Samstag, 19. November 2022

Z. Z. XXXVII [»Weisse Handschuhe« von Walter Graf (2017)]

 


[»Waiting For Lloyd«, Goedart Palm (2022)]



It's better to have something to remember than anything to regret.

[Frank Zappa »The Real Frank Zappa Book« (1989)]




Weisse Handschuhe


Es musste schon gegen vier Uhr morgens gewesen sein, als ich, von der Spiegelgasse her kommend, beinahe mit Christof zusammengestossen wäre, der an der Ecke des Cafés Schober auf mich gewartet zu haben schien. Wenn man jahrein, jahraus durch die Gassen der Altstadt tippelt, kann sich von selbst eine Bekanntschaft mit einem der Anwohner ergeben; da ist weiter nichts dabei. Christof wohnte, obwohl er mindestens so alt war wie ich, noch mit seiner Mutter zusammen, die schon lange ein Pflegefall gewesen wäre. Er kümmerte sich jedoch selber um sie, weil er als Frührentner keiner Arbeit nachzugehen brauchte.

Ich trat, als wir einander begrüssten, einen Schritt zurück. Christof, der immer mit gedämpfter Stimme sprach, als würde er einem ein Geheimnis anvertrauen, hatte die lästige Angewohnheit, sich nahe an einen heranzuschieben. Er war untersetzt und hatte einen massigen Lockenkopf. Seine weissen Gummihandschuhe schimmerten matt in der Dunkelheit. Ohne mir mein zunehmendes Befremden anmerken zu lassen, liess ich seinen Redeschwall über mich ergehen. Ich hörte ihm schon deshalb zu, weil es auch Zeiten gab, in denen er kaum ein Wort hervorbrachte. Dann traf man ihn mitunter monatelang nicht mehr draussen an. Nachts, wenn ich am Brunnen vorüberging und einen Blick zu seinem Fenster hinaufwarf, hob er höchstens eine seiner schlaffen Hände, mit denen er sich auf das Gesims stützte, zum Gruss. Dann zog er wieder wochenlang Nacht für Nacht um die Häuser und spielte den Ordnungshüter im Quartier. Jetzt, wo er lange genug Trübsal geblasen hatte, war er wieder einmal in eine Phase hektischer Betriebsamkeit getreten.

Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was er mir sagen wollte. Christof hatte seinen Nachbarn, der seit einiger Zeit nicht mehr nachhause gekommen war, im Verdacht, ein Dieb zu sein. Entweder befand er sich im Gefängnis oder auf der Flucht vor der Polizei. Laut Christofs Mutter wurde die verlassene Wohnung bald von einem neuen Mieter bezogen. Deshalb habe er das Kellerabteil seines Nachbarn ausgeräumt und all seine Sachen, bei denen es sich bestimmt um lauter Diebesgut handle, auf einen Haufen geworfen. Nun habe er, da seine Mutter keine Polizei im Haus dulde, gedacht, dass ich diesen Haufen einmal inspizieren könnte. Dagegen hatte ich nicht viel einzuwenden: „Warum nicht? Wenn es nicht zu lange dauert…“

Christof wohnte gleich gegenüber. Er zog einen schweren Schlüsselbund hervor und öffnete das halbhohe Eisentor des Hauseingangs. Vor der Haustüre stiess er schimpfend ein Fahrrad, das im Weg stand, beiseite und liess mich eintreten. Er gebärdete sich, als er mich zur Kellertüre führte, wie ein Hausmeister, der dafür verantwortlich war, dass die Hausordnung eingehalten wurde. Ich folgte ihm, nachdem er das Licht angezündet hatte, die Treppe hinunter, deren Stufen unter unseren Schritten knarrten. Ein modriger Geruch erfüllte den Raum, der durch schwärzliche Lattenverschläge unterteilt wurde. Christof zeigte mir das leerstehende Abteil seines Nachbarn. Er hatte tatsächlich alles, was darin aufbewahrt worden war, hinausgeworfen und auf dem Fussboden zu einem Haufen zusammengescharrt. Während er sich abwartend im Hintergrund hielt, ging ich ein paarmal um den Haufen herum und zupfte hie und da etwas daraus hervor, sei es eine Videokassette, ein Taschenbuch oder eine Zeitschrift. Jetzt wurde mir auf einmal klar, warum Christof Handschuhe trug: er wollte keine Fingerabdrücke hinterlassen.

Inzwischen war es für mich wieder an der Zeit, einen Schluck Schnaps zu trinken. Da ich Christof ohnehin nicht für voll nahm, tat ich mir seinetwegen keinen Zwang an, zog meinen Flachmann aus der Brusttasche und setzte ihn an. Dann bückte ich mich nach einem Buch, dessen Umschlag mir ins Auge gesprungen war, und blätterte interessiert darin. Es handelte sich um den Roman „Albino“ von Bruno Schnyder, der anfangs der Achtzigerjahre erschienen war. „Aha“, sagte ich, „so einer ist das also gewesen…“, und steckte das Buch, obwohl seine Seiten von der Feuchtigkeit gewellt waren, kurzerhand ein.

Ich sagte es ja!“, ereiferte sich Christof: „Ein Sausack!“ Er trat einen Schritt vor und stocherte mit der Fussspitze in dem Durcheinander von altem Gerümpel herum, bis er auf ein quadratisches Foto von splitternackten Frauen stiess, die, eng zusammengepfercht, nebeneinander hockten. „Sieh dir nur mal das an!“ An das Originalcover des Doppelalbums von Jimi Hendrix erinnerte ich mich noch so gut, dass ich es mir gar nicht näher anzuschauen brauchte. „Was sagst du nun? Passt doch alles zusammen“, fügte Christof hinzu und angelte mit der Fussspitze ein zerknülltes T-Shirt hervor, auf dem ein nackter Mann, der auf dem Klo sass, abgebildet war. „Oder nicht?“ Dieses Bild von Frank Zappa hatten wir früher einmal als Poster an unsere WC-Türe gehängt.

Christof wollte mich nun, wo ich schon einmal da war, seiner Mutter vorstellen, die zwar im Bett, aber sicher noch wach sei. Sie sollte wohl sehen, dass ein Wachmann sich der Sache, die sie und ihren Sohn beunruhigte, angenommen hätte; der Anblick meiner Uniform sollte ihr das Gefühl geben, dass etwas gegen ihren Nachbarn in die Wege geleitet würde. So folgte ich ihm durch das enge Treppenhaus in den dritten Stock hinauf. Christof, der nicht an Besuch gewöhnt zu sein schien, war sichtlich aufgeregt. Er führte mich in einen dunklen Gang. Vor dem offenen Wohnzimmer, in dem ein Fernseher ohne Ton lief, blieb er stehen und rief mit gedämpfter Stimme: „Ich habe den Zerberus-Mann mitgebracht, um mit ihm nach dem Rechten zu sehen!“ Dann führte er mich an der Küche vorbei, in der noch ein Licht über dem Gasherd brannte, und öffnete die Türe zu seinem Zimmer.

Komm nur herein.“ Die Einrichtung des Zimmers machte mir einen so ärmlichen Eindruck, dass ich zögerte, seiner Aufforderung nachzukommen. Auf der Schwelle stehenbleibend, liess ich meinen Blick über die kahlen Wände schweifen, die einen trüben Gelbstich hatten. Einzig hinter dem Bett war die Wand geschmückt, aber nur mit ein paar Fetzen aus alten Zeitungen. Als Christof sah, worauf mein Blick gefallen war, erklärte er lächelnd: „Das sind eben meine Helden!“ Ich trat näher an sein Bett heran und beugte mich vor. Auf den Schwarzweissfotos, die er sich als Junge ausgeschnitten haben musste, waren Hugo Koblett und andere Radrennrennfahrer aus den Sechzigerjahren zu sehen. Das war freilich etwas anderes als die nackten Weiber und die drogensüchtigen Rockstars seines Ex-Nachbarn.

In diesem Augenblick liess sich die heisere Stimme der alten Frau vernehmen, die im Wohnzimmer lag: „Stoffel!“ „Meine Mutter“, flüsterte Christof und beeilte sich, ihrem Ruf zu folgen. Ich sah mich, während er beruhigend auf sie einredete, vergeblich nach Büchern und Flaschen in seiner trostlosen Bude um. Hier gab es nichts, was mich zum Bleiben einlud. Als Christof vom Bett seiner Mutter zurückkehrte, stand ich wieder auf der Schwelle und schaute auf meine Uhr. „Tut mir leid“, sagte er. „Ich muss sie aufs WC bringen.“ Er wies mich zur Wohnungstür und begleitete mich an die Treppe. Als ich mich, froh, so glimpflich davongekommen zu sein, von ihm verabschiedete, flüsterte er noch mit einem verhaltenen Grinsen: „Meine Mutter sagte, die Zerberus-Leute seien auch nichts…“ …auch nichts wie wer? Sie hatte wohl die Polizei gemeint, von der sie schon x-mal enttäuscht worden sein mochte.


Mittwoch, 9. November 2022

Z. Z. XXXVI [»Folge 3: Alarm {Auszug}« aus Val Sidals »Fakeforce - Himmels Körper« (2012/2021)]

 


Σώμα IV«, Lorena Kirk-Giannoulis (2022)]



Reality is that which, when you stop believing in it, doesn't go away.

[Philip K. Dick »I Hope I Shall Arrive Soon« (1985)]




[»Wake Up In My Blood And Give Birth To Me Again«, Lorena Kirk-Giannoulis (2022)]





Tante



Roland saß am Frühstückstisch und vertieft in einen WIKIPEDIA-Artikel:

Im Zuge der starken Ertragssteigerungen durch technologische Entwicklung ab dem Ende des 19. Jahrhunderts und vor allem in der Grünen Revolution in den 1950er und 1960er Jahren verlor die Überbevölkerungsdebatte durch die Prognosen Wilhelm Fucks an Bedeutung. In den 1970er Jahren erfuhr die Thematik durch die von Donella und Dennis L. Meadows im Auftrag des Club of Rome durchgeführte Studie Die Grenzen des Wachstums sowie durch Paul R. Ehrlich großen Zuspruch bei Teilen der Umweltschutzbewegung und wird heute oft in Bezug auf Klimawandel diskutiert. Da das Konzept der Überbevölkerung sowohl begrifflich als auch inhaltlich nahelegt, es gebe zu viele Menschen, wird es von einigen als menschenverachtend bewertet. Gesetzmäßigkeiten aus der Biologie würden in unzulässiger Weise auf den gesellschaftlichen Bereich übertragen. Es wird bezweifelt, dass die Tragfähigkeit der Erde bereits erschöpft sei; vielmehr seien soziale, wirtschaftliche und ökologische Probleme durch politische Fehlleistungen und eine schlechte Verteilung der insgesamt ausreichenden Ressourcen verschuldet.

1984 erschien Germaine Greers Buch Sex and Destiny: The Politics of Human Fertility, das ebenfalls eine heftige öffentliche Kontroverse auslösen sollte. Ausgehend von Erfahrungen auf ihren Reisen in die Dritte Welt kritisierte sie darin die westlichen Einstellungen zur Kleinfamilie: Die Welt sei nur nach westlichen Maßstäben übervölkert. Sie forderte eine Rückkehr zu den Idealen des Familienlebens und zu Bescheidenheit statt grenzenlosem Konsumanspruch. Sie zeichnete ein positives Bild von der Frau als Mutter der Großfamilie und propagierte Keuschheit als ein mögliches Mittel zur Geburtenkontrolle.

Dem Konzept wurde vorgeworfen, dass es dazu diene, das Gewissen der Reichen angesichts der Armut zu beruhigen. In der Gegenwart vertritt etwa Jean Ziegler, der politisch linksstehende ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, die Ansicht, der Begriff lenke lediglich von sozialer Ungleichheit und politischen Fehlern ab, welche die tatsächlichen Ursachen des Welthungers seien. Armut führt zu einer hohen Geburtenrate, weil sie in der Regel mit schlechterer Bildung und weniger Zugang zu Verhütungsmitteln verbunden sei. Umfragen zeigen, dass viele Schwangerschaften ungeplant sind und die Frauen in den Entwicklungsländern sich weniger Kinder wünschen, als sie tatsächlich zur Welt bringen. Ein weiterer Grund könnte sein, dass in armen Weltregionen die einzige Möglichkeit der Altersvorsorge darin bestehe, viele Kinder zu bekommen. Auch sinkt tendenziell mit wachsendem Wohlstand der Einfluss traditioneller Lebensbilder – auch dies trägt zum Rückgang der Geburtenrate bei.“

In den letzten Jahren hatte sich Monika Winkler oft gefragt, wie es möglich ist, dass ein so gut gebauter Mann wie Roland, so unglücklich sein konnte. Anfangs dachte sie, es läge an ihr, dass sie nicht attraktiv genug sei. Dass ihre Brüste zu klein seien oder ihre Lippen zu schmal.

Bin ich zu knochig, oder zu aggressiv?“, fragte sie einmal ihre Tante Margarete.

Nach dem schrecklichen Ereignis, das Monika die Mutter raubte, den Vater hinter Gittern brachte, und die Verstümmelung im Unterleib verursachte, deren Folge es war, dass sie keine Kinder bekommen könnte, war Tante Margarete wie eine Mutter zu ihr.

Er ist so unglücklich und bei uns läuft gar nichts mehr“, sagte Monika unter Tränen, während Margarete sie zu trösten versuchte. „Wenn ich gefickt werden will, dann muss er doch seinen Job tun – oder? Dafür ist er doch da!“

Will er nicht mehr mit dir schlafen?“, fragte die Tante.

Doch, schluchzte Monika, weißt du, er hat einen Schönen, Großen, aber das Ding wird nicht mehr hart. Selbst die Fleischwurst in der Kühltruhe im Supermarkt ist steifer“, beichtete sie.

Dann kann ich dir nur Eines raten, meine Liebe“, sagte die herzensgute und einfühlsame Tante ohne zu zögern: „Nimm die Fleischwurst!“



<…>



16. Juli 1944

Am Nachmittag abgerückt von Fresneville. Wir sind Richtung Amiens gefahren, um dort verladen zu werden. Da keine Wagons für uns da waren, sind wir in einem Wald dicht am Bahnhof untergezogen.



Monika



Jo lernte Monika Winkler, eine der Gründerinnen von gGg Niederlassung Mettmann, kennen.

Als Monika hört, dass der Solarforscher Jo Dijkstra am HAARP-Projekt beteiligt ist und sich mit Polarlichtern auskennt, erzählt sie von Rolands Idee von einem Kunstprojekt, inspiriert durch die Polarlichtbeobachtungen des Jahres 2003: Auf der Illumina 2006 soll der Himmel über Neanderthal in künstlichem Polarlicht erscheinen.

Jo erkennt, dass das Kunst-Projekt „Himmels Körper“ eine gute Tarnung für die Fake-Studie ist, die er für ein Konsortium von Konzernen anfertigen soll, die kein Interesse daran haben, dass Treibhausgase die Klimakatastrophe verursachen könnten; er sagt seine Beteiligung am Projekt Himmels Körper zu.

Monika Müller, Biologiestudentin und Sprachrohr der Bewegung, verlegte ihr Engagement auf die Friedensarbeit. Monika und ihre Freundin Ines Breuer hatten an mehreren Demonstrationen und Sitzblockaden vor der Anlage teilgenommen, die 1962 an der Neusser Straße in Grevenbroich-Kapellen als eine Kaserne für 300 Soldaten der belgischen Militärstreitkräfte errichtet wurde. Im Auftrag der Amerikaner wurde danach die Raketenstation in Neuss-Hombroich gebaut, die 1967 von einem belgischen Raketengeschwader in Dienst genommen wurde.

Auf der Raketenstation wurden auch Nike-Hercules-Raketen aufgestellt, die mit Nuklearsprengkopf bestückt waren. Der Militärkomplex umfasste 3 Abschussbasen und diente der Abschreckung sowie der Landesverteidigung. An diesem Komplex waren zwischen 1968 und 1985 sowohl die belgische Luftwaffe als auch US-amerikanische Soldaten mit ihren Atombomben vom Typ Pershing II stationiert. Zu den beiden Standorten gehörte in unmittelbarer Nähe auch eine riesige Radaranlage, 100 Meter von mehreren Wohnhäusern entfernt.

Einmal erschien Monika Müller auch in den TV-Nachrichten und wurde als militante Aktivistin der Friedensbewegung von der Reporterin bezeichnet. Der Sportstudent Roland Winkler lag in seinem Kinderbett im elterlichen Einfamilienhaus in Neuss-Hoisten und während er auf das nachfolgende Länderspiel Deutschland gegen Niederlande wartete, streichelte er gefühlvoll seinen aus dem Schlitz seines Slips herauslugenden Schwanz. Monikas Erregung und Energie strömte aus dem Fernseher und ihre Stimme rührte jede Menge Testosteron an, sodass Roland mit neugierigem Blick beobachtete, wie sein Gemächt dicker und dicker wurde. Und länger – eine Rakete, dachte Roland.

In der deutschen Bevölkerung und bei vielen Politikern löste die Stationierung solcher Waffen erhebliche Befürchtungen aus: Der Atomkrieg sei „präziser und damit führbarer“ geworden und die Hemmschwelle zum Einsatz dieser Waffen wurde niedriger.

Dass Roland Winkler am 10. Oktober 1981 Seite an Seite mit der Friedensbewegung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen im Bonner Hofgarten demonstrierte, lag aber vor allem an seinem Wunsch, Monika Müller zu ficken.

 

<…>



17. Juli 1944

Sind am Abend von Jabos in 1½-stündigem Tiefflug angegriffen wurden. Dies war meine erste Feuertaufe. Die Brocken sind uns nur so um die Ohren geflogen. Sind nach dem Angriff per Achse weitergefahren. Nach El-Beff (Elbeuf) kurz vor der Seine.

 

Sara Bax



15. Juni 2004, San Diego, Kalifornien.

Als Sara Bax zur Gruppenleiterin bei GSMX ernannt wurde, ahnte sie nicht, wie ihr Alltag aussehen würde. Es ist vollkommen klar, dass es sich das Militär nicht leisten könne, seriöse private Forschung zu ignorieren, sagte ihr Boss, als sie eingeführt wurde. Selbst solche Organisationen und Individuen, die sich mit der UFO-Thematik vom psychologischen oder parapsychologischen Standpunkt aus beschäftigten, müssten beobachtet werden.

Neil Papworth schrieb die erste SMS: Merry Christmas, ein Jahr, nachdem das GSM-Netz in Betrieb genommen wurde. Die GSM Association (GSMA) in London vertritt die Interessen von über 800 Netzbetreibern in mehr als 200 Ländern. Neil ahnte nicht, dass er damit das größte Spionagenetz in Betrieb genommen hatte.

Die GSMX-Gruppe, die von sich behauptet, eine Tochter von GSMA zu sein, steht zu 100% unter der Kontrolle des Militärs. Nach und nach unterwanderte das Militär die weltweite mobile Kommunikation – wie schon vor langer Zeit das Festnetz. Die Basisstationen aller Netzbetreiber sind – gewollt oder ungewollt – mit dem Internet verbunden und zugleich Knoten in dem weitgehend unbekannten, aber größten Netz der Welt: dem GSMX-Netz. Unter dem harmlosen Namen Utah Rechenzentrum entsteht im gleichnamigen US-Bundesstaat das größte Abhörzentrum der USA. Wie Wired berichtet, soll die Anlage den Schlussstein einer während der letzten Dekade errichteten Überwachungsarchitektur bilden. Als Bauherr und Betreiber firmiert der US-Geheimdienst NSA, der mit dem Zwei-Milliarden-Projekt möglichst jede erreichbare Kommunikation auswerten wird.

Jegliche Kommunikation zu registrieren, auszuwerten und in einem wöchentlichen, streng geheim gehaltenen Bericht zusammen zu fassen, wurde zu Sara Bax Routine. Dafür wurde ihr Arbeitsplatz mit modernster Spionagetechnologie ausgestattet. Verdächtige oder außergewöhnliche Beobachtungen wurden in Ad-hoc-Berichten an Spezialisten weitergeleitet. Auf ihrem Tisch standen sechs Bildschirme mit den Satellitenkarten jeweils eines Kontinents.

Aktivitäten, die vom Computer als normal eingestuft wurden, erschienen als grüne Punkte; solche, die das Programm nicht eindeutig einordnen konnte, als gelbe Punkte, und Ereignisse, die von der künstlichen Intelligenz automatisch als außergewöhnlich eingestuft wurden, als rote Punkte.

An einem gewöhnlichen Arbeitstag waren 90% der Punkte grün und 10% gelb. An solchen Tagen konnte Sara Bax in Ruhe ihren Kaffee trinken, die Zeitung lesen und dann, nach dem Zufallsprinzip, sich einem der gelben Punkte widmen. In der Regel schaffte sie es, bis zum Feierabend alle gelben Punkte in grüne zu umwandeln. Ihre Hoffnung auf eine spannende und abwechslungsreiche Aufgabe wurde enttäuscht: es war ein öder, eintöniger Job.

Als sie um 7 Uhr Westküstenzeit ihr Büro betrat, hätte sie erwartet, den Bildschirmschoner zu sehen: dem Schauspieler Peter Sellers als Inspektor Clouseau nachempfunden, hüpft ein kleiner Mann mit einer riesigen Lupe in der Hand einem rosaroten Panther hinterher; in einer Sprechblase schreit es: Cherchez la femme! („Sucht die Frau!“).

Stattdessen blinkte ein roter Punkt an der Ostküste der USA.

Die Überschrift: John E. Mack Institute, Center for Psychology and Social Change. Sara Bax blieb wie versteinert stehen.

Das Mack-Institut – Sara Bax fiel ein, dass ihr Chef Major James Gerd das Mack-Institut aus der Beobachtung nehmen wollte: Mack ist tot und sein Institut ist unauffällig.

Sara Bax zeigte Eifer: Objekte, die ihre Aktivitäten eingestellt hatten, könnte man nach einer Karenzzeit generell aus der Beobachtung nehmen. Dafür müsste man nur eine zusätzliche Kennzahl einführen. Mal sehen, hatte ihr Boss geantwortet. Mit allem hätte sie gerechnet, nur nicht mit Mack.

Wenn etwa Oleg Proposhkin im russischen Fernsehen neue Videobeweise für die Existenz von UFOs präsentiert hätte, wäre sie keinen Augenblick überrascht gewesen. Alles Fälschungen.

Wäre ein neues Buch über unheimliche Begegnungen mit Außerirdischen erschienen, hätte sie ihren Spaß gehabt – lustige Lektüre für ein paar Tage. Manchmal fragte sie sich, warum man einen so hohen Aufwand betreibt – für nichts und wieder nichts.

Jetzt aber zitterten ihre Knie.

Sie öffnete die Datei mit dem Profil des Mack Instituts und rekapitulierte alles, was über das bekannteste Projekt des Instituts vorlag.

Der Harvard-Professor der Psychiatrie und Pulitzer Preis-Träger John E. Mack hatte das Program for Extraordinary Experience Research (PEER) 1993 gestartet. Er wollte erkunden, wie die Erfahrung der Begegnung mit Außerirdischen die persönliche, gesellschaftliche und globale Weltanschauung verändert. Wir müssen einen erweiterten Begriff der Realität in Betracht ziehen, ein Wirklichkeitskonzept, welches nicht in das westlich-materialistische Paradigma passt.

In einem Zeitraum von zwölf Jahren untersuchte er mehr als 200 Personen, die davon berichteten, wiederholt von Außerirdischen entführt worden zu sein. In seinen beiden Büchern zum Thema der Entführungen durch Außerirdische, bemerkt Dr. Mack, dass unsere Kultur viel von den beschriebenen Erfahrungen lernen könne.

Es verwunderte nicht, dass das PEER Projekt auf massiven Widerstand gestoßen war. Das Center for Inquiry gibt jährlich 11 Million Dollar zur Bekämpfung des PEER-Ansatzes aus. Die mittlerweile in CSI umbenannte Organisation CSICOP verfolgt das einzige Ziel, den orthodoxen Wissenschaftsansatz aufrecht zu erhalten, der alles Nichtmaterielle in der Natur verneint.

Alan Dershowitz, ein Harvard-Jura Professor, hatte ein Verfahren gegen Mack angestrebt, mit dem Ziel, ihn von seinen Posten zu entheben.

Mack fand aber auch prominente Unterstützer, darunter Laurance Rockefeller, der als Mitbegründer des Mack Centers in Boston, vier jahrelang jährlich $250.000 spendete.

Auf einer Vortragsreise in London, starb Mack am 27. September 2004 durch einen Unfall: Das Auto eines betrunkenen Fahrers soll Mack erfasst haben, als er alleine zu Fuß von einem Essen bei Freunden nach Hause laufen wollte. Die Stimmen, die behaupteten, dass er Opfer eines hinterhältigen Anschlags wurde, verstummen bis heute nicht. Merkwürdig war auch, dass seine Angehörigen, statt eine genauere Untersuchung zu fordern, vehement dazu aufriefen, den Unfallfahrer nicht zu verdammen.

Nach Macks Tod wurde das PEER-Projekt eingestellt.

Erschrocken blickte Sara Bax zur Tür, als könnte jemand sie in einem schwachen Moment erwischen. Sie ließ ihre schwarze Ledertasche auf den Boden fallen.

Noch bevor sie sich hinsetzte, aktivierte sie, mit einem Mausklick auf den roten Punkt, das Programm. Sie steckte sich ihren Kopfhörer an, trank einen Schluck Kaffee aus dem mitgebrachten Pappbecher und verfolgte die Programmsequenz.

Am Bildschirm erschien ein Fenster: Zwischen 00:00 und 01:00 Uhr nachts wurden zweihundert Anrufe auf den Anrufbeantworter des Mack-Instituts geleitet. Alle Anrufe dauerten weniger als zehn Sekunden.

Der erste Anruf kam von einer Lehrerin aus Portsmouth, New Hampshire. Ihre Stimme klang abgehetzt, außer Atem, als wäre sie gerade mehrere Etagen die Treppen hochgelaufen: „Mein Name ist Mildred Safranski, ich hatte an Dr. Macks PEER Projekt teilgenommen! Sucht Alan!“, dann legte sie auf.

Irritiert holte Sara Bax den nächsten Anruf auf den Kopfhörer: „Hier spricht Eva Hogan, ich hatte an Dr. Macks PEER Projekt teilgenommen! Sucht Alan!“

Sara Bax schaltete weiter: „Mein Name ist Dr. Alfred Holubek, ich hatte an Dr. Macks PEER Projekt teilgenommen! Fragt Alan!“

Und so ging es weiter.

Gegen halb neun zog sie das Headset aus – sie hatte sich alle Anrufe angehört.

Der Inhalt der Anrufe war nahezu identisch.

Alle begannen mit: Ich bin XY (hier nannten die Anrufer ihren vollständigen Namen). Ich habe an Doktor Macks PEER-Projekt teilgenommen.

Die einzigen Unterschiede folgten im nächsten Satz.

Sara Bax notierte hundert, die sagten: Sucht Alan!, und hundert, die forderten: Fragt Alan! Dann legten sie auf.

Der Beobachtungsbericht zeigte den Status nicht abgehört, was verständlich war, denn zu dieser späten Zeit hielt sich niemand in den Räumen des Mack-Instituts auf.

Sara Bax trank noch einen Schluck Kaffee und dachte über die nächsten Schritte nach.

Dann wählte sie am Computer den Menü-Punkt Aktionen und Nachrichten vollständig löschen aus. Nun konnte sie sicher sein, dass niemand eine Spur einer Nachricht finden wird. Selbst eine umfassende Untersuchung der Kommunikation würde ergeben, dass in der Nacht des 15. Juni 2004 keine Kommunikation des Mack-Instituts mit der Außenwelt stattgefunden hatte.

Obwohl das Ereignis für sich genommen schon ungewöhnlich genug war, öffnete Sara Bax das Hinweis-Fenster im System, um zu prüfen, welche Gründe die Logik des Programms für das Setzen des Status Rot dokumentiert hatte.

Erwartungsgemäß waren die Uhrzeit, die Anzahl der Anrufer und der ungewöhnliche Inhalt der Anrufe aufgeführt.

Es verschlug ihr aber die Sprache, als sie die letzte Begründung las: Der Anrufer Kirk Shattner aus Los Angeles ist seit drei Jahren tot.

Die Prüfung der Sozialversicherungsdaten, der Meldeauskünfte und des Polizeiberichts bestätigten den Hinweis: Kirk Shattner, ein Taxifahrer aus Los Angeles, wurde am Nachmittag des 23. August 2001 um 4 Uhr am Santa Monica Pier vor den Augen von zahllosen Zeugen von Haien in die Tiefe des Meeres gerissen. Seine Leiche wurde nie gefunden.

Von einem Hai...

Toter ruft an....

Dieser Vorfall wird nicht so schnell den Status Grün bekommen, das wusste sie. Der Hinweis auf den roten Punkt wurde in Bruchteilen einer Sekunde an alle autorisierten Stellen weitergeleitet. Also konnte sie in aller Ruhe ihren Kaffee austrinken und warten.

Doch dann leuchtete plötzlich ein Punkt in Köln, Deutschland, rot auf. Ihr Zwerchfell verkrampfte sich. Zwei rote Punkte an einem Tag! Ihre Gedanken rasten. Mit zitternder Hand bewegte sie langsam die Maus, um sich das Profil genauer anzusehen: Deutsches Institut für Theoretische Physik, Projekt Dunkle Energie, Projektleiter: Dr. Esther Wesseling.

Der Alarmton!

Gott, was hat das Alles zu bedeuten?

Deutsches Institut für Theoretische Physik, das war eine andere Liga bei den privat finanzierten Forschungsprojekten, als das Mack-Institut. Die Punkte, die sie markierten, nannte Sara Bax Stille Punkte. Still, weil sie Jahre lang grün blieben: keine Veröffentlichungen, keine Interviews. Gelegentlich war es sogar notwendig, sich aktiv um sie zu kümmern, um überhaupt etwas über den Stand ihrer Arbeit in Erfahrung zu bringen. Was für ein Tag! – Sara Bax konnte sich an keinen Tag erinnern, an dem zwei hochkarätige Adressen auffällig geworden wären: die Wahrscheinlichkeit liegt bei 1 zu 100.000, hatte man ihr versichert.

Im Hinweis-Fenster für das Setzen des Status Rot stand: Unbekannt. Eine solche Begründung für einen roten Punkt hatte sie noch nie gesehen. Sie wusste nicht einmal, dass Unbekannt als Grund zugelassen war. Eines aber war sicher: die KI hatte in Deutschland keine Anrufe registriert.



<…>