Samstag, 20. Juni 2020

Z. Z. VIII [»Quaderno. Aufzeichnungen in den U.S.A.« von Julian T. D. Gärtner]




["Willkommen in Clifton Heights", Julian T. D. Gärtner (2016)]



Reality is that which, when you stop believing in it, doesn't go away. [Philip K. Dick »I Hope I Shall Arrive Soon« (1980)]

Baynes regarded the man for a time. He felt, strongly for a moment, the unbalanced quality, the psychotic streak, in the German mind. Did Lotze actually mean what he said? Was it a truly spontaneous remark?
"I hope we will see one another later on in San Francisco," Lotze said as the rocket touched the ground.
"I will be at loose ends without a countryman to talk to."
"I'm not a countryman of yours," Baynes said. [Philip K. Dick »The Man in the High Castle« (1962)]






25.09.2016 Cincinnati, Over-the-Rhine


Der Rhein liegt am Fuße des Mount Auburn in Cincinnati. Während meine Bekannte versucht, uns mit dem Wagen durch den Feierabendverkehr zu manövrieren, beuge ich mich vom Beifahrersitz halb aus dem Fenster, um mit dem Smartphone endlich ein Foto vom Rhein zu knipsen. Over-the-Rhine ist ein etwas nördlich der Innenstadt gelegener historischer Stadtbezirk. Zwar hatte ich schon gelesen, dass sich dort im 19. Jahrhundert eine größere Anzahl an Personen aus den deutschen Kleinstaaten angesiedelt hat. Aber ich war buchstäblich auf dem falschen Dampfer mit meiner Vermutung, der Name des Stadtvierteles beziehe sich auf den Fluss Rhein. Ohne es zu merken, war ich bereits einige Male über den sogenannten «Rhein» spaziert. Tatsächlich bezieht sich der Name auf den Miami-Erie-Kanal, der nicht nur die Grenzen des deutschen Viertels markiert hat, sondern die Großen Seen im Norden mit dem Ohio verbunden hat, etwa um deutsche Brauereien mit Eisblöcken für ihre Kühlkeller zu versorgen. Man kann sich Cincinnati zu dieser Zeit als Dreh- und Angelpunkt für die Passagier- und Handelsschifffahrt vorstellen, vergnügte Unterhaltungen von Ausflüglern, das Klatschen der Räder und den Rauch der Schornsteine der Dampfschiffe, das geschäftige Treiben der Menschen auf der Landungsbrücke, den hellen Klang der Kirchglocken und das leise Ziehen der Wolken. Der Bahnhof von Cincinnati konnte über 200 Züge abfertigen und auf dem Ohio bis zum Mississippi fuhren zeitweilig über 700 Dampfschiffe über Pittsburgh, Louisville, Memphis und New Orleans. Das Dampfschiff ist die Vignette der europäischen Moderne, aber es ist ein Schiff mit Schlagseite. Der Amerikareisende Friedrich Gerstäcker schreibt 1856 über die widrigen Umstände der deutschen Einwanderer in Cincinnati: «Etwas aber ist, was so vielen, ja man könnte sagen fast allen Deutschen den Anfang einer zu gründenden Existenz erschwert: die zu großen Erwartungen, mit denen sie gewöhnlich das neue Vaterland betreten. Durch Briefe oder Reisebeschreibungen von dem schnellen, fast fabelhaften Glückswechsel Einzelner in Kenntniß gesetzt, malt sich ihre Phantasie die dortigen Verhältnisse mit den buntesten, heitersten Farben aus; das Wenige, was von Noth und Sorgen von den getäuschten Erwartungen und vernichteten Hoffnungen zu ihnen herüberdringt, verliert durch die große Entfernung die scharfen, schroffen Conturen, wird gemildert oder tritt vielleicht ganz in den Schatten zurück; kein Wunder denn, daß Viele, nach kurzem Aufenthalt in Amerika, von dem sie oft nur eine der östlichen Städte gesehen haben, das erste heimwärts segelnde Schiff benutzen, in altes Vaterland zurückzukehren, und nun nicht sich selbst, sondern das Land anklagen, das so war, wie es einmal ist und nicht wie sie es sich dachten.» Viele deutsche Auswanderer kamen auch als bonded servants, arme Teufel, Schuldner und Bankrottiers aller Art, die bereit waren, jede Art von Knebelvertrag mit ihrem zukünftigen Arbeitgeber zu unterzeichnen im Gegenzug für die Übernahme der Fahrtkosten. Einmal in den USA mussten sie einige Jahre bei Kost und Logis eine Art Leibeigenschaft aushalten, bis sie ihre Knechtschaft endete und sie auf sich allein gestellt weiterziehen durften.
Heute ist der Miami-Erie-Kanal längst versiegelt und vom Central Parkway überdeckt. Der Verkehr stockt immer wieder und aus dem Autofenster erkenne ich rostige Wassertürme auf den Dächern verlassener Lagerhäuser, überdimensionale Reklametafeln für eine Rechtsberatung und Telefonseelsorge, die aufgelöste Ordnung von LKW-Parkplätzen und Kabelrollen, die wie Lassos von den Strommasten hängen, dann etwas weiter in der Ferne das erodierende Eisenbahnviadukt und die Gleisanlagen. Der Central Parkway mäandert zum Union Terminal, dem ehemaligen Hauptbahnhof mit der großen Uhr in der Fensterfront. Nach dreißigminütiger Fahrt erreiche ich eine Tiefgarage, in der es nach Abgasen und verbranntem Gummi riecht. Vielleicht ist der aufgeschüttete und asphaltierte Rhein ein gutes Bild für den amerikanischen Traum der Deutschen, der in Cincinnati in mehreren Metern Tiefe begraben liegt.



["Die Berliner Mauer vor dem National Underground Railroad-Museum"]



15.09.2016 Cincinnati, Berliner Mauer


Im National Underground Museum erfahre ich etwas über die Geschichte von Harriet Tubman, einer afroamerikanischen Frau, die sogenannte runaways mit einem Boot über den Ohio brachte. Er ist nicht nur die natürliche Grenze, sondern markierte auch die Trennung zwischen dem slave state Kentucky auf der einen und dem free state Ohio auf der anderen Seite des Flusses. Die Übersetzung von geflüchteten Sklavinnen und Sklaven war ein gefährliches Unterfangen. Oft wurden sie von Vormännern, Aufsehern mit Gewehren und Hetzhunden bis in den Norden verfolgt. Auf Grundlage des Fugitive Slave Law konnten Sklavenhalter sie auch gewaltsam zurückbringen oder vielmehr zurückentführen lassen. In den Plantagengesellschaften des Südens galten Sklavinnen und Sklaven sozusagen als ,bewegliches Gut‘. Sie waren darum auf die Underground Railroad angewiesen, ein informelles Netzwerk aus Privatleuten, die aus verschiedensten Gründen Sklavenhandel und Sklaverei ablehnten und Unterstützung leisten wollten. Die safe houses waren durch Kerzen oder geheime Zeichen markiert, wo sie Unterschlupf und Nahrung fanden. Oft hatten die geflüchteten Menschen bereits Wege aus der Karibik, dem Golf von Mexiko oder den Südstaaten hinter sich gebracht und mussten dann noch zu Land oder zu Wasser bis nach Kanada gelangen. Im Black History Month wird Harriet Tubman oft zusammen mit Rosa Parks und Angela Davis genannt. Vor dem Gebäude des Museums steht ein Stück der Berliner Mauer. Es ist bemerkenswert unauffällig, ein grauer Sockel, der weiße Stahlbeton und eine dunkelgraue Kappe, mehr nicht. Auf der anderen Seite sind bunte Schmierereien: eine rot schraffierte Wellenlinie, hellblaue Bruchstücke und ein gelber Kreis. Ich gehe um die Mauer, berühre die Mauer und rieche die Mauer. Kurzzeitig bin ich in Bezug auf die Mauer. Überall sind daran sind Kameras angebracht. Kann man die Flucht aus der DDR und aus den Südstaaten wirklich gleichermaßen unter einem struggle for freedom verbuchen, wie es das Museum nahelegt? Wäre es angemessen, eine ähnliche Fluchtgeschichte für die DDR zu schreiben oder sogar einen GDR-Refugee History Month für die Grenztoten einzuführen?  Ich sehe die Roebling Bridge, die sich über den Ohio erstreckt. Die Autos machen bedrohliche Rattergeräusche auf ihrem Weg nach Covington in Kentucky und zurück. Freiheit ist eine janusköpfige Kreatur, die nach Asbest riecht. Sklaverei und der Rassismus sind Stachel im Herzen der USA und eine nachwirkende Blutvergiftung.
Menschen spazieren über die Flusspromenade, links steht der Queens Tower und rechts das Stadion der Bengals. Es sind 91 Grad Fahrenheit oder 33 Grad Celsius heute. Ein Mann in Polohemd und Sonnenbrille lässt für 12$ sein Auto parken. Auf der anderen Straßenseite steht ein schwarzes Mädchen, das Leute, die vom Mittagessen im Pierrestaurant kommen, um Geld anbettelt. In Colson Whiteheads Roman The Underground Railroad lese ich später: »Freedom was a thing that shifted as you looked at it, the way a forest is dense with the trees up close but from the outside, from the empty meadow, you see its true limits. Being free had nothing to do with chains or how much space you had.«


26.09.2016 Cincinnati


Das Oktoberfest in Cincinnati zieht jährlich über eine halbe Millionen Besucherinnen und Besucher an. Es ist das größte Oktoberfest der USA und das fünftgrößte der Welt. Eine Veranstaltung schrecklichster Art, denke ich mir noch im Auto meines Freundes, als wir uns der 2nd und 3rd Street nähern. «C‘mon! It‘s gonna be fun, man!», redet mir Frederick vom Fahrersitz zu, während das Büschel Gamsbart seines Filzhutes irgendwie vulgär über die Kopflehne pinselt. Er hat sich zu einem waschechten Bajuwaren herausgeputzt: kariertes Hemd, Wadenwärmer, Haferlschuhe und dazu natürlich die krachlederne Hose, die schon ganz speckig glänzt. «I can’t believe you forgot to bring your lederhosen!» Ich schwöre Freddy, dass ich gar keine besitze und versuche ihm die eigentümliche Beziehung zwischen dem Freistaat Bayern und dem Rest Deutschlands zu erklären, das Unbehagen an der Volkskultur, die Preußen etc. – es ist ein zweckloses Unterfangen. In Cincinnati hat man das Oktoberfest 1976 eingeführt, mehr als anderthalb Jahrhunderte nach dem ersten Oktoberfest in München. Es ist eine Art ethnisches Revivalfest, das sich durch Hausmannskost, Blasmusik und Trachtenoutfits markiert, freilich unter amerikanischem Vorzeichen. Auf einem knalligen Banner steht in Frakturschrift Oktoberfest Zinzinnati – unausstehlich mit zwei Z, wie man es mit grobem Akzent aussprechen würde. Geht das Münchner Oktoberfest ursprünglich auf die Pferderennen von Kronprinz Ludwig zurück, bildet den Auftakt hier jedenfalls The Running of the Wieners, das traditionelle Hunderennen. Einhundert als Hotdogs verkleidete Dackel laufen um die Wette. Dackel, die auf Amerikanisch dachshunds heißen, jagen mit ihren langen Ohren und kurzen Beinen über die zwanzig-Meter-Bahn. Es ist nur der Anfang einer Reihe von Gemutlichkeit Games.
Etwas weiter am Ufer des Ohio River hat man Food Trucks und Fresszelte aufgestellt. Ich war noch nie auf den Münchener Wiesn (und beabsichtigte nebenbei gesagt nicht, das in naher Zukunft zu ändern), aber in Cincinnati ist das Oktoberfest eher ein Streetfood-Festival. Überall steigt der leicht verbrannte Geruch von Würsten und anderen Sauereien auf: Grütz-, Mett- und Bratwurst gibt es hier, dann Butterbretzen mit süßem Senf, Kartoffelpuffer und Sauerkrautbällchen – eine kulinarische Leistungsshow. Das Oktoberfest fügt sich gut in die übrigen Fressfeste des Landes ein, dem Hummerfestival in Maine, dem Chilifest in Texas oder dem Maisfest in Kalifornien. Frederick drückt mir ein Maß Bier in die Hand, selbstverständlich im Plastikbecher: »Prost!«, ruft er mir zu, »See, man, you‘re the only one wearing jeans, t-shirt and basecap!« Er hat Recht. Um mich herum bummeln hunderte Amerikaner in bajuwarischer Bekleidung. Ist das die Rache für Karl May? Sie genießen es sichtlich, sich unter freiem Himmel am Festbier zu berauschen, das aus den Kesseln der lokalen Brauereien kommt. Von der Bühne spritzt man Bier. Der Fun ist eine Bierdusche. Dort oben stimmt ein kleingliedriger und beleibter Amerikaner den Wechselgesang an «Zicke zacke zicke zacke!» und um mich herum ruft es einstimmig zurück – ich ahne es schon – «hoi hoi hoi!» bis danach wieder die Blaskapelle einsetzt und die Menschen auf Gartenmöbeln zu schunkeln beginnen. Ich kippe schnell das süßlich-schale Bier herunter. Vor der Stadtlandschaft Cincinnatis, dem Baseballstadion der Reds, der Hängebrücke oder dem Queens Tower nimmt sich dieser Kitsch einigermaßen merkwürdig aus. Auf dem Weg zum Fountain Square mischt sich der Geruch von Erbrochenem in die Luft. »Ein Prosit, ein Prosit der Gemütlichkeit«, schallt es durch die Häusertäler. Die Bronzestatue des Genius des Wassers wurde in der Schwesterstadt München gefertigt und ihr liegt eigentlich ein Abstinenzgedanke zugrunde. Um das Rund des Brunnens lassen tausende Menschen jetzt die Schwarte krachen. Sie tanzen den Chicken Dance zur Akkordeonmelodie des Ententanzes. Dazu formen sie mit den Händen einen Schnabel, schlagen mit den Armen wie mit Flügeln, gehen im Watschelgang im Kreis umher und lassen den Vogel mit gestreckten Armen aufsteigen. So habe ich mir den melting pot nicht vorgestellt. In einem Exzess der Lachkultur werden soziale Beziehungen zwischen Menschen überschritten, zwischen schwarz und weiß, arm und reich, Ernst und Spaß sowie Lachendem und Verlachten – mit entlastenden und subversiven Wirkungen für eine verkrampfte Gesellschaft kurz vor den Präsidentschaftswahlen.



["Ride The Champ! Einen Quarter für einen Ritt"]



01.10.2016 Cincinnati


Auf der Essen Straße in Cincinnati rollen Verkäuferinnen und Verkäufer die bunt gestreiften Markisen über den Auslagen aus: Blumenbouquets, Obst und Gemüse aus lokalem Anbau werden hier verkauft. An den gusseisernen Laternen hängen kleine Nationalfahnen mit Willkommensgrüßen. Die grellorange Fassade des Saigon-Supermarkts lässt ihn wie eine Pagode oder eine Ladenattrappe aus Bert Brechts Mann ist Mann wirken. Aus dem Fenster winkt mir eine freundliche Manekineko-Katze zu. Der Findlay Market ist ein Lebensmittel- und Spezialitätenmarkt im nordwestlichen Teil von Over-the-Rhine, ein längliches und niedriges Gebäude mit prismaförmigem Dach, auf dem ein Schild mit einer großen Tomate darauf steht – es sieht ein bisschen aus wie der Crystal Palace. Doch anders als auf der Great Exhibition in London werden hier keine naturwissenschaftlichen, technischen oder kulturellen Innovationen vorgestellt, sondern es geht vor allem um den kulinarischen Schmaus. Durch die Fronttür betrete ich Findlay Market und stehe sofort in einer Traube von Menschen, die vor den Theken stehen. In einer Auslage liegen tiefgelber Cheddar aus England, blassweißer Gruyère aus der Schweiz und Blauschimmelkäse aus Frankreich aufgestapelt in Vierteln und Hälften. Daneben umzingeln Menschen eine Theke, die Fleisch- und Geflügelwaren auf dem Präsentierteller anbietet – rosige Aussichten. Daneben liegen mit Preisschildern etikettiere Fische und Meeresfrüchte, Wolfsbarsch, Regenbogenforellen und Rote Schnapper mit offenen Mäulern und Augen. Es riecht nach Salzwasser. Im Foyer von Findlay Market werden Pierogis, Jamabalaya und Clam Chowder gekocht. Eine Familie mit Kinderwagen isst Hummer aus Maine, eine Delikatesse, mit Plastikbesteck von Styropor-Tellern. Aus Hunger ist Esssucht in der Überflussgesellschaft geworden. Unter der Decke, ein flaches Dach, das von einer Konstruktion aus rotbemaltem Eisen getragen wird, hängen Dampfschwaden wie aus Claude Monets Ölgemälde Gare Saint-Lazare. Dort kündigt der blaue Dampf nicht nur einfach die Einfahrt eines Zuges an, vielmehr im weiteren Sinne die industrielle Revolution mit dem Versprechen, denen, die in der Mängelgesellschaft Hunger leiden müssen, Abhilfe zu verschaffen.
Vor der Einkaufshalle höre ich das ungestüme Allegro Vivace aus Rossinis Wilhelm Tell, diese albern-galoppierende Melodie, die bei Verfolgungsjagden in Filmen eingespielt wird. Dort steht eine Familie mit ihren Kindern an einem Fahrautomaten, einem kleinen Rennpferd. Es ist ein schöner Schecke mit Sattel und Zaumzeug, ein zartbraunes Metalpferdchen mit weißen Flecken und schwarzen Hufen. «RIDE THE CHAMP» heißt es auf dem Podest, auf dem das Pferd – gehalten von zwei Stäben – auf und ab ruckelt. Nicht alle Kinder scheinen zu glauben, dass das Glück der Welt auf dem Rücken der Pferde liegt. Ein übergewichtiger Junge in der Latenzphase quengelt seinen Vater um einen Quarter an. Der aber steht mit der Kappe im Gesicht schweigend daneben, bis die Mutter schließlich genervt eine 25 Cent berappt und in den Schlitz schmeißt – weiße Mittelschicht. Wohl in der Vorstellung, sich in einen Cowboy, Rodeoreiter oder Jockey zu verwandeln, nimmt der viel zu schwere Junge den Champ an die Kandare und schwabbelt freudig sabbernd gegen das Allegro Vivace von Rossini an. Findlay Market hat viel mit einem gestörten Verhältnis zu diesem Versprechen zu tun, das längst nichts mehr mit der Befriedigung tatsächlicher Bedürfnisse oder gar Sättigung zu tun hat, sondern Bedürfnisse nur noch gesteigert werden, wenn man ihnen entspricht.


13.10.2016 Nashville, Belle Mead Plantation


Unter großen, schattenlosen Bäumen erhebt sich das Hauptgebäude der Belle Mead Plantation. Vor dem Seitenflügel deutet eine Frau im Reifrock einer Gruppe Touristen den Weg ins Innere des Wohnhauses, bis sie durch die Blumenbeete selbst nachfolgt. Im Flur hängt ein opulenter Rahmen mit einem vergilbten Ölgemälde. Es ist die etwas ungelenke Darstellung eines Pferdes mit Stallmeister. Der dunkelbraune, nur schulterhohe Hengst steht mit schlanken Läufen und muskulösen Schenkeln nahezu unbewegt vor einem idealisierten Weidegrund und daneben genauso starr der Werter dieses Rennpferdes. Das Gemälde zeigt statt Jockey oder Besitzer den Züchter, denn schon zur Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges befand sich auf der Plantage ein renommierter Zuchtstall. Heute verweist man gerne auf die Abbildung von Bob Green, dem schwarzen Stallmeister, dem man geradezu die Begabung eines Pferdeflüsterers nachsagte. Der längliche Körper des Tieres nimmt einen Großteil des Bildes ein, wohingegen Bob Green nur etwa ein Drittel der Leinwand bleibt. Er trägt Berufskleidung, hat einen hohen Hut in die Stirn gezogen und eine Schürze umgebunden. Die Ärmel seines hellblauen Hemdes sind hochgekrempelt und er hält das Zaumzeug in der einen Hand, während er mit der anderen zum Maul des Zuchthengstes reicht – Fleiß und Arbeitsamkeit werden hier betont. Die Zusammenstellung des Portrait of Bonnie Scotland – so der Name des Pferdes – & Robert Green (in dieser Reihenfolge) wirkt reichlich artifiziell, wie aufgestellt. Hatte ich mich am Anfang noch gewundert, dass es überhaupt die Darstellung eines Sklaven geben würde und dann noch an so prominenter Stelle des Herrenhauses, konnte ich mich nun des Eindrucks nicht erwehren, dass Pferd und Zuchtmeister auf gleiche Weise die Produktivität der Plantage illustrieren sollten. Auf Belle Mead nennt man Bob, eigentlich Robert, Green in häuslicher Zuneigung auch «Uncle Bob». Auf kritische Fragen versichert die Biedermeierdame immerzu mit der Schute wippend «musta been a real character». Während die anderen Besucher die knarzende Treppe bemühen, um ihren Rundgang fortzusetzen, sehe ich mich in der unteren Etage des Hauses um. Vor dem Fenster sehe ich den Staub von der Decke rieseln und Schatten sich zwischen den Teppichläufern und Brettern des oberen Stockwerkes bewegen. Hinter dem Schreibtisch ziehe ich ein Buch aus dem Regal, das nicht einmal ganz aufgeschnitten ganz fadenscheinig geworden ist. Es ist hauptsächlich Gebrauchsliteratur, einige landwirtschaftliche, botanische und musikalische Werke – nichts, was mein Interesse wecken könnte bis auf Bartram’s Travels: «We now rise a bank of considerable height, which runs nearly parallel to the coast, through Carolina and Georgia; the ascent is gradual by several flights or steps, for eight or ten miles, the perpendicular height whereof, above the level of the ocean, may be two or three hundred feet (and these are called the sand-hills) when we find ourselves on the entrance of a vast plain, generally level, which extends west sixty or seventy miles, rising gently as the former, but more perceptibly. This plain is mostly a forest of the great long-leaved pine (P. palustris Linn.) the earth covered with grass, interspersed with an infinite variety of herbacious plants, and embellished with extensive savannas, always green, sparkling with ponds of water, and ornamented with clumps of evergreen, and other trees and shrubs, as Magnolia grandiflora». Für einen Moment verliere ich mich in Bartrams gleichermaßen naturkundlichen wie poetischen Beschreibungen, die genauso langatmig sind wie der eigentliche Aufstieg zur Aussicht über die südlichen Landschaften Carolinas und Georgias. Als mich die Führerin zusammen mit den anderen Besuchern aus dem Gebäude komplementiert, lässt sich im angrenzenden Laubengang gerade ein Hochzeitspaar ablichten. Man könne im Restaurant noch etwas essen und auch eine Flasche vom hauseigenen Weingut erwerben. Ich hänge noch diesem Wort nach, magnolia grandiflora, und stehe blinzelnd im Garten vor der weißen Fassade des Landguts.


14.10.2016 Lynchburg, Tennessee


Ahornbäume lassen blassgelbe Blätter auf den Seitenstreifen gleiten. Die Landstraße von Nashville nach Lynchburg führt mich anderthalb Stunden um enge Hügelkuppen und über fahle Graswiesen, durch eine ländliche Gegend, in der eine subtile Feindlichkeit liegt. Ich komme vorbei an größeren Farmen, auf denen behelfsmäßig zusammengezimmerte Scheunen stehen, mit morschen Zäunen und ohne Gatter. Aus den Kaminen abgeschiedener Häuser steigt kalter Rauch auf. In ihren Auffahrten stehen leere Blechbriefkästen und große Pick-Up-Trucks drehen der Straße den Rücken zu. Auf einem losen Sticker heißt es «Heritage not Hate» über der Pritsche. Die Destilliere von Jack Daniel liegt etwas außerhalb von Lynchburg, einem Ort mit einem dieser Schilder, auf dem die Einwohnerzahl steht. Es sind nicht mehr als 300. Die Destille präsentiert sich als ausladende Südstaatenvilla mit Terrasse in einem dry county, also einem Landkreis, in dem Alkohol überall sonst verboten ist und das auch vor der Prohibition war – man meint es also durchaus ernst damit. «Good afternoon», herzt mich die Dame im Eingang des Herrenhauses an und erklärt mir, dass die Führung sich verspäte und ich mich wie ein alter Freund auf der Terrasse niederlassen solle, «So sorry. Make yourself at home, sweetie.» Gentleman Jack muss es irgendwie geschafft haben, sich besondere Rechte für sein Grundstück auszuwirken. Jedenfalls geht eine Bedienung mit einem ganzen Tablett bernsteinfarbener Whiskeyshots umher und füllt die aufgedunsenen Besucher ab, die sich ihre Bäuche in den Schaukelstühlen wiegen – Southern hospitality ist eben alles. Es sind so viele Leute, dass man meint, der ganze Ort und ein Teil des Landkreises seien vertreten: arme und wohlhabende, junge und alte, unerfahrene und fortgeschrittene – überhaupt insgesamt – ausgesprochen begeisterte Säufer. Im hinteren Teil des Geländes steht die Destilliere wie ein zerbeulter Blechbriefkasten zwischen Zuckerahornbäumen. In Lynchburg habe ich noch den unangenehmen Geruch von Maische in der Nase. Der Ort selbst besteht aus nicht mehr als ein paar Läden an einem Brettersteg, vor dem die Leute ihre Autos parken, um Konföderierten-Merchandise zu kaufen oder im Restaurant zu essen. Dort serviert man pulled pork burger mit Bohnen, der so ähnlich wie pfälzischer Rollbraten schmeckt, nur mit BBQ-Sauce. Das isst man bestimmt zum Ausnüchtern, denke ich, bis ich einen Mann am Nachbartisch beobachte, der sich Kodein über die Eiswürfel in seinem Refill-Becher träufelt. Als ich um «French Fries» statt Bohnen bitte, fragt mich die Bedienung, wo ich herkomme und fügt dann hinzu: «Bless your heart, sweetie, but we call‘em freedom fries here.»


21.10.2016 Cincinnati


In der Walnut Street kann man die Invasion von Außerirdischen erleben. Genau genommen handelt es sich um einen Alien Invader, einen rudimentären Klumpen weißer Pixel aus dem Videospiel Space Invaders von Toshihiro Nishikado, ein Klassiker im kollektiven Gedächtnis der Popkultur der 80er und 90er Jahre. Er hat diesen urzeitlichen 16-Bit-Look der kleinsten elektronischen Speichereinheit für Informationen, der auch mit anderen Titeln, bestimmten Farben und Tönen verbunden ist. Es wäre zu wenig damit gesagt, dass es in allen Levels von Space Invaders darum geht, in mehreren Reihen angeordnete Außerirdische zu pulverisieren, die sich dabei schrittweise auf das untere Ende des Bildschirms bewegen. Das Spiel entwirft mit einfachsten Mitteln die dystopische Invasion des Planeten Erde durch eine Armee extraterrestrischer Wesen. An der Bar der Arcade-Halle bestelle ich mir ein Root Beer. Im Halbdunkeln schauen Hulk Hogan, Leonard Nimoy, Micheal Jackson und Madonna von der Wand. Ich denke mir, dass das Szenario von Space Invaders vielleicht der erste Konflikt gewesen ist, den Menschen, gestützt von elektronischen und digitalen Medien, global austragen konnten. Es gibt neben der politisch-ökonomischen Verwobenheit auch eine psychisch-mediale in der Globalisierung. In der globalisierten Welt steht die Gesamtheit aller Ichs in unauflöslichen psychischen Zusammenhängen aus dem Realen, Symbolischen und Realen. In Space Invaders sieht sich ein Spieler-Ich ausgerüstet nur mit einer Laserkanone einer amorphen Menge von Weltraummonstern aus dem Orbit des Unter-Ichs gegenüber – eine nahezu aussichtslose Lage. Nicht nur die final frontier muss aufgegeben werden, auch der Krieg der Sterne und mit ihm die menschliche Hegemonie im Weltall ist endgültig verloren. Der Mensch sieht sich in seiner Singularität bedroht, denn es ist sogar die Invasion insektoider Wesen zu befürchten, deren Existenz man, wenn nicht geleugnet, so doch für sehr unwahrscheinlich erklärt hat. Es ist die Furcht vor dieser letzten narzisstischen, intergalaktischen Kränkung, mit der Space Invaders spielt, oder sind damit lediglich die Chinesen gemeint? Was machen Videospiele mit den globalen Psychen? Es gibt in dieser Spielhölle vierzig solcher Arcade-Konsolen, die an allen Ecken blinken und klimpern, aber die Häufung von galaktischen Themen ist auffällig und Space Invaders paradigmatisch für viele spätere Titel. In den letzten Dekaden hat sich der Status von Videospielen geändert: Spätestens seit dem Auftreten der Figur des Nerds, geht es nicht mehr um die Rettung der Welt oder den nächsten Highscore sondern lediglich darum, lose mit der Spielkultur assoziiert zu werden, um interesseloses Wohlgefallen am Retro-Appeal der Spiele. Der hedonistische Spieler ist assimiliert und zum Nerd geworden, der selbst so etwas wie ein Außerirdischer ist.


10.11.2016 Cincinnati

Die amerikanische Präsidentschaftswahl habe ich nur mit wenig Interesse verfolgt. Bereits bei den Vorwahlen wurde man mit Interviews und Zuschaltungen, TV-Duellen und Town Hall Meetings, Hochrechnungen und Rallies dauerbestrahlt. Dabei ist allgemein bekannt, dass die Kandidatin oder der Kandidat (meistens sind es bislang ja solche gewesen) mit den einflussreichsten Lobbyverbindungen, den größten Finanzreserven und der zielgruppengerechtesten Cyberkampagne gewinnt. Womöglich dienen solche Vorwahlkämpfe ohnehin oftmals mehr der Bestätigung als der Bildung der eigenen Meinung. In meiner Umgebung konnte ich jedenfalls feststellen, dass je lauter der mediale Sound wurde, desto hörbarer wurde sich auch über die bevorstehende Richtungsentscheidung ausgeschwiegen. Alles schien ausgemacht zu sein und Hillary Clinton stand für viele (auch für mich) bereits als Siegerin fest. Mit meinen Studierenden hatte ich anspielungsweise noch Witze über einen möglichen Sieg von Donald Trump gemacht. Da man in den USA traditionell dienstags wählt, hatte ich ihnen vormittags freigegeben. Am Abend schaute ich dann nur gelegentlich von meinem Laptop auf zur Liveübertragung der Wahl. Ich nahm sie als nicht mehr als ein kleines Fenster in meinem Bildschirm wahr. Gleich daneben läuft eine alte Aufnahme von Leonard Cohen. Andächtig murmelt er: «I’m sentimental, if you know what I mean / I love the country but I cannot stand the scene. / I’m neither left or right. I’m just staying home tonight, getting lost in that hopeless little screen.» In absoluten Zahlen würde Clinton in der Auszählung vorne liegen, aber die meisten Wahlmänner habe Trump zu verbuchen. Spätestens als sich Ohio und Kentucky in den neuesten Zwischenergebnissen rot verfärbten, packte die Wahl plötzlich meine ganze Aufmerksamkeit. Mit einem Mal fühlte ich mich persönlich angegriffen, dass man in Ohio offensichtlich republikanisch gewählt hatte. Es hatte in der Stadt doch nichts auf den bevorstehenden Ausgang hingewiesen?
Ich erinnerte mich an einen Nachmittag bei einer Freundin zuhause. Sie hatte mich zum BBQ mit ihrer Familie eingeladen. Auf dem Weg nach Greater Cincinnati in den Vorortgürtel der Stadt sah ich durchaus einige Blechschilder in den Vorgärten stehen. Von meiner Arbeitskollegin wusste ich, dass sie Bernie Sanders unterstützt hatte. Ihrer Meinung nach hätten die Parteiloyalisten der donkeys die Wahl Sanders von Anfang an boykottiert. Auch zuhause bei ihr habe es die ein oder andere Diskussion gegeben und ihre Mom habe jetzt natürlich Oberwasser. Sie würden nicht mehr darüber sprechen. Mit Mitte zwanzig wohnt meine Kollegin noch zuhause – nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches in der middle class der USA. Die genaueren Umstände der Trennung ihrer Eltern kenne ich nicht. Die Mutter ist alleinerziehende Kinderkrankenschwester in gleich zwei Hospitälern und engagiert sich wie die ganze Familie ehrenamtlich bei der YMCA. Beide Geschwister von Phoebe sind im Teenager-Alter und verdienen sich nach der Schule etwas Geld mit Nebenjobs hinzu. Dazu benötigen sie jeweils ein Auto, denn öffentliche Verkehrsmittel sind in den Vororten kaum existent. Die Mutter kommt gerade von der Nachtschicht. Ihre größten Sorgen seien die Hypothek für das Haus und das Universitätsstudium ihrer Kinder, erzählt sie mir frei heraus. Sie hoffe, dass das alles bald ende. Deshalb habe sie Trump gewählt, fügt sie an, bevor sie wieder auf dem Gartenstuhl einnickt. Ich grübele über ihre Worte nach, während der vegane Grillkäse ihrer Tochter Blasen wirft. Wirklich alles? Auf dem Campus habe ich am Vortrag eine Flagge im Fenster des Wohnheims hängen gesehen, auf der in großen Lettern MAGA stand. Schnell habe ich es als armseligen Protest einer fehlgeleiteten Studierendengruppe abgetan. Im Internet verfolge ich die Wahlergebnisse in Cincinnati auf einer Karte. Im urbanen Zentrum der Stadt und im Gebiet des Campus hat man demokratisch gewählt, rundherum allerdings republikanisch. Als ich ins Bett gehe, sind nur noch Minnesota, Arizona und Vermont zu holen, die Wahl ist praktisch entschieden.
Dieser frische und graubewölkte Novembertag hat etwas Bedrohliches an sich. Am nächsten Morgen mache ich mich auf dem Weg zum Campus. Ich stelle mich drauf ein, dass meine Studierenden enttäuscht sein würden. In der Auffahrt kommen mir zwei Studenten im Dresscode der Neuen Rechten entgegen, in beiger Hose, weißem Hemd und rotem Käppi, «Make America Great Again» steht darauf. Im Seminarraum sehe ich gerötete Augen, nasse Stirnfransen. Meine Studierenden haben warmen, ultrasüßen Kürbiscappuccino mitgebracht – Zeichen, dass es ernst ist. Sie tauschen ihre eigenen Betroffenheiten aus und erzählen von offenen Anfeindungen. Schwierig in dieser Situation über Konjugationstabellen und Verbletztstellung dozieren zu sollen. «There’s an elephant in the room that we need to address», höre ich mich sagen. Von einem Sprachdozenten darf man solch blöde Wortwitze doch verlangen. Es dauert eine Weile, aber ich komme noch zum Unterrichten bis kurz vor der Pause Sprechchöre zu hören sind: «No justice! No peace!» und immer wieder «Black lives matter!» Als ich den Innenhof betrete, stehe ich unwillkürlich in einer Traube schwarzer Hoodies und Plakate «No Trump. No KKK. No fascist USA», schreit es neben mir und jagt mir einen Schauer über den Rücken. Es nähern sich frontal einige Männern, die Handfeuerwaffen in ihren Holstern tragen und ostentativ halbautomatische Gewehre über ihre Schultern geworfen haben. Über dem Bierbauch eines weißen Mannes steht auf dem T-Shirt «Apex predator». Stimmt schon irgendwie und in tiefen Bässen schwurbelt er etwas von «supremacy». Währenddessen zirkeln Campuspolizisten mit ihren nervös sirrenden Segways um die Menge, um die Lage zu beruhigen. Mit missverständlichen Gesten schreien sie dabei erstaunlich laut und viel. Ein Zucken, eine falsche Handbewegung, eine Auseinandersetzung – jede Sekunde hätte sich ein Schuss lösen können. Als ich im Schutz meiner Laptopklappe einige Monate später die Geschehnisse in Charlottesville beobachte, bin ich nicht sonderlich erstaunt. In der Nähe eines Parks mit der Statue von General Lee fährt ein Mann sein Auto absichtlich in eine Gruppe von Demonstranten. Ich bin mir fast sicher, dass sich eine solche Szene an diesem Tag auch in Cincinnati hätte zutragen können. «Democracy is coming to the United States», höre ich Leonard Cohen säuseln, «It's coming to America first / The cradle of the best and of the worst» und schließe mit einem leisen Geräusch meine Laptopklappe.


23.11.2016 Kansas City, Rheinland-Pfalz

Im Mittleren Westen liegen die sogenannten flyover states, jene landwirtschaftlich geprägten Flächenstaaten der USA, deren schieren Weiten für den urbanen Jetset lediglich eine nuisance auf dem Weg zwischen Ost- und Westküste darstellen, denn Fliegen kann auch etwas mit Überheblichkeit zu tun haben. «I wouldn’t live there if you paid me», stöhnt der Geschäftsmann neben mir im Sitz, als er meinen Blick aus dem Fenster bemerkt. Tatsächlich wirkt es, als würde sich das Flugzeug kaum weiterbewegen und so über der Ebene schweben, wie ein Spielzeugmodell an einem Nylonfaden über der Karte im Diercke Weltatlas. Als Teenager hat mich dieser Ausdruck «Mitten im Nirgendwo» wohl fasziniert, weil er von den Leuten im Allgemeinen dermaßen abschätzig gebraucht wurde, dass ich davon überzeugt war, dass wenn ich diesen Ort fände, ich garantiert niemanden von ihnen dort antreffen würde. Ich erinnere mich an eine Abbildung im Atlas, auf der man mit geometrischer Genauigkeit Missouri und Kansas abgetragen hatte. Die Markierung von Kansas City fand ich zwischen einer Vielzahl von Getreide- und Ölsymbolen exakt auf der vertikalen Linie zwischen beiden Staaten. Ich las nach, dass die Region in den Zwanziger- und Dreißigerjahren von gravierenden Stürmen heimgesucht wurde, die sich aufgrund der Trockenheit und Bodenerosion zu großen Wirbel- und Sandstürmen aufdrehen konnten und der Gegend den Beinamen dust bowl beigebrachten. Vom Flugzeug aus sieht der Boden der Staubschüssel heute eher aus wie der Nährboden einer Petrischale: Man hat hier gegeocachte und genmanipulierte Monokulturen in kreisrunden Feldern angelegt. Im Radius einer halben Meile rollen Bewässerungsfahrzeuge in konzentrischen Bahnen, festgesteckt in der Erde im Mittelpunkt der Felder. Es sind sperrige Konstellationen aus Reifen und Rohren, die aussehen wie Maschinen des bösen Zauberers von Oz. Sie versprühen Wasser mit Düngemittel über den Flächen aus hellgrünem Winterweizen und goldgelbem Zuckermais. So sieht die Kornkammer des gefräßigsten Landes der Welt aus. «I wouldn’t live like this.», säuselt es wieder vom Nachbarsitz. Ich frage mich, ob ein Tornado vom Grund aus hoch bis zu einem Flugzeug reichen würde, um diesen Erwachsenen zum Schweigen zu bringen? Ansonsten sieht man größere Wohnparzellen und geflochtene Autobahnzöpfe und als ich im Rauschen der Flugzeugturbinen dumpf die Wirbelstürme aus dem Wizard of Oz zu hören meine, erinnere ich mich an Dorothy, gespielt von Judy Garland. Auf dem Weg nach Hause wird sie von einem Tornado überrascht und ins magische Land Oz versetzt, ohne Kansas je zu verlassen. Für mich ist Kansas City beziehungsweise ein Suburb der Stadt ein ganz realer Ort in der Welt meiner Teenagerzeit, an dem ich mich sogar etwas zuhause fühle. «I wouldn’t live there if you paid me», entfährt es wieder dem trübsinnigen Jetsetter. Ich sage ihm, dass ich im eigentlichen middle of nowhere aufgewachsen bin, nämlich in Rheinland-Pfalz. Irgendwo zwischen Kaiserslautern, Ramstein oder Baumholder, in den Bereichen der amerikanischen Militärbasen, hat sich mit der Zeit so etwas wie eine Nachkriegskonvivenz eingestellt. In der Nachbarschaft lebte eine deutsch-amerikanische Familie, deren Verwandtschaft aus den USA einmal zu Besuch war. Wir freundeten uns bald an und die amerikanischen Großeltern der Familie luden mich zu sich ein. Seitdem ich nicht mehr in Rheinland-Pfalz leben muss, habe ich eigentlich nie so etwas wie Heimweh verspürt, «I wouldn’t do the things the way those people do.» Während der Schulzeit habe ich dann alle meine Ersparnisse dazu aufgewandt, in den Mittleren Westen zu reisen, um gewissermaßen aus Rheinland-Pfalz zu entkommen. «I wouldn’t live there if you paid me.» Doch bin ich nicht wie erhofft nach Oz gelangt, sondern in der Pfalz Amerikas gelandet.



["Die Zerstörung Hamms"; fotografiert aus einem alliierten Bomberflugzeug]



14.04.2017 Hamm (Westphalia)


Auf meinem Weg nach Essen musste ich in Hamm (Westfalen) auf Weiterfahrt warten. «LIEBE FAHRGÄSTE, DER FAHRPLAN SIEHT ES VOR, DASS DER HINTERE TEIL DES ZUGES DEM VORDEREN TEIL NACH MÜNSTER VORAUSFÄHRT. DER VORDERE TEIL DES ZUGES FÄHRT UM 13:00 UHR IN UMGEKEHRTER REIHUNG NACH DORTMUND HAUPTBAHNHOF HINTERHER. IN HAMM HABEN WIR AUFENTHALT. AUSSTIEG IN FAHRTRICHTUNG LINKS», schallt es aus dem Lautsprecher wie aus einem Zenturio. Ich ziehe ein kleines rotes Buch aus meiner Jackentasche und lege meinen Kopf an die Fensterscheibe. Es heißt Instructions for British Servicemen in Germany 1944 und ist eine Art militärischer Verhaltenskodex, der während des Zweiten Weltkriegs an die Tommys ausgegeben wurde: « Industry. Germany is highly industrial. The German "Black Country" is in the west on the Rhine and Ruhr, where what is left of towns like Cologne, Dortmund, Düsseldorf, Duisburg, Essen, Bochum and many other cities familiar from our Air Ministry reports, form one great industrial area.» Es handelt sich eigentlich um einen Reiseführer, wie einen Baedeker statt für Italien für das zerbombte Deutschland. Er ist noch dazu im unaufgeregten Erzählmodus der Alliierten geschrieben und bereitet mich mental auf Westfalen und den Ruhrpott vor. Wenn man von Minden nach Hamm fährt, kann man Porta Westfalica vom Fenster aus betrachten. Arminius oder Herman, wie man ihn auf Englisch nennt, steht immer noch im Teutoburger Wald mit dem Schwert über dem Haupt in Richtung Frankreich und schlägt seine Schattenschlacht. Schon im Dritten Reich stand alles auf Mobilmachung in Hamm. Es war ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt für die Industrie und den Personentransport. Blitzkrieg. Der Bahnhof in Hamm und Hamm selbst sind für mich ein Nicht-Ort. Wenn man hier unfreiwillig festsitzt, kann man sich der Situation nur durch den Schlaf entziehen. In meinen Augenlidern sehe ich die Bombardierung Hamms aus Vogelperspektive wie auf einer Militärfotografie, die ich erst einige Tage danach in einem Museum in Essen gesehen haben kann. Auf Englisch würde man Hamm wohl Ham aussprechen, Ham (Westphalia) wie Schinken. Als ich im Begriff bin, Hamm in einem großen Pilz von meiner mentalen Karte zu tilgen, beginnt es nach westfälischem Räucherschinken zu riechen. Eine Gasattacke?, saust es mir durch den Kopf, aber im Abteil hat nur jemand seine Tupperware geöffnet. Es sind Punks eingestiegen und singen Eisgekühlter Bommerlunder. Ich vergrabe meinen Kopf in der Kapuze meiner Jacke und höre ein eindringliches »Schinken!«. Es riecht nach Rauch. Mein Zug hat bereits eine Dreiviertelstunde Verspätung. Geduldig summe ich die Melodie von Noel Cowards Kabarett-Song Don’t let’s be beastly to the Germans vor mich hin und denke mir, »don’t let’s be beastly to the Hun«, als es endlich weitergeht. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Hamm zerstört werden muss.


19.5.2017 Bielefeld


Die Rückkehr nach Bielefeld fühlt sich an wie der Abstieg in die dritte Fußballbundesliga. In den USA nennt man Tischfußball foosball aber Fußball soccer im Gegensatz zu Football, während man im britischen Englisch von Rugby spricht, was eigentlich wieder etwas anderes ist und Fußball dort Football nennt oder einfach nur Footy. Ich kann nicht glauben, dass ich nach dem Wechsel zum Studium immer noch in Ostwestfalen feststecke. Von meiner westfälischen Verwandtschaft hatte ich zu meinem vierten Geburtstag ein grellgelbes Trikot von Lars Lupfen-Jetzt-Ja Ricken geschenkt bekommen. Auf der Brust prangte das große C einer Versicherungsfirma oder eines Reifenherstellers. Farblich erinnerte es mehr an die Warnwesten von Bauarbeitern oder den scharfen Senf auf der Bratwurst der Fans. Fußballerisch orientiert man sich natürlich an Dortmund, denn auch in der östlichen Provinz Westfalens ist man fußballbegeistert. Wochenends ziehen die Fans der Arminia mit ihren blau-weiß-schwarzen Schals von der Currywurstbude am Jahnplatz über die Eckkneipen bis zur Bielefelder Alm im Westen der Stadt. Auf den Rängen raunt man sich den Namen des lokale Heros zu, den man man den »weißen Brasilianer« nennt. Meinen Entschluss, wieder mit dem Fußballspielen zu beginnen, muss man als Befreiungsschlag vor dem Sechzehner verstehen, als Versuch nicht zu versauern und Anschluss zu finden. Wenn man doch ein Ostwestfale wäre, gleichmütig und dröge, bei Regen auf dem Spielfeld, schief in der Luft, immer wieder kurze Sprints und Kopfbälle über dem unebenen Boden, bis man die Stollen ließ und ausgewechselt würde. Die Wilde Liga Bielefelds ist 1976 aus einer Art grass roots-Bewegung gewachsen. Frauen und Männer mit langen Haaren und sehr kurzen Hosen haben damals einige brachliegende Spielfelder an der Radrennbahn im Osten der Stadt besetzt, die ursprünglich als Trainingsgelände der Arminia vorgesehen waren. Es war auch ein Protest gegen die Vereins-, Turnier- und Ligenstrukturen des Deutschen Fußballbundes und dessen »Kommerz«, wie man wohl sagte. An einem Sonntag bestreite ich mein erstes Spiel: Zwischen Bierkästen und Regenschirmen werden mit Filzstift primitive Zeichnungen auf ein Klemmbrett gemalt und Taktiken ausgegeben. Die Spielerinnen und Spieler versammeln sich mehr zu einem Haufen denn einem Kreis. Es ist eher ein Kneipenteam: eine Grundschullehrerin, ein Badezimmereinrichter, eine Sportartikelverkäuferin, ein Geflüchteter und ein Doktorand bolzen zusammen – allesamt indigene Ostwestfalen. Es ist die älteste wilde oder bunte Liga in Deutschland, die auch in anderen Städten Fuß gefasst hat. Sie legen die Arme um die Schultern und brüllen eine Art Schlachtruf in einer mir unverständlichen Sprache. Dann finde ich mich auf der linken Außenbahn wieder in einer Art Dauerlauf im Zickzack um die gegnerischen Spieler herum. Mir schwirrt der Kopf und ich werde ganz balla. Abseits oder Foulspiele müssen die Spielenden selbst anzeigen, denn es gibt keinen Schiedsrichter. Es kommt zu verbalen Auseinandersetzungen, bei denen «genöhlt» und «gebölkt» werden darf, wie es im Dialekt der Ostwestfalen heißt. Meist gehen diese Wortgefechte fair und schnell vonstatten und werden mit rituellem Schulterklopfen befriedet. Nach sechzig Minuten gibt man mir Handzeichen, eine kleine Rolle mit den Fingern, dass ich ausgewechselt werde und klatscht mich ab. Wenn das mein alter Trainer wüsste, der mir damals angesichts meines Schneckentempos geraten hatte, ich solle besser etwas Amerikanisches spielen, während er seinen Sohnemann für den Kader konditionierte. Am Spielfeldrand reicht man mir ein Bier mit Ploppverschluss, während ich auf einem Bein stehend versuche, die Erdklumpen zwischen meinen Stollen mit einem Stöckchen zu entfernen. Dann setze ich mich mit dreckigen Stutzen auf eine Bierbank, schaue über das Spielfeld und merke, wie ich ganz langsam verblöde.



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