Mittwoch, 2. Januar 2019

The Gas Station (Variationen) [= S / W 5.1]



[»Super« (2015), Goedart Palm]




[Erste Tankstelle in Deutschland, Hannover (1922)]













[Inhaltsverzeichnis "Ulise 2022"]




[Aus: Stowassers Lateinisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch]







5



Das Volk macht es der Obrigkeit

heute nicht schwer und lässt sich

von jedermann leiten wie ein Auto, das intakt und vollgetankt ist.

(Abdishamil Nurpeissow)


My aim in painting has always been the

most exact transcription possible of my most intimate impressions of nature.

(Edward Hopper)



The Gas Station (Variationen)



5.1 Dea


Oh, er wusste ja nicht, wie er es anfangen sollte. Ja, wäre er zu Hause geblieben, aber so! Die Straße lag nass vor ihm. Alles troff.

"Guten Abend", sprach er ihn an, und natürlich erschrak Rohlfs. "Ich wusste, dass Sie diese Richtung nehmen würden, hat mir der Kollege von der Frühschicht gesagt. Über die Brücke auf einen Kaffee in die Tankstelle. Wie Sie von da verschwinden, müssen Sie mir mal verraten. Keine Angst, der von der Frühschicht soll schön selber dahinter kommen. Wollen wir einfach rüber, ich hätte auch Lust auf einen Kaffee. Gerade die richtige Zeit."

Rohlfs wich den auch körperlichen Annäherungen mit jedem Wort seines Gegenübers ein wenig mehr aus, doch jener verstand die Signale offensichtlich nicht. Er suchte nach einer Entgegnung, einer Ausrede vielleicht, befand sich aber bereits an der Seite des Doktors, der ihn kurzerhand unter den Arm gefasst hatte und ihn beinahe mit sich über die Straße zog. "Selbstverständlich hatte ich nicht die Absicht Ihnen auszuweichen, Herr Dr. Reich. Ich suchte nur..." Ein metallener Geschmack machte sich in seinem Mund breit und verhinderte jegliche Widerrede. "Seien Sie unbesorgt, Rohlfs." Zumindest konnte er sich am Fuß der Brücke aus der Umklammerung seines Begleiters lösen um sich nunmehr übertrieben die Hose abzuklopfen.

Von der Brücke aus erhaschte er die Sicht auf die zum Teil grell beleuchteten Konferenzräume in ihren überhöhten Regelgeschossen, in denen betuchte Damen und Herren den Profit der Wenigen vorantrieben. "Architektur mit Pointe", rief Rohlfs mit halblauter Stimme dem Herrn Doktor zu, der sein feuilletonistisches Bonmot überhörte. Unterhalb der Glaspaläste nahm er eine Reihe beschirmter Passanten wahr, welche sich, so dachte er, wie die Fellachen vor den trapezförmigen Gebäudeschatten der monumentalen Glaspaläste verbeugten. "Wie die Fellachen", hörte sich Rohlfs diesen Bruchteil eines Gedankens mit ein wenig kräftigerer Stimme zum Ausdruck bringen, womit er Reich zumindest ein wissendes Schmunzeln abgetrotzt zu haben schien. Wollte er das aber? Vereinzelt fielen Rohlfs am Fuß der Neubauten herumstreunende Männer auf, die deren Glanz keine Beachtung zu schenken schienen. "Ich bin fest davon überzeugt, Rohlfs, dass die für die bauliche Stadtentwicklung verantwortlichen Politiker, Zirkel und Ämter in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren jeden Kredit verspielt haben", erwiderte Reich unvermittelt. "Lassen Sie uns hier die Straßenseite wechseln, Rohlfs! Kommen Sie, kommen Sie! Die Unterführung ist um diese Zeit eine Zumutung, Rohlfs!" Der Regen war indessen stärker geworden und Rohlfs bemerkte wie seine Sachen aufgrund der Nässe immer schwerer wurden. "Soll ich nun die Straßenseite wechseln?", fragte Rohlfs, doch der Doktor reagierte nicht auf seine Äußerung.

Ob dieser Reich wirklich ein Arzt war, wie Rohlfs vermutete? Wenn nicht, dann müsste er doch die Anrede zurückweisen, was er allerdings nie tat. Am Telefon meldete er sich einfach mit "Reich". Wie kam es, dass jemand wie der Doktor sich mit einer solchen Pfeife abwechselte wie diesem kleinen Dicken, den nicht einmal ein Auto ganz verbarg, wo er zu verschwinden versuchte, wenn er hinter ihm herruderte. Überhaupt Dr. Reich! Der meldete sich an, wenn er etwas Besonderes von Rohlfs wollte. Nicht dass er sich immer anmeldete, wie gesagt, er wechselte sich mit dem Dicken ab, aber er war ein ganz anderer Typ. Jetzt direkt neben ihm konnte Rohlfs es sogar riechen, das heißt, man roch ihm den Doktor förmlich an. Obwohl Rohlfs den Dicken niemals gerochen hatte, war klar, der roch, wie Leute eben riechen, zu frisch gewaschen, zu glatt rasiert, nach einer hastig getrunkenen Tasse Kaffee, bevor man zur Arbeit geht. Dr. Reich roch erst einmal gar nicht, dann nach frischer Luft, durch die er seinen Mantel wohl schon eine geraume Weile getragen hatte. Seine Hosenbeine schauten dunkelgrau darunter hervor und stießen auf Schuhe, die auch bei diesem Wetter nicht schmutzig zu werden schienen. Unwillkürlich blieb Rohlfs stehen und bückte sich um sich die Schuhe abzuwischen, nur womit?

Ein Auto fuhr so dicht an ihnen vorbei, sie befanden sich mitten auf der Straße, dass eigentlich ein Unfall hätte passieren müssen, aber offenbar hatte der Fahrer sie so wenig bemerkt, wie es Rohlfs in den Sinn gekommen wäre, dass überhaupt ein Auto kommen könnte. Reich meinte indessen, er sei eben ein guter Schutzengel, wenn Rohlfs es auch nicht glauben wolle. "Doch, doch", meinte der. Irgendwie hatte er das Gefühl durch die kleine Höflichkeit Zeit gewinnen zu können. Warum hatte Reich ihn angerufen? Er wolle die Angelegenheit nicht am Telefon besprechen. Es würde gar nicht lange dauern, am besten käme er gleich auf einen Augenblick vorbei. "Ja", hatte Rohlfs geantwortet und den Mantel angezogen, kaum hatte Reich aufgelegt. Wie immer störte es ihn, dass die Treppe knarrte, aber da war er auch schon zur Tür hinaus. Der Doktor hatte ihm also aufgelauert. Er war nicht einmal bis zu seiner Tür gekommen um festzustellen, dass niemand öffnete!

Sie überquerten den Platz, wo es nach Benzin roch und dessen nasses Pflaster in der Neonbeleuchtung glänzte. Es war noch ziemlich Betrieb. Jemand hatte wohl einen Schlüssel im Tankschloss abgebrochen. "Ich wette, Sie wissen, wie man den Deckel trotzdem aufkriegt", flachste Reich, aber so leise, dass die beiden mit dem abgebrochenen Schlüssel nicht zu ihnen aufblickten. Rohlfs überhörte die Bemerkung, stieß aber mit seinem Begleiter zusammen, als die automatische Glastür sich öffnete, als ob zwei Meter breite Türen nicht breit genug für sie seien! Aber Rohlfs hatte eben doch irgendwie noch einmal über die Schulter zu dem grünen Wagen mit dem kaputten Tankschloss geschaut.

Die beiden alten Leutchen mochten sich diese Stunde zum Tanken ausgesucht haben, weil man nicht lange anstehen musste. Der einzige Wagen vor ihnen war im Nullkommanichts fertig geworden, so dass sie nun vorrollten, an ihren Platz, so wie sie es sich vorgestellt hatten, als sie zum Tanken aufgebrochen waren, am frühen Morgen, wie alte Leute, die, was sie zu tun hatten, beizeiten taten. Der Wagen hinter ihnen, Rohlfs hatte sich überlegt, er könnte die Viertelstunde, um die er zu früh angekommen war, dazu nutzen, rasch an einem Tankautomaten Station zu machen, kam als Schlange, die man stehen musste, weniger in Betracht, sie waren jetzt die einzigen beiden Wagen. Es musste das Fahrzeug vollständig in die Parkposition gebracht werden, was die Frau auf dem Beifahrersitz geduldig abwartete. Nachdem dies geschehen war, sprang die Beifahrertür aus dem Schloss um sich dann in mehreren Schwüngen vollständig zu öffnen, worauf sich schwerfällig, man wusste nicht wie, eine Siebzigerin mit dünnem zusammengebundenem Haar aus dem Wagen wand. Es war ihre Aufgabe, wie sich gleich herausstellen sollte, den wirtschaftlichen Teil des Tankens zu tätigen. Wegen eines Hüftleidens schwer von einem auf das andere Bein wankend bewegte sie sich um das Heck des Wagens, teils damit beschäftigt, ihren missfarbenen Parka daran zu hindern, dass der Wind ihn völlig aufwehte, mit der anderen Hand hielt sie ihre Tasche umklammert. Schließlich war noch die kleine Stufe zur Zapfsäule zu überwinden, bis sie nach einem letzten schweren Schwanken ihren Körper in die Position gebracht hatte, in der sie die weiteren erforderlichen Handlungen verrichten wollte. Aus einer Geldbörse zog sie die Karte, die man in den vorgesehenen Schlitz einführt, wozu sie doch noch ein- oder zweimal gewaltig das Gewicht von der einen auf die andere Körperseite verlagern musste. Inzwischen hatte sich der Mann, wie Rohlfs vermutete, mehr oder weniger auf die gleiche Art aus dem Wagen geschält, denn er litt ebenso wie die Frau an der Hüfte, sodass er gleichfalls in weiten Ausschlägen um seine Körperachse pendelnd die Wege zurücklegte, die ihm sein Teil der Aufgabe den Wagen zu betanken vorschrieb. Eingespieltes Paar, das sie waren, steckte er das Zapfventil richtig in dem Augenblick in den Tankstutzen, als auch die Frau ihre Verrichtungen, mit Bedacht, aber dennoch zügig, getätigt hatte. Um einen Bonus des Supermarktes zu nutzen, war, wenn Rohlfs richtig beobachtet hatte, noch eine weitere Plastikkarte zum Einsatz gebracht, also der Börse entnommen, nachdem die Geheimzahl eingetippt und die erste Karte wieder an ihrem Platz war, in denselben Schlitz eingeführt und wieder entnommen, wohl verwahrt in der Geldbörse und darin in der Handtasche verstaut worden. Rohlfs kannte den Text des Displays "Tankvorgang läuft" und auch die Stimme der Ansagerin, die an allen diesen Stationen dieselbe war. Der Mann, der eine schwarze Lederjacke trug und einen Hut, stand mit dem linken Arm am Wagen abgestützt und hielt rechts das Zapfventil. Bestimmt würde er sehr sorgfältig darauf achten, dass nicht etwa Kraftstoff auf den Lack lief, überhaupt auch dass nichts verschüttet würde, dazu bezahlte man das Benzin schließlich nicht! Man fuhr auch nicht mit dem letzten Tropfen, oder tankte etwa  voll, es sei denn man trat eine Reise an, wonach es in diesem Falle allerdings nicht aussah. So hängte der Mann unter abermaligem vielem Schwanken das Zapfventil recht bald wieder an seinen Platz, nicht ohne umständlich die Anzeige auf der Zapfsäule zu studieren, was auch die Frau tat, die ihrerseits wankend hinter dem Wagen stehen geblieben war. Auch wurde wohl über dieses Thema eine kleine Konversation geführt, wozu noch Gelegenheit war, während der Tankdeckel verschlossen und auch die Klappe richtig eingerastet wurde. In einer Art Choreografie schritten die beiden Alten pendelnd ihren Türen zu, die stehend geöffnet werden mussten, weshalb auch hier wieder umständlich überhaupt Stand zu finden war. Auch im Wagen selber musste noch einiges besprochen werden, bis dann die Lichter angingen und man auf eine Weise unspektakulär davonfuhr, als habe das Autofahren schließlich die beiden dem allgemeinen Gleichmaß wieder völlig einverleibt.

Mit einer wortlosen Geste gab Reich Rohlfs zu verstehen, dass er auf der verschlissenen Bank in der Nische der kleinen Café-Lounge Platz nehmen möge und sein Gast sei. Reich stellte sich in eine Reihe von vier Kunden und Rohlfs bemerkte, dass der kahlköpfige Herr an der Theke, der bereits bedient wurde, in gebrochenem Deutsch weitere Bestellungen aufzugeben im Begriff war, was Rohlfs auf seltsame Weise besänftigte. Er ging mit dem Eindruck auf die Sitznische zu ein wenig Zeit und Abstand zum Doktor gewonnen zu haben um seines einerseits aufgewühlten, andererseits antriebslosen Zustandes möglichst rasch doch noch Herr zu werden, zumal ihm zunehmend bewusst wurde, dass er in den Augen Reichs bereits ein Komödiant sein müsse. Diese Einsicht versetzte Rohlfs indes erneut in Aufruhr, was ihn für einen Augenblick in die Knie zu zwingen drohte. Im stellenweise aufgeschlitzten Kunstlederbezug der Sitzecke hatten sich offenbar mehrere junge Liebende in fetten Edding-Lettern zu verewigen versucht. Rohlfs Augenmerk fiel auch auf die schwungvolle Darstellung eines weiblichen Geschlechtsteils sowie die Rufnummer eines Mobilfunkanschlusses. Erschöpft ließ sich Rohlfs in das Kunstleder fallen, auf dem ihm gleichsam im Fall eine Ketchuplache auffiel, in deren Ausuferungen er unwillentlich seinen linken Oberschenkel drückte. Rohlfs ließ das Malheur geschehen und nahm mechanisch seinen Füllfederhalter sowie sein Notizbuch aus der Innentasche seines feuchten Sakkos.

Aus Lautsprechersystemen strömte auf gerade noch dezente Weise eine Art von Musik, die in Rohlfs' Vorstellung die zahllosen Reklametafeln der Metropolen, in diesem Fall New Yorks, aufblitzen ließ. Von Aura war in dem Stück die Rede und es fiel Rohlfs schwer sich dem Getöse zu entziehen, ja, für einige Zeit schienen ihn die Rhythmen ganz in ihren Bann zu ziehen. Lady Gaga, die von seiner Tochter vergöttert wurde, bauschte sich gewissermaßen in ihm auf und wirkte für einen Moment wie eine ihn für sich einnehmen wollende Göttin. Dea Saturnia, dachte Rohlfs, bis es ihm endlich gelang sie in seinem Bewusstsein langsam auszublenden und bloß eine vage Erinnerung an ein Produkt zurückblieb.

Stattdessen entfaltete sich die Gestalt Sergeant Saeeds dergestalt vor seinen Augen, dass er sich nicht mehr sicher war, ob sie ihm vielleicht sogar tatsächlich gegenüberstand. "Oh well, for God's sake, we all have hard luck sometimes. Realize this reality", hörte er den Iraner sagen, den man im Amt, kurz bevor er endgültig verschwand, auch the plebeian tribune oder the activist nannte. Zweifellos standen sich Rohlfs und Sergeant Saeed auch in solchen Lebensdingen nahe, welche die Bloßstellung und den Kampf gegen die, wie sich Saeed ausdrückte, allgegenwärtige Mediokrität zum Gegenstand hatten. In diesem Land sortiere man aus, sagte Sergeant Saeed oft, was sich nicht leicht einsortieren lasse.

Wahllos öffnete Rohlfs das Buch mit der Absicht seine weitere Vorgehensweise in Stichworten zu skizzieren. Mit diesem Trick, wie er es nannte, glaubte er seine Festigkeit wiederzuerlangen. Für eine Weile wog er sich in Sicherheit. Gerade am Tisch sitzend teilt sie in der Rolle der Richterin, die wie einstudiert wirkt, kaum wahrnehmbare Demütigungen aus. Ihr Gesicht ist verhärmt, ihr überlegenes Lächeln Fassade. Die Erpressung erfolgt in harter Währung. Die Eintragungen des Vortages erinnerten ihn an die unerträgliche Müdigkeit als Grund seines Aufbruchs.

Dem Kahlköpfigen, den Rohlfs als Rumänen identifizierte, war es in der Zwischenzeit gelungen für seine Bestellung verständliche Worte und Gesten zu finden und Rohlfs stellte fest, dass die Wartenden offensichtlich zusammengehörten und die Verkäuferin jetzt die Bestellung Reichs aufnahm. Die Reisenden bewegten sich auf eine Tischgruppe in der Nähe Rohlfs' zu und der Kahlköpfige äußerte sich in barschem Ton über die Verkäuferin, was Rohlfs aufgrund seiner Sprachkenntnisse nicht entging. "Parcă e aşa dificil să înţeleaga, dobitoaca dracului! Mă trateaza ca un prost in faţa lumii, nemţoaica asta nesimţită." Ein Mann, ein Tablett balancierend, schritt vorüber, anfangs der Sechziger, mit weißem Haar, das er glatt zu einem Zopf zusammengebunden trug. Er blickte herausfordernd um sich, ob er etwa einiger Missbilligung gewahr würde angesichts des provozierenden Äußeren, das er zur Schau zu tragen glaubte. Rohlfs kam hierfür offenbar nicht in Betracht, wie er in seiner unscheinbaren Angepasstheit, aber auch tatsächlich völlig ohne jedes Engagement zu dem Mann hin und dann hinter ihm vorbei zu anderen Kunden und Gästen der Cafeteria sah. Wer hätte auch weiter Notiz von dem Mann nehmen sollen, der, von den Haaren, die dieser vor fünfundvierzig Jahren einmal sehr zum Schrecken seiner Eltern und gar seiner Großeltern ebenso lang, aber offen getragen haben mochte, seinerseits sicherlich inzwischen Großvater, darüber hinaus völlig so aussah, wie Sechzigjährige eben aussehen: sein mittelgroßer, runder Bauch hing über den Bund einer ausgebeulten Baumwollhose, die Schuhe waren breit und hatten schon längere Zeit keine Schuhbürste mehr gesehen. Sein kariertes Hemd ließ am Hals ein amerikanisches T-Shirt sehen, an einer schwarzen Schnur hing eine Lesebrille auf seine Brust herab, deren ebenfalls weißes Haar sich aus dem Bund des Unterhemdes hervorkräuselte. Tatsächlich, einen Großvater hätte man sich ohne den aufrührerischen Zopf gedacht; aber die Gäste einer solchen Cafeteria wollten sich nichts bei einer derart harmlosen Erscheinung denken. Sie würden sich auch bei den Enkeln dieses Großvaters nichts denken, die sich Rohlfs einen Augenblick lang vorstellte, wie sie am Tresen Geldbörsen aus der Gesäßtasche übergroßer Jeans zogen, die mit groben Ketten am Hosenbund befestigt waren. Trug man übrigens noch Ohrringe, Ohrstecker und dergleichen? Rohlfs, der selber vor dreißig Jahren einmal in einer späten Anwandlung eine Weile lang einen solchen Ring im linken Ohr getragen hatte, überlegte, wen er kannte, der noch einen solchen Stein einstigen Anstoßes auf die gleiche Weise trug wie der rüstige Greis sein langes Haar. Allenfalls Tattoos, aber wer weiß, ob sich diese Kids noch den Unannehmlichkeiten von Tätowierungen zu unterziehen bereit waren.

Nun musste ja Reich so langsam auch einmal aufkreuzen mit seinem Tablett. Warum machten sie eigentlich nicht wenigstens die Tische mal sauber? Rohlfs war drauf und dran an der Theke einen Lappen zu verlangen, oder am besten gleich einen Eimer mit Wischwasser und so weiter, was aber angesichts der Warteschlange am Tresen nicht in Frage kam. Wer hätte den Unterton seiner Forderung auch nur verstanden? Nicht dass er wirklich auf ihn gewartet hätte, aber wo blieb eigentlich Reich? Während er sich umblickte, musste Rohlfs ungeschickterweise den Rest Milchkaffee, oder was es war, mitsamt der Zigarettenasche und was sonst noch auf dem Tisch zurückgelassen worden war, mit seinem Ärmel weggewischt haben. Was hieß weggewischt? Sauber war der Tisch ja auch jetzt keineswegs, aber er fühlte die Nässe durch den Ärmel seines Jacketts hindurch. Das Gelächter der Rumänen ein paar Tische weiter hatte nichts damit zu tun, aber man hört andere nicht gerne lachen, wenn man sich gerade ärgert. Tatsache war, dass Reich eben immer noch nicht kam. Sollte er zu einem anderen Tisch gegangen sein und seinerseits dort auf ihn warten? Was, wenn er eine Runde durch die Cafeteria drehte um einmal nachzusehen und Reich ihn doch an dem Platz suchte, von dem er dachte, es sei der gewesen, den Reich meinte, als sie kamen.

Rohlfs beschloss erst einmal abzuwarten und notfalls in seinen Notizen nachzulesen. Sein Blick fiel gleich auf die Richterin, und er fragte sich, wie sie die Lage beurteilen würde. Streng, wurde ihm klar. Eine weitere Demütigung wollte er auf keinen Fall hinnehmen. Darum entschied er sich für das Verlassen des Platzes, aber er würde Reich nicht an den Tischen suchen, sondern gleich den Weg zur Toilette einschlagen und ihn dort, noch dazu in einer überaus peinlichen Situation stellen, nämlich mit dem Tablett. Der Kaffee konnte höchstens noch lauwarm sein. Rohlfs war gespannt, wo man überhaupt auf der Toilette dieser Tankstellencafeteria ein Tablett mit zwei Tassen Kaffee abstellen konnte.

Wie immer in aufregenden Situationen breitete sich in seinem Mund ein metallischer Geschmack aus, was aber auch bedeutete, dass Rohlfs sein Medikament nicht vergessen hatte einzunehmen und ihm somit das Gefühl gab alles im Griff zu haben.

Jetzt noch das Zeichen, und er konnte sich auf den Weg machen. Er nahm einen Zahnstocher aus der Halterung und fuhr damit durch den Ketchupfleck. Die Tatsache, dass der Ketchup schon etwas eingetrocknet war, erleichterte die Sache. Es war zwar nicht wichtig, dass es dauerhaft sei, aber um als Zeichen zu gelten musste es einem Gegenstand aufgezwungen werden. Rohlfs war dann auch zufrieden, gleichgültig, was die Suche nach dem Doktor nun ergeben würde.

Auf dem Weg zum Waschraum hielt Rohlfs für einen Moment inne und spielte mit dem Gedanken, ob er sich nicht einfach den Rumänen anschließen sollte. Zumindest wollte er sie fragen, ob sie nicht vielleicht einen Mitfahrer aufzunehmen bereit wären; selbstverständlich würde er sich an den Fahrtkosten beteiligen. Jedes Ziel sei ihm recht, gleich ob man ihn in Arad, Oradea, Cluj, Timisoara, Bukarest, Vaslui oder Iasi absetzte. Ein flüchtiger Blick durch das große Schaufenster auf die leuchtenden Farben des Kennzeichens, den roten Rand mit dem Ablaufdatum des Vertrages sowie die sechsstellige Zahl nach dem Bezirkskürzel des blauen Kleinlasters, der auf dem Parkplatz der Tankstelle geparkt worden war, ließ erkennen, dass es sich um ein Leasingfahrzeug aus Bukarest handeln musste. Es konnte keinen Zweifel daran geben, dass sich die Insassen des Fahrzeugs in seiner Reichweite befanden.

Zunächst aber gab Rohlfs dem Drang nach sich frisch zu machen und öffnete alsbald die Schwingtür zum Waschraum. Erst der kühle Wasserstrahl auf seiner Haut verhalf ihm zu der Erkenntnis, dass er sich nicht weiterhin verbiegen lassen dürfe. Wiederholt warf er sich Wasser ins Gesicht und riskierte schließlich die Konfrontation mit seinem Spiegelbild, das ihm sein schütteres Haar, seine blassblauen Augen sowie unzählige Ketchupschlieren in seinem Bart vor Augen führte, die sich unbemerkt auf seinen Handballen festgesetzt haben mussten. Ein Gefühl von Scham überkam ihn sowie die Einsicht, dass er in diesem Zustand niemandem gegenübertreten könne. Glücklicherweise war er allein im Waschraum und er beschloss in eines der nahegelegenen Pissoirs zu urinieren. Die geöffnete Tür einer WC-Kabine hielt ihn jedoch von seinem Vorhaben ab, denn er glaubte auf ihr die Handschrift des Edding-Künstlers wiederzuerkennen. Rasch schloss er die Tür von innen und begann die Zeichen zu studieren. Zu den Göttern ist es von überall her gleich weit. Der Satz versetzte ihn augenblicklich in helle Bewunderung. Unterhalb des Schriftzuges befand sich die gleiche Rufnummer des Mobilfunkanschlusses, die ihm auf dem Kunstlederbezug der Sitzecke aufgefallen war, sowie der Name Lucy, den er zusammen mit der Rufnummer umgehend in sein Notizbuch eintrug. Für einen Moment hielt er nachdenklich inne und schrieb schließlich mit wachsendem Vergnügen den Satz in sein Buch. Nach vollbrachter Arbeit verstaute er die Utensilien in seinem Sakko, öffnete den Gürtel seiner Hose und ließ sie bis in die Kniekehlen fallen. Schnell war Rohlfs auch von seiner Unterhose befreit und sank laut aufseufzend tief in das WC-Becken hinein. Er wusste, dass er Lucy alsbald anrufen würde.

Das Notizbuch drückte ihm störend, beinahe die Erinnerung an den einstigen Schmerz wieder hervorrufend, gegen die Rippen, die er sich, so glaubte er, inzwischen im Abstand von einem Jahr stets von neuem prellte, sodass er es rasch aus der Innentasche seines Sakkos nahm um es zärtlich für eine Weile in seinem Bart zu reiben. Im Verlauf dieses Rituals, denn als solches pflegte er diese Handlung zu betrachten, begann er die ersten Takte des Schlagers Dedicated to You zu summen, dessen Worte er vor vielen Jahren auf der ersten Seite des Notizbuchs eingetragen hatte. Das Buch, eine solide und feine Buchbinderarbeit, von klarer und schnörkelloser Gestaltung, enthielt auf etwa tausend dünn gedruckten Seiten das meiste von dem, was Rohlfs bemerkenswert erschien. Schließlich intonierte er das Lied kaum hörbar und wählte gleichzeitig mit dem Fingernagel eine Stelle, die er Lucy vorlesen wollte, als ihn lauter werdende Schritte aufschreckten. Das Geräusch eines urinierenden Mannes ließ ihn erstarren, sodass er tiefer bis hinein in das kühle Nass des WC-Beckens eintauchte, als ob dieses ihm Schutz bieten könne. Erst der Gesang des Mannes beim Händewaschen beruhigte die Panik, die plötzlich in Rohlfs aufgestiegen war, ein wenig. "Cine te-a făcut pe tine, Tudoriţo, nene. Aşa-nalta şi subtire, Tudoriţo, nene. Parca m-am intrebat pe mine, Tudoriţo, nene. Parca m-am intrebat pe mine, Tudoriţo, nene. Şi, Tudoriţo, sa-ţi spun drept, Tudoriţo, nene, mi-ai făcut o rană-n piept, Tudoriţo, nene, da nu e rană de cuţit, Tudoriţo, nene, ci e rană de iubit, Tudoriţo, nene." Mit dem langsamen Verschwinden des Gesangs schwand auch die Hoffnung Rohlfs sein jetziges Territorium jemals wieder zu verlassen. Noch immer steckte der Nagel seines Fingers in seinem Notizbuch, während sein Gesäß im Abwasser des WC-Beckens badete.

Rohlfs erinnerte sich, wie er einen Teil der Manuskripte seines Großvaters in mühsamer, langjähriger Arbeit sorgfältig in sein Notizbuch übertragen hatte.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen