["Faust", Margo Valemythi (2020)]
Der
Augenblick ist jenes Zweideutige, darin Zeit und Ewigkeit einander
berühren. [Søren Kierkegaard »Der Begriff Angst« (1844)]
["Rasenstück", Siegfried Feid (2014)]
‚Erlebnisse’
- bloße Racheaktionen gegen Langeweile scheinen sie heute in unseren
Augen. Und wir
können über Langeweile nicht klagen. Die Welt hält uns in Atem. Um
‚zu
uns’
zu
kommen – beinahe wäre es dafür wichtiger, endlich einmal wieder
die Chance für etwas Langeweile zu gewinnen, als für ‚Erlebnisse’.
Nein, Erlebnisse suchen wir zu vermeiden. Schon das Wort klingt uns
verdächtig.
[Günther
Anders »Lieben gestern. Notizen zur Geschichte des Fühlens« (New
York 1948)]
Niemals
ist die Gefahr einer revolutionären Massenaktion geringer als in
demjenigen Stadium höchster Industrialisierung, in dem jedermann
durch die Massenmedien-Manipulierung zum Massenwesen gemacht worden
ist. [Günther Anders, »Die
Antiquiertheit des Menschen II. Über die Zerstörung des Lebens im
Zeitalter der dritten industriellen Revolution«
(1961)]
I.
Thekengespräch (Für A.)
Kennst
du diesen Eindruck, fast hätte ich Gefühl gesagt, Kah, wenn du ganz
genau weißt, dass du zu weit gegangen bist? Mit einem unüberlegt
hingeworfenen Gedanken vielleicht, einer klitzekleinen Bemerkung,
einer kaum wahrnehmbaren Geste, einer Albernheit oder Taktlosigkeit?
Peh zum Beispiel wollte mich kürzlich hier an der Theke in ein
Gespräch über Eliten verwickeln und, ob du's glaubst oder nicht,
Kah, seit meinem ungehemmten Vortrag über diesen Markenartikel
gleichen Namens, den Hersteller von Milchprodukten, wenn ich mich
nicht irre, ich erinnere mich nur noch vage an die billigen
Fruchtjoghurte, die künstlichen Erdbeerbröckchen etwa, seitdem habe
ich Peh nicht mehr gesehen. Was ich ihm gesagt habe, Kah? Nun, wie so
oft, zeterte ich wohl stundenlang über die skrupel- und hemmungslosen
Lebensgefühlproduzenten, die einem weismachen wollen, man könne
dazugehören, wenn man bloß ein bestimmtes Produkt konsumiere und so
weiter. Und all die prominenten Gesichter, die sich nicht scheuten,
für ihren üppigen Lebensstil zu werben! Vermutlich kam ich noch auf
irgendwelche heroischen Ballkünstler zu sprechen, schweifte ab und
weidete mich an der Unmöglichkeit irgendetwas Verbindliches über
Pehs Thesen zu sagen, ja, freilich wich ich Pehs Thekenkommunismus
nunmehr ebenso hartnäckig aus, wie es mich früher zu Tränen gerührt
hatte, wenn er über einen Idealstaat sprach, der keine Ungleichheit
kannte, weder Verkehr noch die Intelligenz von Zeichen und Zahlen,
Kah! Könnte Deh nur bei uns sitzen, er ruhe sanft, Montaigne würde
er nun zitieren, von der Abwesenheit des Neides, der Falschheit und
Lügen würde er philosophieren. Dem Kraft- und Ausdauertraining der
Radfahrer und dem all der anderen Athleten hätte er angesichts
seines eigenen unaufhaltsamen Verfalls hinterhergelacht. „Seht her“,
rief er ihnen manchmal mitten auf der Straße zu, dass manch einer von
ihnen den Kopf schüttelte, „bald seid auch ihr an der Reihe!“
Ein anderes Mal – und das muss jetzt wirklich schon mehrere
Jahrzehnte her sein - meinte Peh noch, man dürfe unter gar keinen
Umständen, wem auch immer gegenüber, zu weit gehen, gerade wegen
unserer Zeugenschaft einer Umgebung, in der so gut wie alle mit
nahezu allem zu weit gingen. Man verbuddele schließlich Atommüll
vor einer Zukunft, die in einer Ferne von nicht weniger als einer
Million Jahre von all dem Elend, das wir anrichteten, bestenfalls
nichts wissen sollte, ja, schon jetzt einfach nichts mehr wissen
wollte. Einer erwähnte an der Theke den Boss der Arbeiterwohlfahrt,
310.000 Euro Gehalt, Mercedes GLE 400 als Dienstwagen. Würden wir,
so sagte er, zur Verteidigung ansetzen, wäre zu betonen, dass der
Beschuldigte seinen Auftrag sehr wörtlich genommen hätte und
fragte, ob eine so intrinsische Berufsauffassung Sünde sein könne.
Ein anderer warf ein, dass es überhaupt kaum zu erklären sei, wie
es zu den unmäßig hohen Gehältern der ungezählten Präsidenten
deutscher Verbände kommen könne. Deh zählte sich zu Lebzeiten gern
unter vorgehaltener Hand zu den Häuptern einer Bildungselite, die
man, wann immer sie sich in aller Öffentlichkeit kritisch äußerte,
allenfalls noch duldete. Wer aber war jene nach außen hin
abgeschottete Führungsschicht, die sich im vollen Umfang ganzer
Lebensläufe einem unverhohlenen Streben nach Gewinn hingab und diese
zur höchsten ethischen Maxime erklärten Haltung über Generationen
hinweg an ihren Nachwuchs weitergab, den man auf der Öffentlichkeit
meist unzugänglichen Privatschulen züchtete? Warst nicht du es,
Kah, der einmal zu bedenken gab, dass eine Revolution wie die
französische eine herrschende Klasse zwar nahezu entmachtet, wohl
aber eine neue hervorgebracht hätte, die sich in ihrer Gier kaum
mehr von der vorherigen unterschied? Die Mittel, mit der sich eine
neue Führung dem Licht der Öffentlichkeit entziehe, seien, gerade
wegen der Vorherrschaft der Bildmedien, lediglich ungleich
raffinierter als je zuvor, sodass man zumindest nicht sagen könne,
die Menschheit habe nicht aus ihrer Geschichte gelernt. Möge es
künftig, beinahe ein utopischer Gedanke, Kah, noch Lehrende geben,
die das eisige Denken eines Nachwuchses brechen, dass nämlich der
Profit das Höchste sei. Das Leben, so Peh einmal, bewege sich im
Spontanen und Ungeplanten, die menschliche Vernunft hingegen verhalte
sich dazu wie eine Träne im Ozean, während wir glaubten, wir
reisten in der Luxusklasse der Titanic. Allerdings könne uns an
jeder Ecke ein Eisberg begegnen – und sei es in Form eingefrorener
Gefühle. [Liana Helas]
II.
Automaten
Im
Wort "Automat" stehen wir mit der Nase unmittelbar davor,
was die Vollendung des Automaten sein könnte: dass von sich her das
Ding sich einmal bewegen wird. Zum Selbstautomaten würde.
Insgleichen Automobil. - Über den Daumen nur gepeilt, würde ich
sagen, dieses "Sich" des Automaten wäre ein trotzdem noch
programmiertes. Dass unter bestimmten Umständen etwas in ihm
ausgelöst würde, das "autonome Reaktion" genannt werden
kann. Auch diese autonome Reaktion als Verhaltensvariante ist
vorprogrammiert (und als Re-Aktion per se eine lediglich
relativ-autonome), doch nicht unbedingt determiniert. Aber dass der
Automat von sich her aufsteht und sagt: "So, jetzt gehen wir
einen heben!" und hinter seinem Erfinder und gegen dessen Verbot
die Tür zuknallt, wird nur so geschehen, dass sein Erfinder eine
solche Möglichkeit eventualiter vorgesehen hätte. Gleichfalls, dass
ein Roboter in seine Pubertät käme. Unsere Notebooks kommen
sozusagen in die Pubertät, wenn der User komplett chaotisch die
Speicher überlastet und sich, wie es früher häufig vorkam, beim
Betrachten nackter Geschehnisse Viren eintrat. Sie sind dann aber nur
der Verhaltensspiegel ihrer unreif sich gebärdenden User. Aber: Dass
ein Rechner den anderen erziehe, ist sicher möglich und machbar, und
dass im Laufe der Zeit dieses Erziehungswerk Superiorität über den
Menschen erlangen könnte, der mit jedem Säugling immer wieder von
vorne beginnen muss. Dass das roboterale Wissen sich, Günther Anders
zufolge, wie ein Schatten auf den zurückgebliebenen Menschen würfe.
Unser Roboter kann aufstehen und spontan einen heben gehen, wenn sein
liebwerter Großvater (hier sein ursprünglicher Erfinder, Schöpfer,
Ingenieurgenius, also Mensch) noch Sinn für solche Späße gehabt
und ein Fenster zur Bierschank offengelassen, sein Sohn oder
Nachfolger dies vergessen oder verdrängt oder, aufgrund der
strengrationaleren und peinlich profitorientierteren Zeiten einer
purifizierten Netzwerkverernstung, die kamen, sich verboten und
anderen verbeten hätte. [Peter Hodina]
["Stammform", Siegfried Feid (2017)]
III.
Traumsplitter
Auf
einem sogenannten Wanderlehrpfad vor Sonnenaufgang. Genau dort, wo
ein Pfahl stand, ging nun die Sonne auf. "Die DDR, unsere gute
Mutti, hat das so eingerichtet, dass hier genau an diesem Tag zu
dieser Stunde über der Spitze dieses Pfahls die Sonne aufgeht",
sagte meine Begleiterin. Nicht nur war der Sonnenball zu sehen, wie
er schnell über den wunderbar makellos-blauen Himmel wanderte,
sondern in der Ferne auch das Meer - wie auf dem Gemälde eines alten
Meisters. Die Sonne wanderte so rasant über den Himmel, dass nach
circa drei Minuten sie schon wieder unterging. Doch so, dass sie die
Schiffe in der Ferne zum Zersplittern brachte. Die Sonne verschwand
nicht unterm Horizont, sondern schlug wie eine leuchtende
Kanonenkugel in den Meeresspiegel ein, alles auf diesem Wege
mitnehmend und in den Grund reißend. Das Bild, dieses Gemäldehafte,
war am Traum das mich Beeindruckende: wie gut das "gemalt"
war. Indem man einige Schritte zu dem Pflock zurückging (man musste
also etwas mit der Sonne mitgewandert sein), konnte man die Sonne
abermals aufgehen lassen, beliebig oft war dieses Schauspiel bis
jeweils wieder zum Untergang auslösbar. "Die Lehrmittel in der
DDR waren so anschaulich wie hervorragend", sagte die
Begleiterin. [Peter Hodina]
IV.
Standpunkt
Always
speak the truth,
think
before you speak,
and
write it down afterwards.
[Lewis
Carroll]
Es
ist verrückt: beschäftigt man sich mit Politik, wird man sofort
dahinein verstrickt, auch und gerade als Laie; es nimmt einen
stundenlang gefangen, man kommt nicht heraus, bis es wieder abklingt.
Wie sehr erst muss derjenige, der wirklich sich mit Politik
beschäftigt, davon gefesselt werden. Man wird an ihr Spiel gebunden.
Und: Bindung verschlingt ZEIT, wie auch Leiden. Es ist immer auch der
Zeitfaktor zu bedenken: die Verarbeitungszeit. Es ist im Nachhinein
komisch, zu sehen, wie der Mensch, sich dahineinverstrickend, nicht
herauskann. Es sind immer die gleichen Spielsteine. "Freund"
vs. "Feind", "Entscheidung" oder Konstruktion
einer Brücke, eines Kompromisses. Der Wahn klopft an, ganz privat.
Im Großen kann er zum Massenwahn ausarten. Es ist ein gefährlicher
und berauschender Trank, eine Besessenheit. Nicht sollte man jemandem
vorwerfen, hysterisch zu reagieren, sondern vielmehr die Gefahr der
Hysterisierung als eine allgemeine kennen, als Trübung der Vernunft,
als die Politikgefahr überhaupt, als Schneeblindheit und Höhenrausch
durch Politisieren. Wie eine Seuche, eine Pestilenzialisierung. Wer
aber gezielt andere hysterisiert, ist gefährlich und
verantwortungslos und auch bei vielleicht dadurch vordergründig
erzielten Erfolgen letztlich kein "Homo politicus", sondern
einer, der am Brand, den er stiftet, sich pyromanisch berauscht.
[Peter Hodina]
V.
The
Show Must Go On
Geht
man von der Annahme aus, dass Formen eines »Elitarismus« negativ
konnotiert seien, gerät die Frage nach einer konstruktiven Antithese
ins Blickfeld. In Kreisen kultureller Gegenbewegungen hat sich die
Tendenz zum Populären etabliert, was - ausgehend vom
Begrifflichen – nur einen winz'gen Schritt zum sogenannten
»Populismus« darstellt; die Musikkultur mag hierbei zumindest als
Deutungsmuster dienen. Meine Kontakte zur Anhängerschaft
oppositionellen Denkens, wie etwa zur politisch Linken, zeigten, dass
die Hinwendung zur Rock- und Popkultur dort eindeutig überwiegt. In
der Tradition des Aufbegehrens gegen das Etablierte aus den Jahren
einer vermeintlich revolutionären Studentenbewegung rockt man nach
wie vor gegen rechts, konsumiert eventuell »Weltmusik« und
toleriert allenfalls noch zugänglichere Spielarten des »Jazz«,
während Bachs »Brandenburgische Konzerte« bereits zum Gegenstand
der Ächtung werden können. Je komplexer musikalische Strukturen und
Theorien sich gestalten, desto mehr nähern wir uns der Sphäre eines
»Akademismus«, der sich im Verlauf von weniger als einem
Jahrhundert abseits der breiten (pluralistischen) Masse
unmissverständlich als »Elite« definiert hat, ein maßgebliches
Expertentum für sich in Anspruch nimmt und die Produktionen des
Denkens – im weitesten Sinne des Wortes – sowie der »Kunst«
verwaltet. Das vergangene Jahrhundert hat gezeigt wie selbst
Dissidentinnen und Dissidenten eines »Akademismus« früher oder
später von den Institutionen absorbiert werden. Dementsprechend sind
die einstmals radikalen Vertreterinnen und Vertreter der sogenannten
»Postmoderne« längst Bestandteil der Akademien, ebenso wie etwa
die Experimente eines John Cage beinahe schon dogmatischen Charakter
in der »(Neuen) Musik« angenommen haben. Die Elite des
wirtschaftlichen und politischen Lebens feiert sich selbst
beispielsweise auf den Bayreuther Festspielen oder zu vergleichbaren
Events. Eine tiefergehende Analyse würde in diesem Zusammenhang
jeden nachvollziehbaren Rahmen sprengen, doch möge die Erwähnung
der Rolle eines inzwischen zum Staatsphilosophen aufgestiegenen
Denkers wie Peter Sloterdijk zunächst genügen, um zumindest
anzudeuten, welcher geistige Wind hierzulande den Ton angibt. Mag
auch eine gewisse Faszination von der Virtuosität im Umgang mit der
Sprache – Gleiches gilt für die Musik, die Mathematik und das
wissenschaftliche Denken im Allgemeinen - von den besagten
Geistesgrößen ausgehen, sollte doch wenigstens das Problem des
Elitären erkennbar werden. Eine bloße Ablehnung eines wie auch
immer gearteten elitären Denkens begünstigt lediglich die
fortschreitende Verflachung einer kritischen Auseinandersetzung mit
den herrschenden Verhältnissen, sodass die bisherigen Strömungen,
geprägt von Nachlässigkeiten und Jargons, sich selbst
diskreditieren und den »Elitarismus« in der Folge festigen. Ansätze
einer möglichen Lehre aus dem Problem liegen bestenfalls im Bereich
der gegenseitigen »Würdigung«, was einen langen Denk- und
Bildungsprozess voraussetzt, der freilich von den unterschiedlichsten
Rückschlägen gezeichnet bleiben wird, beispielsweise vonseiten
einer reaktionären Kulturpolitik, in der immer wieder Stimmen laut
werden, die tendenziell sogar einem antidemokratischen Elitarismus
angehören, wie jüngst die des Afd-Parteiphilosophen Marc Jongen,
der die „Entsiffung des Kulturbetriebs in Angriff zu nehmen“
gedenkt, aber auch vonseiten einer (linken) Subkultur, die das
(kritische) Potential einer sublimen bzw. höheren Kultur verkennt.
(Vorläufiges) Fazit: Es ist nicht alles »Pink Floyd« oder »Deep
Purple«. [Liana Helas]
Leserbrief.
- Du weißt, dass Loriot mein Held ist, nachdem er schwieg, weil die
Gesellschaft, über die er sich lustig machte, schlicht nicht mehr
existierte. Zum Glück ist mir noch kein Humorist begegnet, der
trefflich Witze reißt über das gegenwärtige Establishment, auch
Helge Schneider nicht, schon gar nicht ein Fuzzi wie dein Afdler.
Siff klingt übrigens ein wenig nach Ungeziefer, wie bei diesen
rechten Arschlöchern nicht anders zu erwarten. Und überhaupt der
Sauberkeitsfimmel, anale Phase, basta. Ich wollte ja etwas finden,
was sich loben ließe, ist mir aber nicht gelungen, das genus
admirabile liegt bis auf weiteres außerhalb meiner Reichweite. Also
doch wieder genus humile. Eine Einladung kurz vor Weihnachten hat
mich auf Juli Zeh gestoßen, so dass ich mir ihren Scheinwälzer von
Unterleuten angetan habe. Das sei also ferne! Immerhin, wir waren in
der Höhle des etablierten Löwen, bei einem Professor, seinem
plebejischen Weib und einem befreundeten Ehepaar gelandet, er
Spirituosenhersteller, sie Redakteurin. In diesem Prachtschuppen
lagern ca. 20.000 Bücher, der Norbert, wenn ich mir den Namen
richtig gemerkt habe, waschechter Altachtundsechziger, persönlicher
Freund vom alten Habermas und als Knabe mal beim alten Heinrich Böll
zu Besuch gewesen, und dem alten Cohn-Bendit mal ein Glas Rotwein in
die Fresse geschüttet, Herrgott haben die diskutiert, damals
achtundsechzig! [B. Karl Decker]
["Schein und Sein", Siegfried Feid (2014)]
VI.
Splitter
Auf
welcher Basis urteilen wir über andere? Von welcher Warte aus? Der
Mensch milderen, unzerklüfteten Gemüts urteilt anders als ein
verhetzter. Der
eine beurteilt den anderen unter fast ausschließlich
wirtschaftlichen Gesichtspunkten, wieder ein anderer hat den
medizinischen Blick oder den therapeutischen, trainerhaften, fragt,
wie wohl es dem Gegenüber ist oder wie unwohl bei seinem Leben,
jemand Dritter sieht ihn unter dem Gesichtspunkt der Liebesfähigkeit.
Und wieder ein anderer bemisst seine Nähe oder Ferne zur Religion.
Oder überhaupt nur, ob er mit einem im Gleichklang oder
Gleichschritt ist, wobei bloße Differenz schon missfällt.
Sehr
oft bleibt dasjenige komplett ausgeblendet oder nur
flüchtig-unverbindlich tangiert, worüber wir nicht imstande sind
mitzureden. Und das kann dem anderen aber sein Wichtigstes, ihn Tag
und Nacht Beschäftigendes sein. So beurteilt man ihn nach dem ihm
selber lästigen Rest. Der Streifen der Gemeinsamkeiten kann recht
schmal sein, sodass man aufs Wetter zu sprechen kommen muss oder, hat
man ihn, auf den Hund, der als Thema sich immer anbietet, um
Verlegenheiten zu überbrücken. Auch macht es einen Unterschied, ob
ein Belesener urteilt oder ein Wenigleser. Wenigleser können gute
Lerner sein, wenn sie hauptsächlich nur lesen, was sie zu ihrem
Fortkommen brauchen, Auswendiglerner von Skripten. Aber auch ein in
etwas Bewanderter, gar im Leben insgesamt Bewanderter wäre ein
Pendant zum Leser: ein Lebens-Leser.
Diese
Hintergründe sind immer mit zu sehen, wenn wir mit Urteilen über
uns, aber auch mit eigenem Urteilen es zu tun haben. Das Ausmaß im
Verkennen eines anderen kann riesig sein. Wie auch die jeweilige
Unkenntnis des einen vom Gebiet und den Faszinationen des anderen.
Hat
man eine Vorstellung von dem, was "gesunder Menschenverstand"
genannt wird, bedeutet einem eine solche Formulierung oder
Zielvorgabe, solch ein konventionelles Einverständnis etwas?
So
wird ein anderer als weltfremd oder verpeilt beurteilt, weil er den
ganzen Tag mit mathematischen Formeln beschäftigt ist. Nicht im
mindesten hat der Beurteilende Einblick in diese Rechnereien. Sie
bleiben ihm noch mehr verschlossen als "Finnegans Wake".
Der andere wird beurteilt nach der Krawattenwahl oder dem Chaos im
Zimmer. [Peter
Hodina]
VII.
Aus
einem Jahrbuch (Für M.)
Zur
Niederschrift in ein Jahrbuch oder, aus meiner Sicht eine
vergleichbare Bürde, in ein Poesiealbum konnte ich mich nur selten
hinreißen lassen. Einmal, es muss in meinen Grundschuljahren gewesen
sein, schrieb ich nach langem Suchen ein paar Verse in das Album
eines Mädchens, das mir als Jüngling aus damals noch
unverfänglichen Gründen am Herzen lag. In meinen ersten Jahren als
Lehrer erhielt ich dann von einigen Schülerinnen meiner sechsten
Klasse gegen Ende des Schuljahres mehrere Alben, von denen mir erst
kürzlich eines in die Hände fiel, für das ich offenbar keine Worte
mehr gefunden hatte. Später lernte ich, solche Büchlein nicht mehr
anzunehmen, da mir die Bürde mit zunehmendem Alter als nicht mehr
tragbar erschien; andererseits bin ich kein Mann der Prinzipien,
vielleicht ein Mann ohne Eigenschaften, wobei mir auch diese Annahme
nach reiflicher Überlegung allzu hochstilisiert erscheint. Die
wertvollsten Erinnerungen, so denke ich, sind die, die wir fern von
Manifestationen, sei es in Form entwickelter Lichtbilder oder in
schriftlicher Form, mit durch unsere Lebensläufe nehmen; unsichtbar
für die neugierigen Augen der Außenwelt. Und dennoch habe ich eine
gewisse Neigung sowohl zur Schrift als auch zur Fotografie als
Momentaufnahme, worunter ich auch diesen Eintrag einordnen würde –
oder, um die Eleganz der englischen Sprache ins Spiel zu bringen: »a
moment's notice«.
Ein Gedicht von Thomas Brasch mit dem Titel »Asche
und Diamant«,
das er für seine Lebensgefährtin Katharina Thalbach schrieb, hat
mich vor einigen Tagen auf seltsame Weise berührt:
Geh nicht weg, sagte sie.
Der
blaue Himmel im Kino und die Welt die nicht
mehr
ist, wie sie nie war.
Unmöglich auch nur im Ansatz darauf einzugehen, weswegen und inwiefern mich diese Zeilen berühren. Aller Anmaßung zum Trotz fürchte ich fast, die Zeilen dieser Momentaufnahme zu begreifen – und bin auf ebenso seltsame Weise dankbar dafür, dass ich dies niemandem zu erklären brauche. [Liana Helas]
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