen, brachte aber kaum einen Laut zustande.

"Mă bucur să vă aud, domnule profesor!", erwiderte Emilian, erneut breit lachend, und eilte nach dem Radioempfänger, den er hinter einer Bücherreihe hervorkramte. Rasch installierte er eine provisorische Antenne an dem Gerät und suchte nach einem passablen Empfang im Kurzwellenbereich. Sobald er glaubte etwas Geeignetes gefunden zu haben, schaute er verschmitzt zu ihm, ließ den Informationen einen, wie Rohlfs meinte, angemessenen Raum, bevor er sich weiter am Sendersuchlauf zu schaffen machte, als komponiere er eine eigenwillige Collage.

Auf diese Weise erfuhr Rohlfs, dass die US-Raumsonde Voyager 1 am 5. September 1977 auf einer Titan-IIIE-Centaur Rakete von Cape Canaveral  gestartet war und eine Golden Record Cover, die Sounds of Earth, mit interstellarer Gebrauchsanleitung mit sich führte. Die Voyager 1 reise mit einer Geschwindigkeit von etwa siebzehn Kilometern pro Sekunde in Richtung des interstellaren Raums. Die steigenden Benzinpreise, hieß es auf einem anderen Sender, hätten laut einer US-Studie keinen Einfluss auf den Absatz von Hybridfahrzeugen. Seit 2008 habe sich der Preis für eine Gallone Benzin in den USA von rund 2 Dollar auf fast 4 Dollar verdoppelt. Des Weiteren war die Rede von einer Verschärfung der europäischen Grenzkontrollen, welche die Flüchtlinge indes nicht zurückschrecke. Stattdessen entpuppe sie sich als Segen für Schlepper. Denn die Wurzel des Übels sei die Armut in den Herkunftsländern der Immigranten. Schließlich kommentierte ein Radiosprecher Franz Schuberts Impromptu in f-Moll vom Dezember 1827, dessen Melodien in einzelne, sehnsüchtig einander zurufende Gesten zerfielen. Nicht uns Heutigen stehe ein Urteil über Schuberts Musik zu, sondern sie sei es, die uns richte.

Den Preisangaben der Tankstellen keine Beachtung mehr zu schenken war eine der Aufgaben, die Rohlfs sich so oft stellte, wie er früher, als er noch rauchte, das Rauchen aufgeben wollte. Tatsächlich hatte er die Kassiererin einmal auf die willkürlich und häufig wechselnden Preise angesprochen. Als ob sie das wüssten, warum die Preise sich änderten und wann, und ob man heutzutage nicht froh sein müsste überhaupt irgendwo arbeiten zu können. Die Preise hatten natürlich nichts mit Rohlfs zu tun, der sich, wie er der Kassiererin gesagt hatte, veralbert vorkomme. Ob die Frau nun gerade die neurotische Seite von Rohlfs Bemerkung verstand, oder ihn ohne weiteres Drumherum als einen Idioten, jedenfalls einen der Kunden, die einem auf die Nerven gingen ansah, tat letztlich nichts zur Sache. Bei einer anderen Gelegenheit versuchte Rohlfs Constance gegenüber noch die Theorie, die Sache sei möglicherweise so geregelt, dass der Umsatz an den Zapfsäulen direkt in ein Rechenprogramm eingehe, das den Preis dann entsprechend der Nachfrage automatisch ändere, der Zeittakt, in dem das geschehen solle, sei im Prinzip beliebig, werde aber so eingerichtet, dass der Preis wenigstens psychologisch eine Weile stabil blieb. "Ich tanke immer, wenn es nötig ist und achte gar nicht weiter auf den Preis. Mal ist es teurer, mal ist es billiger, das gleicht sich irgendwie aus. Im Prinzip ist der Sprit unverschämt teuer, aber man fährt auch zu viel rum. Fahren wir weniger, holen sie sich unser Geld irgendwie anders." So versuchte Rohlfs eine Weile den Blick von den Leuchtanzeigen mit den Spritpreisen abzuwenden, bemerkte aber immer erst, wenn er bereits wusste, was der Diesel jeweils kostete, dass es wieder einmal nicht geklappt hatte. Man musste schon von ferne die Tankstelle sehen um konzentriert am Preisschild vorbeizuschauen. Ob man sich je daran gewöhnen konnte? Wenn eines Tages einmal wirklich keine fossilen Energieträger mehr eingesetzt würden, "dann holen sie sich, was sie von dir haben wollen, für etwas anderes", beharrte Constance auf ihrem Standpunkt. Die Kids interessierten sich heutzutage schon merklich weniger für Autos, zumal in den großen Städten, allen voran Berlin. Das Geld geben sie für die neuen Medien aus und haben am Ende auch keines. Und die, die es kriegen, sind mehr oder weniger dieselben wie die, die vorher den Sprit oder die Autos verkauft haben. So oder so würde der Tanz um das goldene Kalb getanzt, weshalb ja seit Urzeiten davon erzählt würde. Es gebe nur zwei Sorten von Menschen, die, die mittanzten, weil sich nichts dagegen machen lässt, und die, die nicht mittanzten und dadurch auch nichts änderten. "Aber lässt dich das denn völlig kalt?" - "Nein, ich beschäftige mich möglichst wenig damit." Tatsächlich tat Rohlfs das auch nicht, und für dieses Mal fand er Constances Position in Ordnung, wenn ihm selber dafür auch der Gleichmut fehlte.

Selbstverständlich wisse Rohlfs, so Emilian, dass derartige Errungenschaften des Gemüts, derartig einander zurufende Gesten allenfalls noch der Erbauung einiger geplagter Managerseelen oder gieriger Bankiers dienten. Schon in den Lagern habe man sich den Klängen der erbaulichen Lieder bedient um der Trostlosigkeit der Dienstleistungen ein wenig Sanftmut zu verleihen. Weswegen habe Seraph sich auch zur Verfügung gestellt, als wolle er uns von aller Schuld freisprechen? In nichts unterscheide sich sein hündischer Blick von dem des wohlerzogenen Haustiers, mit dem gemeinsam er dem Gesellschaftsspiel in Atzenbrugg beigewohnt habe, umgeben vom lässigen Bedauern glücklicher Hofdamen, die sich nach einem Stelldichein umschauten um sich ihrer selbst zu entledigen. "Man stelle sich ihn vor, den kahlköpfigen Seraph aus dem Himmelspfortgrund, Liebling der Götter", rief Emilian, während die Übertragung des bereits dritten der vier Impromptus zunehmend häufiger durch Irregularitäten in der Ionosphäre unterbrochen wurde, "wie er jenseits der Unsinnsgesellschaft die allmählich nachlassenden Tsunamis vom Olympus Mons her mit seinem Mahnruf des missachteten Liebenden übertönt. Nur noch die Ausschläge und Geschwüre erinnern an die Folgen seiner syphilitischen Erkrankung. Frei von der Untauglichkeit für jede Gesellschaft ergreift er ein letztes Mal das Wort, die Faust geballt. Alles sei Betrug, da selbst am Stein das Leben sprieße. Die Menschen schlafen, aber wenn sie sterben, erwachen sie. Was sollten wir auch mit dem Glück anfangen, da Unglück noch der einzige Reiz ist, der uns übrig bleibt, würde er denjenigen zurufen, die im Begriff waren in den Fluten unterzugehen und nur der Anblick des grellen Rots der hie und da nach oben schwappenden Coca-Cola-Dosen erinnerte noch an das Aufbegehren der einstigen Eroberer. Einige sollten noch mit dem Bild der im Meere sich spiegelnden Sterne vor Augen des marschartigen Stakkato-Rhythmus der Streicher im Andante der großen C-Dur-Sinfonie gewahr werden, bevor sie auf den Grund des neu entstandenen Ozeans sanken. Als auserwählter Führer dirigiert mit wehendem weißem Haar und gespitztem Mund niemand anderes als Sergiu Celibidache ein Heer aus sechsflügeligen Himmelswesen mit geradezu unendlicher Langsamkeit. Es blieb nichts, mein teurer Freund, als der Gesang der Geister über den Wassern." Erst jetzt fiel Rohlfs auf, dass Emilian unter ständigem Rühren Maisgrieß in ein großes gusseisernes Gefäß mit kochendem Wasser einrührte. "Am făcut o mămăligă ca la Moldova, solidă şi aurie, fiartă îndelung, cu niţică sare şi un strop de ulei de măsline." Schließlich setzte er einen schweren Deckel auf den Topf und betätigte sich, vergnügt vor sich hin summend, am Sendersuchlauf seines Radioempfängers, bis er eine Frequenz gefunden hatte, auf der man den Muezzin hören konnte, der die Gläubigen zum Freitagsgebet rief.

Er wolle, sagte Emilian, nur rasch nach den Hühnern schauen, zumal es nichts Schmackhafteres gebe als ein paar Eier und etwas Reibkäse unter die kalte Mămăligă zu rühren. Rohlfs möge sich doch in der Zwischenzeit ankleiden und darauf achten, dass die Mămăligă nicht anbrenne. Er sei spätestens in einer Viertelstunde zurück. Im Hinausgehen sang er ein Kinderlied vor sich hin: "Grüßt die kühnen Weltraumflieger, alle Kinder lieben sie. Kosmonauten, Himmelssieger – eure Tat vergisst man nie." Der Ruf des Muezzin wurde nach und nach von mehreren Sendern gleichzeitig verwischt und verzerrt. Traditionelle jüdische Lieder, eingängige Schlager- und Operettenmelodien, Heilsversprechungen der Werbung, Wettervorhersagen, Straßenzustandsberichte und Nachrichten in verschiedenen europäischen Sprachen schienen den einsamen Ruf gewaltsam in den Hintergrund drängen zu wollen. Einer der Sprecher berichtete von der Verurteilung und dem Rücktritt einer Galionsfigur des europäischen Fußballs. Nachdenklich und unter größten Anstrengungen verließ Rohlfs sein Lager um sich anzuziehen. Von draußen hörte er Emilians Stimme im Dialog mit seinen Hühnern: "Pui, pui, pui, pui, pui!" Die Mămăligă köchelte in dem gusseisernen Topf. Das Freitagsgebet hatte gerade begonnen, als der Reklamespruch eines amerikanischen Baumarkts über die gewissenhafte Sorgfalt der Andacht hinweg einen Triumph verkündete: "Aluminum Ware proves the most Suitable, Serviceable and Sensible Sanitary Set." Es war Rohlfs unmöglich, bei der Übertragung des Ausrufers nicht an Saeeds aufgebrachte Klagen wider den Aufruf zum Gebet zu denken. Einmal habe ihn die Empörung über die morgendlichen Störungen so weit getrieben, dass er dem Ausrufer noch vor dem Zuhr-Gebet mit einer schweren Eisenstange auflauerte um ihn vom Ausüben seines Dienstes abzuhalten. Nur aus Großherzigkeit, so Saeed, habe der Muezzin von einer Anzeige abgesehen, obwohl er ihm eindringlich und unter Handgreiflichkeiten klarzumachen versucht hatte, dass seine Arbeit zutiefst unmoralisch sei, da sie fern jeder irdischen Erfahrung und Greifbarkeit liege. Nach einer großen Ankündigung der Regierung in nahezu allen zur Verfügung stehenden Medien, man sehe das Antlitz des Führers in der kommenden Nacht im Widerschein des Mondes und dem Aufruf an die Gemeinschaft aller Gläubigen diesem Ereignis beizuwohnen, konnte Saeed jedoch nicht umhin verzweifelt durch die Straßen der Innenstadt zu irren in dem Versuch seine Mitmenschen darüber aufzuklären, dass man dort lediglich die Schatten von Kratern sehe. "Abdullah, mach doch deine gottverdammten Augen auf, du Narr! Da ist überhaupt nichts da oben, du Narr, überhaupt gar nichts, nur Krater und Staub. Dreck, Abdullah, alles Dreck und Betrug – und ein paar Flaggen vielleicht. Mach deine Augen auf, Mohammad! Manoutcher, du Idiot! Da ist nichts! Nichts! Bist du blind, Iraj? Geh nach Hause zu deiner Frau, Dariyousch! Dein Nachbar wartet nur auf eine Gelegenheit sie endlich einmal allein zu erwischen. Kümmere dich um deine Kinder, Dastan! Nun macht, dass ihr nach Hause kommt, ihr Schwachköpfe! Eure Freunde sind vielleicht schon dort!"

Die Männer drohten ihm mit den wüstesten Beschimpfungen, verfluchten ihn bis ins letzte Glied seiner Familie. Sein Vater möge verbrannt werden oder im Hintern eines Hundes ersticken. Einige benachrichtigten die Ordnungskräfte, die Saeed nun seinerseits anpöbelte und provozierte.

Erst als Verstärkung anrückte, beruhigte sich die Situation. Man verurteilte Saeed schließlich zu einer Haftstrafe von dreieinhalb Jahren.

Die Tatsache, dass die Galionsfigur des europäischen Fußballs unter ungleich günstigeren Bedingungen die gleiche Strafe abzusitzen hatte, empfand Rohlfs als entwürdigend und beschämend.

Gedankenverloren begann er den Sendersuchlauf des Radios zu betätigen, als folgte er Saeed wie einst Maulana dem verschollenen Schams, was Emilian aufgefallen sein musste. Gleichzeitig ließen ihn das Bewusstsein seiner eigenen Schwachheit angesichts seiner Feinde und der Wunsch, dass man ihn von der Gier der Feinde befreien möge, die ohne Gewissen falsch gegen ihn vorgegangen waren, erschaudern. "Leite mich auf ebenem Pfade um meiner Feinde willen!", flüsterte er endlich in die Lautsprecher des Rundfunkgeräts und hoffte auf ein Zeichen von höchster Stelle.

Die Antwort blieb indes nicht lange aus und es war, als hätte ihm das Schicksal nur dazu so lange Aufschub gewährt, um ihm nun in vollem Glanz die Wahrheit zu verkünden. "You smile and the angels sing, and though it's just a gentle murmur at the start, we kiss and the angels sing and leave their music ringing in my heart", schallte es urplötzlich und unvermittelt aus den Lautsprechern zurück, so dass Rohlfs augenblicklich erschrocken zurückwich.

Unter die Strahlen des Schlagers mischten sich Flowing Streams, Panflöten und rhythmische Trommeln, senegalesische Schlaginstrumente, Lieder der Aborigines, Initiationsgesänge der Pygmäenmädchen, Sackpfeifen, die Arie der Königin der Nacht, der Opfertanz aus Le sacre du printemps und die Stimme des ehemaligen Wehrmachtoffiziers Kurt Waldheim: "We know full well that our planet and all its inhabitants are but a small part of the immense universe that surrounds us and it is with humility and hope that we take this step."

Rohlfs hörte die Gesänge Kesarbai Kerkars, Louis Armstrongs, Chuck Berrys und Blind Willie Johnsons, die ersten Takte aus Ludwig van Beethovens fünfter Sinfonie sowie sich zunehmend in den Vordergrund drängende Brocken aus Bach, sehr viel Bach, dem Evangelisten der Musik, verzerrte Geräusche von Bächen, Sturzbächen, Tieren, Wind und Donner.

Rasch versuchte Rohlfs die Frequenzen abzustimmen um einen klareren Empfang zu erhalten, als Emilian mit einer Handvoll Eiern den Raum betrat. Im Gürtel trug er neben einem langen Küchenmesser ein Brot und ein Bündel verschiedener Kräuter. Unwillkürlich lächelten beide einander freundlich an und mit frischem Mut gingen die Genossen zu den Klängen von Glenn Goulds Bach an die Vorbereitung des wohlverdienten Mahls. In jungen Jahren, so Emilian beim Essen, habe er unter dem fürsorglichen Schutz der Mutter alles gelesen, was ihm in die Hände gefallen sei, während sein Bruder mit dem Vater den Spaten in die Hand zu nehmen hatte, alles Handwerkliche ausübte und ungeduldig auf den allabendlichen Austausch mit Emilian wartete, der sich für seine Begriffe stets an den Grenzen der Wirklichkeit abspielte. Man diskutierte Verse Eminescus, die Worte der Sibylle, Horias Roman um Ovid, oder den christlichen Mythos, der, so Alois, nur daher zu einem derart einzigartigen Reichtum habe kommen können, "weil er sich aus vielen Religionen, aus der jüdischen, und durch sie aus Babylon und Zoroaster, aus dem Mithrasglauben, aus den anatolischen Kulten, aus den griechischen Mysterien, aus Ägypten genährt hat; weil er aus Platon, den Stoikern, den Neupythagoräern geschöpft, weil er Paulus und seinesgleichen in sich aufgenommen hat; weil er die Vergeschichtlichung, den Roman seines Gottes Jesus", so Emilian, "und parallel dazu – vielleicht – die Vergottung des Menschen Jesus zu einem runden, vollen Abschluss, wie er in den Evangelien vorliegt, hat führen können; weil dieser Mythos, wie eine mit Salz gesättigte Lösung auskristallisiert, gesättigt mit religiösen, philosophischen, literarischen, künstlerischen Elementen, zu einem wunderbaren Gesamtkunstwerk vieler Zeiten, Kulturen, Völker, Menschen wurde."

Rohlfs hätte nicht sagen können, wie lange Emilian zu ihm sprach. Vor seinem inneren Ohr verwandelte sich die Stimme des Rumänen in die von Alois und von Zeit zu Zeit meinte er sogar das von Sorgen zerfurchte Gesicht des Großvaters in ihm wiederzuerkennen. Lediglich das helle, eindringliche Lachen seines Gastgebers riss ihn bisweilen zurück in die Gegenwart. "In einem anderen Land", hörte er Emilian sagen, "lebt man gleichermaßen in einem anderen Jahrhundert, wir ohnehin, weil wir unsere Hingabe weniger freimütig den laufenden Ereignissen schenken, denn der Geist anderer Weltgegenden und Epochen hat uns nun einmal ergriffen. Gerne wollen wir uns der Aktualität anverwandeln, allein, es wäre nicht leicht uns zu überzeugen. Dem abzuschwören, woran wir glauben, wäre Akt eines Mittelalters, wie wir seiner schon vor langer Zeit entraten haben." Unterdessen war sich Rohlfs vollkommen sicher, dass Emilian Alois zum Teil nahezu wortwörtlich wiedergab. Sollte Emilian sich etwa mit den Aufzeichnungen des Dorfschullehrers befasst haben? Oder übernahm er die Worte sogar aus seinem Notizbuch? Wo mochte es wohl hingekommen sein?

Rohlfs wollte Emilian unvermittelt nach seiner Umhängetasche fragen, die er nirgends sah. War es möglich, fragte er sich, dass man erneut ein diabolisches Spiel mit ihm trieb? Zwischen dem aufgeregten Gegacker der Hühner und Wortfetzen wie Illusion des Fortschritts, Materialschlacht, Bewusstsein als Begleiterscheinung der Medien, Moral als Aberglaube, Finanzalchemie, Marketingleute und Freiheitsstatue beschloss Rohlfs den Dünkel in sich zu besiegen und Emilian weiterhin ungetrübtes Vertrauen entgegenzubringen, während er in Gedanken immer wieder abschweifte. Blitzlichtartig erinnerte er sich an Gespräche, die er mit Palle und Winger in Wilhelmys Diskothek geführt hatte. Vielleicht, dachte Rohlfs, lag in ihnen der Schlüssel zum Verständnis seines Hierseins.

An den Sonntagen, erzählte Emilian heiter, streiften sein Bruder und er gemeinsam durch das Dorf um Wassermelonen aus dem Garten der Nachbarin zu stehlen. Meist ertappte ihn die alte Viorica allerdings auf frischer Tat, da er sich im Gegensatz zu seinem Bruder oft viel zu lange in die Formen und Strukturen der Pflanzen vertiefte und darüber die Absicht des Streichs vergaß. Verliebt schaute er auf die behaarten, eiförmigen Blütenblätter der Auberginen, als erklärten sich in ihnen die letzten Rätsel aller Existenz und allen Werdens. Barsch schnappte sich die resolute Bäuerin den kleinen Emilian, indem sie ihn am Ohr hinter sich her in den Hinterhof zerrte um ihm dort eine gehörige Lektion zu erteilen. Einmal habe ihm Viorica sogar ohne jede Vorwarnung eine angefaulte Wassermelone über dem Kopf zerschlagen, dass ihm die Freude am Geschmack der Frucht für lange Zeit, ja, vielleicht bis zum jetzigen Zeitpunkt, vergangen sei.

Palle arbeitete mit Rohlfs und Marc Winger, einem amerikanischen Spezialisten für Datenkomprimierung, an einem Programm, mit dem man über die Raumstation Freedom die an der Raumsonde Voyager befestigte Schallplatte mit neuen Daten überschreiben konnte. Winger, so erinnerte sich Rohlfs beim Verzehr der Mămăligă, verstand es auf beachtliche Weise seine Zuhörer durch Verwendung fachspezifischer Daten und Informationen in den Bann zu ziehen, dass sogar Palle sich darin genügte, die meiste Zeit lediglich mit dem Kopf zu nicken oder gelegentlich Fachbegriffe papageienhaft zu wiederholen. In Helmuth Wilhelmys Helmet erklärte er den beiden Kollegen die Funktion der Parabolantennen der Voyagersonden, über die die gesamte Kommunikation zur Erde verlaufe. Winger sprach deutsch mit einem stark amerikanischen Akzent. Sobald Winger etwas mehr getrunken hatte, fand er sich allerdings kaum noch zurecht in den beiden Sprachen, die er dann häufig miteinander vermischte. Mitunter machte man sich sogar Sorgen, dass er an seinem retroflexen R ersticken würde. "Die combination von das große antenna, you know, und das Benutzung von die X-Band hat erlaubt mit eine sehr hohe data transmission rate zu operieren." "Data transmission rate", wiederholte Palle. "Mariner 10 hat aufgestellt vor die Voyager die all-time record mit 117.2 kilobytes per second from maximal 137 million miles distance, you know. Voyager hat senden data mit 115.2 kilobytes per second from 580 million miles distance, you know. Die data worden senden im X-Band, die S-Band waren for commandos von die Erde und die kleine data rates waren genutzt zwischen die Fly-Bys. Die parabolic antenna waren aus die damals neue graphite epoxide composite material um zu sparen Gewicht. Die tragende structure, you know, war aus die aluminum, die expanse von die antenna aus die composite material." "Fly-Bys", wiederholte Palle mehrmals, bevor er in einem Zug sein halb gefülltes Bierglas leerte. Winger war außerdem der festen Überzeugung, dass es eine sträfliche Vortäuschung falscher Tatsachen sei jeglicher außerirdischen Lebensform einen derart verfälschten Eindruck vom Leben auf unserem Planeten zu vermitteln. "Perhaps, you know, there is nothing more important that we can do for them than to show them our real barbarian faces." "Holy shit!", warf Palle ein und gab Wilhelmy mit mehreren Handzeichen zu verstehen, dass die nächste Runde auf ihn gehe. Es brauchte eine Weile, bis man begriff, dass sich Palles Äußerung auf das Hinterteil eines weiblichen Gastes bezog, in dem er fortan völlig zu versinken schien. "Da kommen sie hereinstolziert mit ihren Pfunden, plustern sich auf wie Pfaue und wollen im Grunde doch nur gebürstet werden. Unglaublich, einfach nur unglaublich!"

Im Verlauf des Abends überzeugte Rohlfs Winger davon, dass lediglich eine vollkommen neue Sonde, die dem jetzigen Stand der Technik halbwegs entspräche, für das Vorhaben geeignet sei. Eine fehlerfreie Datenkommunikation könne zwar auch jetzt noch nicht gewährleistet werden, doch sei es gewiss weniger aufwendig, wenn ein drittes Raumfahrzeug mit entsprechender Ausstattung die Heliopause überschreiten würde. "Mit relativ geringem Energieaufwand, etwa durch Konversion von Sonnenenergie, sollten sich Video- und Musikinstallationen betreiben lassen, die ein unverhohlenes Bild von der vollkommenen Unsinnigkeit unserer Existenz vermitteln." - "By means of loops, Rohlfs. That's abso-fuckin'-lutely great, man!" - "Bilder von Schützengräben, Generälen, Gewalt, Ghettos, Arbeitslagern in Ost und West, Amok, Abfall, Dreck, Flächenbombardements, Lagern und Gulags, wenn ihr wisst, was ich meine." - "Yeah, Rohlfs, amazing. Wir weißen, what you mean." - "Inseln von Plastik, Giftgas, Krieg." - "Obesity, Rohlfs! Fast Food, hopeless junkies, slavery ships, and, of course, pornography, brother!" - "Jetzt seht euch doch diesen Hintern an, Leute! Lange halt' ich's nicht mehr aus auf meinem Stuhl hier! Das ist kein Hintern, das ist ein Hafen!" - "Solar energy conversion, of course, man, of course. Loops and split screens." - "Ob ich sie einfach fragen soll, ob sie heute schon gebürstet worden ist? Na, was meint ihr Jungs? - "What kind of music would you recommend, Rohlfs? New stuff? Punk rock, heavy metal, classical, dubstep? Hard rock, heavy metal, or classic rock, Rohlfs? - "Da lässt sich drüber reden. Auf den Kontrast kommt es an, denke ich. Feldman, vielleicht. Morton Feldman. Oder Cage. Atlas eclipticalis. Und die Sonde schicken wir direkt ins Sternbild Schwan!" - "I'll contact Popescu, Rohlfs. Dumitru Popescu, Rohlfs. A real great and experimental designer of aircraft for private spacecraft. He'll recruit like a son of a gun, and he's the right guy for that job. Tomorrow I'll contact him and get the results." - "Der Kappeser soll uns 'ne Flasche Tequila an den Tisch bringen und jeweils rechtzeitig nachgießen. Unglaublich, einfach nur unglaublich." Erneut gab Palle Helmuth eine Reihe von Handzeichen und erst als sie den zweiten Tequila ausgetrunken hatten, widmete er sich wieder mit ganzer Aufmerksamkeit den beiden Männern am Tisch. "C'mon you windbags! Ihr glaubt doch hoffentlich nicht, dass ihr auch nur um einen Deut besser seid als diese bornierten NASA-Lackaffen, die sich allen Ernstes vormachen, sie arbeiteten am Fortschritt der Wissenschaft und Menschheit. Das einzige, was an dem Fortschrittsgefasel Wahres dran ist, verdammte Scheiße, ist die Tatsache, dass sich niemand jemals damit abfinden konnte, hier zu sein und einfach nur von Anfang an fort will. Die Buddhisten wollen ihr bescheuertes Nirvana, die Juden, Moslems und Christen in ihre Gärten, die gottverdammten Klugscheißer wollen in ihr verheißungsvolles Erkenntnisparadies und ich will einen warmen Arsch für den Winter, versteht ihr? Die einen glauben, sie könnten auf den Spuren von Sokrates mit ihren aufgeblähten Fragen zur letzten Wahrheit vorstoßen, und die anderen gehen vor diesem Auferstehungsfreak in die Knie und halten ihre Schuldgefühle für Nächstenliebe. Wenigstens ist das Projekt Aufklärung spätestens seit '89 mit dem Ende der roten Lüge offiziell abgeblasen worden. War ohnehin nichts weiter als eine neue Spielart all dieser zahllosen Heilsversprechungen. Von der Aufklärung ist, was vielleicht besser so ist, bloß noch die Anleitung zur Verhütung übrig geblieben. Bedauerlicherweise hat sich das noch nicht überall herumgesprochen! Vielleicht interessiert es euch ja auch, wenn ihr nicht von selbst schon drauf gekommen seit, dass ich unseren hochwohlgeborenen Dr. Reich für die Wiedergeburt des Großinquisitors halte. Dieser ganze Abhörschwachsinn ist sowieso nichts anderes als die Fortsetzung spätmittelalterlicher Gerichtsverfahren. Der Reich hat dich schon seit geraumer Zeit auf seiner Abschussliste, weiß der Teufel weshalb. Vermutlich will er deine Alte vögeln! Die Fanatiker unter den NSA-Funktionären glauben im Grunde doch auch an nichts anderes als die Teilhabe an den Zukunftsverheißungen der biblischen Propheten. Das Reich Gottes ist für diese Leute die weltweite Überwachung, Entschlüsselung und vollkommen paranoide Auswertung elektronischer Kommunikation. An den lieben Gott glaubt der alte Reich bestimmt nicht. Davon könnt ihr ausgehen, Jungs! Holy shit! Wollt ihr die totale Transparenz, weird monkeys? Gewiss geht’s uns allen ein verdammtes Stück besser, wenn die Politschwänze und all die anderen Profilneurotiker nicht mehr plagiieren und sich nach dem derzeit jüngsten Reinheitsgebot gnadenlos verheizen lassen! Der Reich hat seine Arbeit über McCarthy sehr wahrscheinlich auch irgendwo abgeschrieben. Da gehe ich jede gottverdammte Wette drauf ein! Und du, Rohlfs, lässt dich am besten mit deiner semitischen Nase und deinem Notizbuch in der Hand auf dem Gipfel des Olympus Mons als Freiheitsstatue einmauern, denn irgendwann lassen sich diejenigen, die sich's leisten können, sowieso auf dem roten Drecksding nieder, weil hier unten ziemlich bald alles im Arsch ist. Zumindest für den Homo Rapiens! Den Ratten und Ameisen wird’s vermutlich einmal mehr am Arsch vorbeigehen. Der einzige Grund, weswegen ich diesen Bullshit mitmache, ist, dass ich mich entsetzlich langweile und kein Kameradenschwein sein will. Versteht ihr das, ihr besoffenen Hurensöhne? Glotzt nicht so romantisch! Außerdem rechne ich es dir hoch an, Rohlfs, dass du mir diese Orientfanatikerin vorgestellt hast, da mir's wirklich selten jemand so gut besorgt hat wie diese geile Barbara - und weil dein Kumpel Stephane den besten Shit besorgt, den man auf diesem Planeten kriegen kann. Übrigens hat der auch einen an der Klatsche, Rohlfs, und zwar ganz gewaltig. Ich rauche den Mist ohnehin nur, damit ich später komme und mir die Mucke dann besser reingeht. Bevor ich gleich auf dem Boden liege, buddy fuckers, will ich euch noch sagen, dass ihr unbedingt Return to Forever in den Raum schießen solltet, damit auch den Scientologen unter euch einer abgeht. Am besten wir setzen gleich den Tom Cruise ans Steuer der Sonde. Unterwegs kann er sich ja selbst einbalsamieren, dass ihn seine durchgeknallten Vorfahren vom Kepler-186f nach der Landung noch erkennen. Vielleicht füttert ihn ja auch sein Kollege Travolta mit seinen goldenen Himbeeren. Who knows? Gewiss erwarten sie da oben schon ungeduldig die Rückkehr ihrer Helden und Nachricht vom Kampf um die Erde. Das wird doch auch unserem Freund Winger gefallen, denke ich. Der schreibt sicher sowieso jeden Abend kurz vor Dienstschluss seine obligatorische Mail an die Direktorin für Menschenrechte in L.A., oder etwa nicht? Mein Beitrag für eure Videoinstallation wäre, ganz nebenbei gesagt, eine Gruppe von All-inclusive-Urlaubern auf der Dominikanischen Republik, die von zugekoksten Animateuren bei Laune gehalten werden, während sich die weiblichen Nachkommen afrikanischer Sklaven und spanischer Eroberer einige Schritte von ihrem Ferienparadies entfernt für ein paar Dollar prostituieren. Den Clip würde ich euch sogar höchstpersönlich drehen. Und die aufgedonnerte Visage von deiner völlig durchgeknallten Nachbarin, der Alten Hornauers, mit ihrer anankastischen Persönlichkeitsstörung, darf selbstverständlich auch nicht fehlen. Ein jump cut auf ihren pensionierten Ingenieursgatten, dem stinkender Eiter in Strömen aus seinem fehlerhaft eingesetzten Hörgerät trieft, würde das Bild auf organische Weise ganz nach meinem Geschmack abrunden. Pretty ugly, isn't it? Als Soundtrack will ich hier - und da könnt ihr sagen, was ihr wollt - Chick Coreas Departure from Planet Earth. Verdammt gute Dröhnung, Freunde! Den CD-Rip hab' ich von Meister Rohlfs, Winger! Es kann ruhig auch etwas weh tun. Ja, weh tun muss es! Weh tun! Verdammt gut! Und was für ein Kontrast! But if dreams came true, oh, wouldn't that be nice. Cheers buddies! Je weniger Erbauung, desto mehr konstruktive Hilfe. Na, ist das ein Wort? Fragt sich nur, für wen, oder?" "A freeze frame shot might be even more effective, you know. Yeah, freeze frame", entgegnete Winger nach einer Weile recht nachdenklich. "Mr. Rohlfs is completely right mit diese slow pace music. Ich habe gehört das False Relationships and the Extended Ending von Feldman in concert und it is unbelievable, wenn du das gehört mit images in very slow motion. Rohlfs found something that makes the contrast higher, but not lower, you know. Lord Almighty! There is something deeply powerful and moving for me in these simple sounds, Rohlfs. How can we not all have the need for a God that we project as Perfection beyond all Perfection or Holy beyond all possible Holiness?" "Seid unbesorgt, Soldaten! Euer Palle bringt euch zu Popescu! Weeß zwar nich', wat ihr von mir wollt, ihr müden Sackgesichter, aber es möge nützen. Prost, ihr Säcke! Prost!" Zwischenzeitlich biss Palle in ein Stück Brot, das er aus seiner Hosentasche fischte, um, wie er sagte, einer Alkoholvergiftung vorzubeugen. "Kennst du übrigens schon den, Winger? Listen! Some people say that the Lord Almighty is everywhere. This means that He is in your mother's vagina and up your asshole at the same time. Cheers comrades!"

Mit einem weiteren Handzeichen gab Palle Wilhelmy mit einem breiten Lachen zu verstehen, dass er die Musik aufzudrehen hatte. Offenbar verfügten Wilhelmy und Palle über ein lange erprobtes und ausgeklügeltes System an Kommunikationskomponenten. Der weibliche Gast war indes längst nicht mehr zu sehen. Schweigend tranken die drei Männer den verbliebenen Rest der Flasche aus und ließen sich von Palles Wunschkonzert die verworrene Zeit vertreiben. "And the stars look very different today, for here am I sitting in a tin can far above the world. Planet Earth is blue, and there's nothing I can do."

Niemand hätte später sagen können, wie lange das Lied gedauert hatte und wie man nach Hause gekommen war. Helmuth Wilhelmy hatte die Angewohnheit Musikstücke, die ihm besonders gut gefielen, schier endlos zu wiederholen. Wenn er entsprechend aufgelegt war, konnte es sogar geschehen, dass er ein paar Zeilen mitsang. In einem Punkt war sich Rohlfs indessen sicher: Einen Teil des Abends verbrachte man in Gesellschaft von Magnus Alberti und Hedda, die allerdings die meiste Zeit wie eine Fledermaus um die Männer herumflatterte. Magnus spendierte eine zweite Flasche Tequila, während Wilhelmy Kappeser mit einem scharfen Pfiff signalisierte, dass er die Türen zum Ausgang zu verriegeln hatte, was er umgehend im Laufschritt ausführte. Kappeser positionierte sich schließlich in der Nähe des Ausgangs und schien auf weitere Instruktionen zu warten. Da diese jedoch nicht erfolgten, blieb er nahezu regungslos und breitbeinig dort stehen und folgte lediglich mit den Augen den nervösen Bewegungen Heddas, wobei er sich von gelegentlich ein wenig Zahnstein mit dem langen Nagel seines kleinen Fingers aus dem Mund hobelte.

Magnus Alberti ging, nachdem er die Flasche auf den Tisch gestellt hatte, eine Zeitlang in der Nähe der Tischgemeinschaft auf und ab und es erweckte den Anschein, als setzte er sich interessiert mit den Erwägungen der Männer auseinander. "Natürlich werden wir die Sonde nicht nur Ship of Fools nennen, meine Herren", sagte er mit der ihm eigenen Bestimmtheit und, bevor er sich schließlich zu ihnen setzte, "sie wird selbstverständlich auch bemannt sein." Man hielt Magnus für vertrauenswürdig und Rohlfs wusste, dass ihn diejenigen, die vorgaben ihn besser zu kennen, auch den Beichtvater nannten. Am Tisch ging man zumindest davon aus, dass es naheliegend und angebracht sei ihn in das Projekt einzuweihen. Ja, man glaubte sogar, dass man durch Magnus Albertis Mitwirkung der Verwirklichung des Vorhabens einen großen Schritt näher kommen würde. "Hütigstags kriegt man so ein Mordsding nicht zum Laufen ohne Schtütz, wenn ihr versteht! Hier kommt's auf das Kapital an, exgüsi! Auf's Kapital, meine Herren! Schtütz, meine sehr geehrten Herren!" Magnus richtete seine runden Manschettenknöpfe aus 18 Karat Gold, wie er einmal erwähnt hatte, während sein Blick für einen Moment ins Leere zu schweifen schien. Den Wert der Knöpfe verglich Rohlfs in Gedanken mit dem Preis für seinen gebrauchten Chevrolet, den er ein paar Jahre gefahren hatte, bevor er ihn wegen der ständigen und, wie er fand, vollkommen überhöhten Reparaturkosten wieder verkaufen musste. "Und woher nehmen wir's?", fragte Alberti schließlich in die Runde. "Vom Bünzli natürlich! Der Mannsgoggel muss denken er hät den Masel! Hüenerhuut muss er haben, der Mannsgoggel!" Magnus füllte die Gläser und stieß freundlich mit den Männern an. "So gschwind wie die Summervögel hier weg wollen, könnt ihr nicht bis drei zählen! Mars is the New World. Mars Direct! Manned mission to Mars! For the science, for the challenge, for the future! Wir liefern die Wohnmodule und die Gerätschaften zum Herstellen von Treibstoffen auf den Mars. Und natürlich verkaufen wir vor allem die Tickets als Vermittler für Mars Direct. Extraleistungen zu Vorzugspreisen! Es versteht sich von selbst, dass wir noch vor dem Ausverkauf untergetaucht sein und niemals existiert haben werden. Departure from Planet Earth. Dann folgt der Abflug, der nicht stattfindet und niemals stattgefunden haben wird. Schtütz, meine Herren! Schtütz!" Hedda legte ihren Arm zärtlich um Palles Hals und hauchte ihm ins Ohr: "Now it's time to leave the capsule if you dare." "Isch habe gehört von all diese Zubrin Sache using the Martian atmosphere to produce oxygen, water, and rocket propellance. Aber when isch verstanden habe das rischtisch, die idea ist nicht zu bringen die Leute zu eine surface stay, am I right?", warf Winger ungeduldig und etwas gereizt ein, woraufhin ihn Alberti lange fixierte, als wollte er Wingers Gedanken lesen. "Nüt für unguät", entgegnete Alberti gelassen und füllte erneut die Gläser, bevor er fortfuhr. "Aber es ist mir schnurz, wer wann wo ankommt, Winger. Nobody cares two hoots about it. Die Leute wollen gigantische Träume verwirklichen. Ich meine diejenigen, die schon einen goldenen Ferrari in ihrer Garage stehen haben und deren Leben von Dresscodes bei Empfängen beherrscht wird. Ja, Mr Rohlfs, von Leuten, die sich jede Holly Golightly mieten, die ihnen gerade gefällt, bis sie auch das nicht mehr interessiert. Hei no nä mal! Glamour genügt irgendwann nicht mehr! Ja, Mr Rohlfs, ich habe eine verdammte Schublade voll von diesen Manschettenknöpfen. Per Mausklick von Charles Lewis Tiffany direkt aus New York. Who cares? Selbstverständlich weiß ich genau, wovon ich rede. Ich kenne meine Leute, Mr Rohlfs. Wenn die Sache läuft, spricht nichts dagegen, sich in eines dieser Ships of Fools zu setzen. Narrenschiffe hat's schon immer gegeben, meine Herren. Die Navigation befreit das Individuum von der Unsicherheit seines Schicksals, wenn ihr versteht, was ich meine. Und Sie, Rohlfs, schreiben das Logbuch. Dafür bezahle ich Sie. Lehmann fährt die Crew nach Rumänien. Ich kümmere mich um die Kunden und die Kontakte mit der Iranerin. Wie heißt das Mädchen noch gleich?" "Ansari", antwortete Winger. "Ja, richtig, Ansari. Und natürlich Diamandis. Aber darüber müsst ihr euch nicht den Kopf zerbrechen."

Alberti füllte nochmals die Gläser und verließ schließlich seinen Platz in Richtung Theke. Kappeser spuckte hinter vorgehaltener Hand etwas Zahnstein auf den Fußboden. Palle beugte sich vor und flüsterte Winger etwas ins Ohr, woraufhin dieser sich an Rohlfs wandte und sagte: "Mr Alberti embodies the gas station of the future. The energy industry is ripe for disruption. In this business, the design of the vehicle is what counts, you know."

"Of, of, of, si vai de mine! Schmeckt Ihnen die Mămăligă denn nicht, domnule Rohlfs? Sie haben kaum etwas gegessen. Vai de mine! Gibt es etwas, das Sie betrübt? Sie scheinen verstimmt zu sein. Vielleicht freut es Sie zu hören, dass ich Ihren Großvater kenne. Als Autor, meine ich, selbstverständlich nicht persönlich. Warten Sie, ich zeige Ihnen etwas. Warten Sie, warten Sie einen Augenblick."

Emilian nahm einen breiten Stapel Bücher aus seinem Regal und baute sie vor Rohlfs auf. "Selbstverständlich kannte Ihr Großvater diese Titel. Schauen Sie nur, schauen Sie!" Viele der zerlesenen Bände kamen Rohlfs tatsächlich bekannt vor. Neben einer Ausgabe von Henri Barbusses Briefen von der Front an seine Frau, Friedrich Albert Langes Leibesübungen und der Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart sowie Bertolt Brechts Flüchtlingsgesprächen und einigen rumänischen Autoren kramte Emilian eine abgegriffene Zeitschrift aus dem Stapel hervor. Auf einem Exemplar der Pforte aus dem Jahr 1953 fand sich wahrhaftig der Name seines Großvaters mit dem entsetzlichen Druckfehler im Nachnamen auf der Haupttitelseite, über den Alois sich immer wieder empört hatte, denn schließlich, so sagte er oft, hätte man ihn so ohne Weiteres mit dem Wiener Katecheten verwechseln können, was ihm zutiefst missfiel.

Den Aufsatz Von der Unentbehrlichkeit des Mythus habe er, sagte Emilian und riss die Hände in die Luft, um dies noch zu verdeutlichen, mit großer Begeisterung gelesen und es sei, sagte er schließlich feierlich, wunderbar, dass man im Anschluss daran eine Übersetzung von Mihail Eminescus Venedig abgedruckt habe.

"Ist es nicht geradezu so, als habe uns das Schicksal zueinander geführt? Was halten Sie davon? Ist es nicht sonderbar, was für Beziehungen aus einem Besuch, aus einem einzigen Wort entstehen können? Und Klänge, dumpf wie Worte der Sibylle, in der Sekunden gleichem Schritte sagen: Umsonst Kind! Tote weckt kein Menschenwille. Mein Bruder liebte diese Zeilen. Nehmen Sie die Pforte zu sich und lesen Sie mir unterwegs daraus vor, domnule Rohlfs. In lauen Nächten schlafe ich oft im Wagen. Betrachten Sie meine wenigen Habseligkeiten als ihren Besitz und ruhen Sie sich noch ein wenig aus, bevor die Dämmerung kommt. Lesen Sie! Das wird die finsteren Gedanken vertreiben! Vai de mine! Ihre Umhängetasche habe ich bereits unter dem Beifahrersitz verstaut. Möchten Sie, dass ich Ihnen das Notizbuch hole?" Rohlfs schüttelte abwesend den Kopf. "Es ist spät, domnule. Es ist spät. Schlafen Sie noch ein wenig. Mein Haus gehört Ihnen, nebst allem, was ich besitze!"

Es verging geraume Zeit, ehe Rohlfs wusste, was er machte und was er machen wollte. Fast bewusstlos starrte er in eines der vor ihm aufgeschlagenen Bücher. Seine Lippen bewegten sich lautlos, als seine Augen den Sinn der Zeilen erfassten, die er gedankenverloren wiederholte: "Nu mai ştiu când am murit."

Hastig schlug er das Buch zu und trug den Stapel zurück zum Regal, in das er die Bücher voller Zartgefühl eins nach dem anderen einsortierte. Während sein Blick durch die Reihen der Bücher wanderte und er ihren Geruch tief einatmete, entsann er sich einer scherzhaften Unterhaltung mit Magnus Alberti über Pirminius im Helmet.

Magnus kannte eine ganze Passage aus den Schriften des heiligen Mannes auswendig, die er, sehr zum Ärger Kappesers, der hinter dem Tresen die üblichen reibenden und wischenden Verrichtungen  vollzog, etwas zu laut, wie gewöhnlich, mehr für alle Anwesenden als für Rohlfs direkt, in den Gastsaal hinein verkündete, worin Hedda ihm fußwippend beipflichtete, sehr zur geheimen Lust und Pein des Barmannes, dessen Blicke ihr wie immer nicht entgingen.

"Wollt nicht Götzen verehren, nicht beten und Gelübde ablegen an Felsen oder Bäumen, an Quellen, Schluchten und Kreuzwegen, nicht zaubern oder zu Wahrsagern laufen, nicht achten auf Niesen oder Vogelflug oder andere Phantasien; denn die heidnischen Feste, der Schmuck des Lorbeers, die Beobachtung des Flusses, das Opfern von Früchten, Wein und Brot über den Wurzelstöcken von Bäumen oder in Quellen, den Namen der Minerva beim Weben anrufen, den Freitag zum Heiraten bevorzugen, nur an bestimmten Tagen auf Reisen gehen, das alles ist Dienst des Teufels. Hängt euch doch keine Spruchbänder noch Amulette von Kräuterbüscheln oder Bernstein um! Glaubt nicht den Wettermacherinnen und entrichtet ihnen nichts! Lasst euch nicht narren von Feuerschauerinnen, die aus dem Rauch euch die Zukunft deuten wollen; denn die Zukunft kennt Gott allein! Zu Neujahr in Hirsch- oder Kalbfell laufen, Männer in Frauentracht, Frauen in Männertracht - das lasst sein!"

An Albertis Blick in die Runde musste etwas Besonderes gewesen sein, denn man fühlte etwas wie einen aufkommenden Aufruhr. Hedda pendelte weiter ihren spitzen Schuh, eine Art Pumps ohne Fersenriemchen.

"Das lasst sein!", wiederholte er, die Stimme noch dröhnender als sonst. "Hängt doch keine hölzernen Gliedmaßen an Kreuzwegen oder Bäumen auf, das bringt euch die Gesundheit nicht! Lasst das Schreien, wenn der Mond sich verfinstert, und glaubt nicht an eines Teufels Zauberspruch! Als Christen sollt ihr weder vor der Kirche noch auf Straßenplätzen Heidentänze, Heidengesang und Mummenschanz treiben." - "Scheißdreck!", entfuhr es Kappeser. Rohlfs faltete die Hände.

Und ob er an die Jungfräulichkeit Marias glaube, verkündete Magnus, weil er nämlich überhaupt an die Jungfräulichkeit glaube. Gerade er als entlaufener Mönch, der heute in der Buchhälterei tätig sei, wisse, wovon er da rede.

Hedda trank aus einem langstieligen Glas, aus dem ein abgewinkelter dicker Strohhalm ragte, und auch Magnus hatte getrunken, mit dem Handrücken wischte er sich ein wenig Schaum vom Mund. Gleichermaßen wischte er das Gemurmel hinweg, das sich wie üblich erhob, wenn er, wie jetzt, ein treffendes Stichwort aus dem allgemeinen Kneipengequatsche aufgreifend, zu einer seiner Reden ansetzte.

"Die Jungfräulichkeit", sprach er, das Wort in seiner schönen schweizerischen Diktion geradezu singend, "ist einer der letzten Schätze, die Keuschheit überhaupt", wozu Hedda nickte, als wisse gerade auch sie, was er da im Sinne hatte, "ja wer, das frage ich euch, ist denn überhaupt je keusch gewesen, keusch um dann allerdings schwanger zu gehen, und zwar mit einer Frucht, die es wert gewesen wäre!"

Ja, das wisse er nun doch mit einiger Genauigkeit, dass es der edlen Gesellschaft, in der man sich gewöhnlich befinde, sehr wohl auf Keuschheit ankomme, allerdings eher auf die der anderen, während man selber keusch sei aus Mangel an Gelegenheit, was in seinem Geschäft, er wisse nicht, ob er sagen solle "Gott sei Dank", sehr zu Buche schlage.

Aber natürlich gebe es ein Jenseits, von ihm aus, sagte Alberti, auch ein solches, aus dem die Toten zu einem sprechen! "Aber solche Toten, ich bitte euch, wie wir sie uns jederzeit vorstellen können. Im Geist sind ja die Toten gar nicht tot, und ihre Werke, wie das Mittelalter sagt, sind ewig, weil Tatsachen. Es mag sein, dass die Werke unseres noch ausgesprochen gegenwärtigen Kappesers für sich genommen bescheiden sind. So sind sie aber dennoch Tatsachen und keiner kann sie, streng genommen, aus der Geschichte auslöschen. Und wenn er eines, das wollen wir ihm doch alle wünschen, also hoffentlich fernen Tages das Zeitliche gesegnet haben wird, so doch nicht so, dass alle seine Taten dadurch ungeschehen sein werden. Der Geist, in dem er dieses und jenes tut und getan haben wird, der ist heute naturgemäß schon ewig. Das möchte ich doch behaupten, solche Kappesers hat es immer schon gegeben und wird es geben, Gott sei es geklagt. Dazu müsste man gar nicht die kleinen Kappesers bemühen, die er ohnedies schon in die Welt gesetzt hat. Aber dessen hätte es ja gar nicht bedurft, wie er vielleicht nur unklar sah. Jedenfalls mag er auch eine nicht geringe Zahl der Früchte seines Leibes daran gehindert haben, ins Leben zu treten. Die verharren dann auch sozusagen im Jenseits, woran wir ja gewöhnlich nicht denken, wenn wir uns auf das Jenseits einlassen. Es ist ja nicht etwa voller Toter, alles ist jenseits, was augenblicklich oder grundsätzlich außerhalb unserer Reichweite liegt."

Hedda, die Magnus' Reden mehr oder weniger auswendig kannte, wollte ihm beipflichten, fand aber nicht die richtigen Worte und trank darum an ihrem Cocktail, wobei sie heftig mit dem Kopf nickte. Es war klar, dass man an sie nicht herankam, es sei denn, indem man Albertis Reden schluckte. Es war einfach nicht zu fassen, dass der Typ es bei Hedda gut stehen hatte. Sie war tatsächlich seine Frau, denn sie kokettierten damit, für die Länder, in denen das nötig sei, durchaus die erforderlichen Papiere zu besitzen.

Ansonsten lebten sie natürlich in wilder Ehe. Das hätten sie auch bereits getan, als Magnus noch ein Klosterbruder gewesen sei. "Gerade da!", bemerkte Hedda, die für diesen Umstand auch einmal die richtigen Worte fand. "Und in sehr wilder Ehe, das kann ich euch sagen", griff er ihre Worte auf, wobei er den Blick in die Runde schweifen ließ, um festzustellen, dass die Fantasie der Umstehenden in Bezug auf dieses Thema in der üblichen Weise blühte, denn allseits fühlte man sich von seinem Blick ertappt. Jeder versuchte von der Wildheit Heddas in irgendeiner Weise seinen Teil abzubekommen. Man wusste auch, dass sie käuflich sei, es jedenfalls war, allerdings stellte man sich den Preis astronomisch vor. Der eine oder andere bildete sich ein wirklich in sie verliebt zu sein. "Quatsch", sagte Kappeser, du willst bloß nicht bezahlen. "Die scheißt dir auf deine Liebe. Wenn du mich fragst, ist sie auch bei dem Alberti bloß auf die Kohle aus. Und der, so was sehe ich auf den ersten Blick, ist impotent oder überhaupt schwul, wie die ganzen Klosterfritzen. Die ganze Sache hier ist oberabgekartet und stinkt zum Himmel. Frag mal Helmuth, oder frag ihn besser nicht, denn der will seinen Teil haben von dem Geschäft, das die hier aufziehen." - "Was denn für ein Geschäft? Du meinst den Telefonsexladen?" - "Du Rindvieh, das ist doch bloß ein Zipfel von der Wurst. Solche Typen wie der Alberti, die haben noch ganz andere Eisen im Feuer. Das Gerede über Geister, Tote und der ganze Quatsch, Humbug, sage ich dir. Am Ende geht es um Geld, und zwar richtig um Geld. Und dabei werden jede Menge Leute verarscht. Wann genau die Verarsche anfängt, weiß natürlich kein Mensch, ich glaube, nicht mal der Boss weiß das genau. Was der aber weiß, darauf kannst du Gift nehmen, dass diese beiden, der Magnus und die Hedda, von der Sorte sind, wo am Ende der Rubel rollt. Eigentlich rollt der ja jetzt schon, oder was stellst du dir so vor, was ich denen zusammenrechne, wenn wir den Laden morgens dicht machen? Und die anderen, die ja bleiben, weil jeder danach geiert, dass noch was kommt, die zahlen auch. Und der Wilhelmy schleppt die Kohle ab, und nicht zu knapp!"

Auf dem Schiff habe er gearbeitet, auf einem Frachter. Das sei ja in gewisser Weise auch ein Kloster, also natürlich reine Männergesellschaft. Da auf einem solchen Schiff in erster Linie Geld gespart würde, fehle es an buchstäblich allem, beziehungsweise es würde daran gespart. Umgekehrt führen die Seeleute einzig aus dem Grund zur See, weil sie Geld verdienen wollten, und das täte man auch tatsächlich, wenn man die Bezahlung einmal mit der für die Arbeit in einer Fabrik vergliche. Und ein solches Schiff sei letztlich mehr als alles andere eine Art Fabrik. Angefangen beim Dröhnen der Maschine, das man ganz unglaublich finde, wenn sie dann angeworfen werde, Stunden bevor das Schiff aus dem Hafen ausläuft. Der Gestank des Schiffsdiesels, ein süßlicher Mief; man hofft zuerst, der Fahrtwind werde ihn schon mit sich nehmen. Es sei aber wie beim Fahrradfahren in Holland.

"Der Wind arbeitet immer gegen einen, wenn er nicht genau in der allergünstigsten Richtung weht", was Hedda jedenfalls bestätigen konnte, vielleicht auch ohne jemals in Holland gewesen zu sein. Und im Übrigen sei das ja beim Radfahren eigentlich überall so, bloß dass noch die Berge dazukämen, weshalb für sie Radfahren gleich welcher Art jedenfalls von vornherein indiskutabel sei. Am liebsten würde sie auch gefahren, und zwar in einem anständigen Auto, und nicht in einer der lächerlichen Schachteln, die sich die Leute aus Geiz kauften, die sich eigentlich gar kein Auto leisten konnten. Sie sei sozusagen beruflich mitgefahren und wisse, wovon sie rede. Natürlich schwiegen alle zu diesem Thema. Man konnte nie wissen, woran man mit den beiden war, ganz zu schweigen von den Umstehenden, die sich an dem gefährlichen Paar weideten, und gar wenn Heddas Zunge ging wie die einer Schlange, die auch einmal selber zubiss, gewöhnlich aber ihr Opfer umschlang um es einer messerscharfen Bemerkung Magnus' auszuliefern. In der entstandenen Pause griff man nach seinem Glas oder hielt den Atem an. Magnus, der den Faden seiner Erzählung nicht vergessen hatte, sprach weiter in blumigen Worten von dem süßlich fauligen Geruch der Dieselabgase, der einen sofort umgab, wenn man beispielsweise aus einem miefigen Dienstraum trat oder gar aus der Kajüte, in der sie wechselweise schliefen. Selten einmal eine Stunde, in der niemand darin schlief, will heißen, sich seufzend zur Seite drehte, sich irgendwo kratzte oder gar sprach.

Welche Albträume mochten diese Burschen drücken, natürlich waren Verbrecher unter ihnen, die unteren Chargen, versteht sich, die die schmutzigen Dinge auch sahen, erlitten oder taten, die in der Welt des Verbrechens schließlich geschahen. An das allgegenwärtige Schnarchen gewöhne man sich nie, so wenig wie an die dröhnende Maschine oder den Wind. Wie beim Barras zähle man die Tage, fluche über das Leben auf See wie auch über das in den Häfen. Nichtsdestoweniger seien viele, wenn auch mit Unterbrechungen, ein halbes Leben dabei, könnten einfach das Geld nicht zusammenhalten und kämen darüber hinaus mit dem Leben an Land nicht zurecht. Jedem könne das passieren, dass er da bleibe, wo es ihn einmal hinverschlagen habe. Ja, sein eigener Vater sei treu und brav seine vierzig, fünfundvierzig Jahre in den Betrieb gegangen, ein paar lumpige Tage Urlaub im Jahr, und schlimmer als ein Seemann habe er die Frau zu Hause gehabt, die ihm täglich vorhielt, was für ein Jammerlappen er sei mit den paar Piepen, die er da verdiene, aber immerhin das solle er wenigstens tun. Woraufhin er dachte, ja, das Geld nimmt sie!

Anstatt zu schlafen hatte Magnus Überstunden gemacht, unter der Hand in der Funkstube gesessen, wo es so viel nicht zu tun gab, aber das Wachbleiben war schlimm genug für den jungen Funker, den er einmal weinend dort angetroffen hatte. Das Wachbleiben würde ihm regelrechte Schmerzen bereiten, ob man es je lernen könne?

"Das Schlafen kann man auch nicht lernen", sprach Magnus in sein ungläubiges Gesicht, die meisten könnten's ja, natürlich ohne zu wissen, wie es geht, während er dagegen so eine Idee habe, aber jedenfalls noch nicht dahinter gekommen sei. "Soll das heißen, du schläfst nie?", sprach der Junge, der aus Deutschland war, der einzige an Bord, mit dem man sich nicht in dem unter Seeleuten üblichen radebrechenden Englisch verständigte, "aber mein Gott, wirst du denn nie müde?" - "Ja, müde, falls es das ist, was die Leute müde nennen. Es ist mehr so, dass ich es satt bin, das allerdings häufig und sehr."

Der Junge schien davon weniger wissen zu wollen und war, wie Magnus sah, mit seinen Gedanken woanders, und wie man von Anfang an vermuten konnte, bei der folgerichtigen Idee, dass Magnus spielend die Stunden in der Funkkajüte absitzen konnte. Noch nie sei nachts kontrolliert worden, nur über die Leitung selber, reine Routine und ganz einfach.

"Ja, schon", verhandelte Magnus bereits, aber es sei natürlich durchaus ein Risiko. Die Kohle sei ihm ganz egal, fiel ihm der Funker geradezu ins Wort, jedenfalls die, womit er die Nachtschicht meine, einschließlich Zulage, wie Magnus der Vollständigkeit halber vermerkte. Den Job selber brauche er, und dass er die Nachtschichten übernehme, sei Bedingung gewesen. "OK, um zwei bist du wieder hier, wie können's ja mal versuchen, und das Geld hast du genau dann dabei, oder wir können die Sache vergessen", ob das klar sei, und dass er es sich sonst auf jeden Fall holen würde, auch das für dieses eine Mal. Der Junge, der einem Mädchen ein Kind gemacht hatte, also nicht als Verbrecher an Bord gekommen war, erschrak gehörig über die Art, wie Magnus ihn anfuhr. Natürlich sei er auch eine Art Verbrecher, einem Mädchen ein Kind zu machen um dann zu verschwinden und auf See Geld verdienen zu wollen, widersprach Hedda ausnahmsweise, alle Männer machten andauernd Kinder um sich dann irgendwie zu verpissen. Und ob das ganze Herumgehure nicht eine einzige Verpisserei sei? Man müsse noch ganz andere Preise verlangen! Aber sie sehe schon wieder alle die Typen, die sich ihren Notfick aus der Haushaltskasse stählen, und es werde ihr übel dabei. Herrgott, seien die Weiber doof, sie selber inbegriffen, was erst einmal keiner verstand. Natürlich konnte man sie nichts fragen, wie sollte man wissen, wohin das führen würde.

Für dieses Mal wand sie sich von ihrem Hocker herunter, sie hatte doch wohl ganz schön etwas intus, was man daran sah, wie bedächtig sie in Richtung Toiletten davonging.

Um zwei nämlich, fuhr Magnus fort, der abgewartet hatte, bis sich die Blicke von Hedda ab- und wieder ihm zuwendeten, musste mit dem Öffnen der Ladeluken begonnen werden, während das Schiff im Morgengrauen in den Hafen einlaufen sollte. Vier geschlagene Stunden minimum schmolzen sie das Eis von den verdammten Dingern, und zwar mit Schneidbrennern, ob jemand schon einmal mit einem Schneidbrenner gearbeitet habe? Und was das Beste sei, man schmolz also ringsum, und wenn man ungefähr wieder an der Stelle war, an der man begonnen hatte, saß die Luke dort jedenfalls wieder so fest, dass die Hydraulik regelrecht daran krepierte. Die Sache war darauf angelegt, dass egal wie, sofort mit dem Entladen begonnen werden konnte, wenn das Schiff im Hafen lag, also auch bei dreißig, manchmal vierzig Grad unter Null, je nachdem, wohin man fuhr.

Wilhelmy war jetzt seltener an einem der Tische und mit seiner Entourage zu sehen. Auch waren sich einmal zwei der Frauen, mit denen man ihn abwechselnd gesehen hatte, in die Haare geraten, woraufhin er sie kurzerhand achtkantig an die Luft beförderte, regelrecht am Schlafittchen, niemand würde ihm tatsächlich solche Kräfte zutrauen!

Aber Wilhelmy war auch darin ein Könner, worin seine Entschlossenheit gründete, so wie er andere in den Griff bekam, allen voran Kappeser, so hatte er sich selber im Griff. Nicht, dass er zu denen gehörte, die sich krampfhaft und in jeder Situation zu beherrschen wussten, im Gegenteil, eine kalte Wut konnte ihn überkommen, die ihn gefährlich machte. Und diesen Moment wusste er mit der ihm eigenen Könnerschaft zu entfesseln, er wurde zur Falle, die todsicher zuschnappte.

Keine der beiden Frauen wagte wegen eines zurückgebliebenen Kleidungsstückes etwa noch einmal die Tür auch nur einen Spalt weit zu öffnen, es war Kappeser, der auf einen Wink Wilhelmys hin ihr Zeug zusammenraffte und es unter Bemerkungen, die er ihnen entgegenschleuderte, wie man sie von Wilhelmy durchaus kannte, wenn allerdings auch nur in der dritten Person, ihnen nach auf die Straße beförderte. Sie berappelten sich wohl in der Einsicht, dass hier sowohl für die eine als auch die andere bis auf Weiteres alles verloren war, und da nur eine motorisiert war, fuhren sie zusammen davon, was Wilhelmy nicht weiter wunderte und mit irgendeiner der Bemerkungen abtat, die man von ihm kannte, völlig heiter inzwischen und der Alte. Nachdem sich der Schreck über den Tumult gelegt hatte, wurde es einer der inzwischen seltener gewordenen Abende, an denen sich jene Gelöstheit in der Kneipe ausbreitete, von der man gesagt hätte, dass sie hier immer herrschte und weshalb sie der Anziehungspunkt so vieler und so unterschiedlicher Leute geworden war, zumal hier in the middle of nowhere. Das „Helmet“ war ein regelrechter Geheimtipp.

Hedda und Helmuth waren eigentlich wie füreinander geschaffen, und man durfte getrost glauben, dass sie sehr wohl in der Lage war in exakt der gleichen Weise wie er, wen auch immer, egal ob Männlein oder Weiblein, an die Luft zu setzen, sollte ihr wer in die Quere kommen. Natürlich war das zu vermeiden an einem Ort, an dem einem ein Kommando nicht zustand. Dafür erzählte sie umso genüsslicher davon, wo sie auf die eine oder andere Weise Entsprechendes vollbracht hatte. Dabei sei sie grundsätzlich tolerant, denn wo wollte man schließlich anfangen? Dreck am Stecken hatte jeder, wie sie wusste, und man musste es nicht hinausposaunen. Im Gegenteil, das durfte man dann doch erwarten, dass einer sich nicht als der reinste Frankenstein aufspielte in ihrer Nähe, bloß weil er weiß Gott wie oft gesessen hatte, und das wegen Dingen, die nicht gerade appetitlich waren. Die Mädchen, die heute bei ihr arbeiteten, waren ja ganz kleine Fische, hatten im Kaufhaus geklaut, die lächerlichsten Dinge noch dazu, oder die Versicherung beschupst, hach. Dafür wusste Hedda mit Bestimmtheit, dass der Chef vom Kaufhaus, ein ganz Schmieriger sei das, aber sie kenne auch seine Frau, Kunde bei ihnen sei. "Aber immer hübsch am Hörer, mein Herr!", sagte sie und wippte mit ihrer Pantalette, "sonst geht es abwärts, aber hallo! Oder?" Der Chef des Kaufhauses, in dem sie das Penthaus bewohnten und wo eben auch die Kabinen für die Telefonistinnen, den Ausdruck benutzte Magnus mit einer für ihn typischen Betonung, sich befanden, besaß den Schlüssel zu der Gittertür, die die Nottreppe nach oben zur Dachwohnung hin abschloss. Und da war er schlüsselbundrasselnd und schnaufend heraufgestiegen, der geile Bock, weil er scharf auf das Mädel war, bei dem er es sich seit Wochen in jeder freien Minute besorgte. Was er letztlich dort oben an der Wohnungstür erreichen wollte, mochten die Götter wissen. Vielleicht, dass er auf einen Zufall hoffte, indem das Mädchen in irgendeiner Angelegenheit die Wohnung verlassen würde. Ihm war, als habe es auf Andeutungen seinerseits beim Telefonieren etwas Diesbezügliches gesagt. Wer aber nun tatsächlich die Tür aufmachte, das war Hedda selbst, die der Direktor anlässlich des Vertragsabschlusses kennengelernt hatte.

Unentschlossen, ob er sich nicht doch zum TV-14 C schleichen sollte um sein Notizbuch zu holen, spielte Rohlfs nervös am Sendersuchlauf des ausgeschalteten Radiogeräts herum. War seine Aufnahmefähigkeit nicht bereits hinreichend geschwächt? "Nur Mut", redete er sich zu und schaltete das Gerät sehr behutsam und vorsichtig ein, als könnte es ihm Schaden zufügen. Für eine Weile lauschte er lediglich den schwachen Signalen im Mittelwellenbereich, bevor er sich erneut an den Sendersuchlauf heranwagte.

Ukraine and numerous other European nations are dependent on Russia for supplies of natural gas. Monday, McCain said that "Russia is a gas station masquerading as a country."

"All it - all he's got is gas and oil," McCain said referring to Russia and the Russian President. "And that's really all that is sustaining them."

The 77-year-old senator, a former Navy pilot who was shot down and served as a prisoner of war during the Vietnam conflict," then told Meyers "Wait, I take that back."

"It is a gas station run by a mafia that is masquerading as a country," he said.

Auf Zehenspitzen ging Rohlfs in den Hinterhof um sich nun doch der Umhängetasche zu bemächtigen. Da Emilian wie ein Karpatenbär schnarchte, gelang es ihm die Tasche unbemerkt aus dem Wagen zu angeln.

Für den Fall, dass er ihn geweckt hätte, wollte ihm Rohlfs zuflüstern man müsse die Route nunmehr dringend überdenken, da man andernfalls unweigerlich Kriegsgebiet zu durchqueren habe. So wenigstens hatte Rohlfs die Radiodurchsage aufgefasst.

Andererseits, so sagte sich Rohlfs, wer mochte sie schon aufhalten wollen, solange sie nur hie und da um ein wenig Diesel bitten würden. Sollte man ihnen vorwerfen, dass sie wegen einer Tankfüllung Völkermorde billigend in Kauf nähmen, wo sie doch lediglich dem Auftrag folgten ihren Standort zu wechseln? "Kraftstoffhändler", zitierte Rohlfs in Gedanken, "die an einer Tankstelle Kraftstoff abgeben, sind verpflichtet, Abnehmern Kraftstoff gegen gleich welche Währung zu liefern, soweit sie über Vorräte verfügen." "Hör nur, Tankwart", würde Emilian dem bewaffneten Händler zurufen, "nimm die harte Währung an dich, auch wenn sie hier bald an Wert verlieren mag. Man wird dich nicht danach fragen, Tankwart, welcher Währung du künftig zu dienen hast. Man wird dich nicht einmal danach fragen, auf welcher Seite du stehst!"

Kriege und Grenzverschiebungen sollten für sie kaum ein Hindernis darstellen. Dessen war sich Rohlfs sicher. Die beklemmende Vorstellung aufgrund eines unvorhersehbaren Kollateralschadens von seinem Auftrag abgehalten zu werden schloss er vehement aus. Man müsste lediglich die südliche Route einschlagen und, nachdem man die moldauische Zollkontrolle in Bulboaka, die transnistrische Kontrolle in Bender sowie die ukrainische Ausreisekontrolle in Kuchurhan überstanden hätte, auf der E 58 über Odessa und Mariupol bis zur ukrainisch-russischen Grenze bleiben.

In Rostow am Don kannte Rohlfs einen Maler, Kolja Konstantinov, der ihnen günstigstenfalls weiterhelfen konnte, sofern er aufzufinden wäre. Häufig trieb er sich an der Promenade des Don-Ufers herum, wo er seine gerahmten Landschaftsmalereien und Stillleben als Erinnerungsstücke an Touristen zu verkaufen versuchte.

Die Erzählungen von der Stadt der fünf Meere, den Kanälen, die Rostow mit der Ostsee und dem Weißen Meer verbinden, von den reich verzierten Fassaden der Häuser, dem südlichen Klima, den verführerischen und reizenden Rostowtschanki oder Schriftstellern wie Michail Scholochow und Alexander Solschenizyn, waren meist so lebhaft, dass Rohlfs glaubte die Stadt bereits gut zu kennen. Letztlich, so erinnerte sich Rohlfs, ging die Bekanntschaft mit Kolja Konstantinov allerdings auf die Kontakte Constances zur berühmten Kunstgalerie in Rostow zurück, von denen er zugegebenermaßen nicht allzu viel wusste und für die er sich seinerzeit auch kaum interessierte. Constance und Rohlfs beherbergten den Maler für einige Zeit auf einer seiner Reisen durch den Westen und Constance litt anfänglich sehr darunter, dass Kolja ihre Begeisterung für die Farbfeldmalerei nicht zu teilen schien. Rohlfs andererseits hing an dem Porträt, das Kolja von ihm angefertigt hatte, auch wenn es nicht viel mehr als eine hastige Skizze auf einem Blatt Papier war.

Die schiere Unwahrscheinlichkeit und Abwegigkeit eines Zusammentreffens mit dem Maler in einer so großen Stadt wie Rostow verdross Rohlfs jedoch so sehr, dass er den Gedanken daran wieder verwarf.

Suchte er tatsächlich noch immer nach menschlichen Bindungen und Abhängigkeiten, wo es doch galt möglichst keine weitere Zeit durch unnötige Umwege zu verschenken. Trost fand Rohlfs in der Auffassung, dass jedes menschliche Wollen und Planen im Grunde genommen nichts weiter als eine Trotzgebärde gegen die herrschende und allumfassende Wirklichkeit war, von der man sich schleunigst zu trennen hatte.

"Und als es die Seinen hörten, machten sie sich auf und wollten ihn festhalten; denn sie sprachen: Er ist völlig von Sinnen."