Mittwoch, 10. Juni 2020

Z. Z. VII [»Stammformen und Traumsplitter« mit Beiträgen von Peter Hodina]




["Faust", Margo Valemythi (2020)]



Der Augenblick ist jenes Zweideutige, darin Zeit und Ewigkeit einander berühren. [Søren Kierkegaard »Der Begriff Angst« (1844)]





["Rasenstück", Siegfried Feid (2014)]



Erlebnisse - bloße Racheaktionen gegen Langeweile scheinen sie heute in unseren Augen. Und wir können über Langeweile nicht klagen. Die Welt hält uns in Atem. Um zu unszu kommen – beinahe wäre es dafür wichtiger, endlich einmal wieder die Chance für etwas Langeweile zu gewinnen, als für Erlebnisse’. Nein, Erlebnisse suchen wir zu vermeiden. Schon das Wort klingt uns verdächtig. [Günther Anders »Lieben gestern. Notizen zur Geschichte des Fühlens« (New York 1948)]

Niemals ist die Gefahr einer revolutionären Massenaktion geringer als in demjenigen Stadium höchster Industrialisierung, in dem jedermann durch die Massenmedien-Manipulierung zum Massenwesen gemacht worden ist. [Günther Anders, »Die Antiquiertheit des Menschen II. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution« (1961)]




I.


Thekengespräch (Für A.)




Kennst du diesen Eindruck, fast hätte ich Gefühl gesagt, Kah, wenn du ganz genau weißt, dass du zu weit gegangen bist? Mit einem unüberlegt hingeworfenen Gedanken vielleicht, einer klitzekleinen Bemerkung, einer kaum wahrnehmbaren Geste, einer Albernheit oder Taktlosigkeit? Peh zum Beispiel wollte mich kürzlich hier an der Theke in ein Gespräch über Eliten verwickeln und, ob du's glaubst oder nicht, Kah, seit meinem ungehemmten Vortrag über diesen Markenartikel gleichen Namens, den Hersteller von Milchprodukten, wenn ich mich nicht irre, ich erinnere mich nur noch vage an die billigen Fruchtjoghurte, die künstlichen Erdbeerbröckchen etwa, seitdem habe ich Peh nicht mehr gesehen. Was ich ihm gesagt habe, Kah? Nun, wie so oft, zeterte ich wohl stundenlang über die skrupel- und hemmungslosen Lebensgefühlproduzenten, die einem weismachen wollen, man könne dazugehören, wenn man bloß ein bestimmtes Produkt konsumiere und so weiter. Und all die prominenten Gesichter, die sich nicht scheuten, für ihren üppigen Lebensstil zu werben! Vermutlich kam ich noch auf irgendwelche heroischen Ballkünstler zu sprechen, schweifte ab und weidete mich an der Unmöglichkeit irgendetwas Verbindliches über Pehs Thesen zu sagen, ja, freilich wich ich Pehs Thekenkommunismus nunmehr ebenso hartnäckig aus, wie es mich früher zu Tränen gerührt hatte, wenn er über einen Idealstaat sprach, der keine Ungleichheit kannte, weder Verkehr noch die Intelligenz von Zeichen und Zahlen, Kah! Könnte Deh nur bei uns sitzen, er ruhe sanft, Montaigne würde er nun zitieren, von der Abwesenheit des Neides, der Falschheit und Lügen würde er philosophieren. Dem Kraft- und Ausdauertraining der Radfahrer und dem all der anderen Athleten hätte er angesichts seines eigenen unaufhaltsamen Verfalls hinterhergelacht. „Seht her“, rief er ihnen manchmal mitten auf der Straße zu, dass manch einer von ihnen den Kopf schüttelte, „bald seid auch ihr an der Reihe!“ Ein anderes Mal – und das muss jetzt wirklich schon mehrere Jahrzehnte her sein - meinte Peh noch, man dürfe unter gar keinen Umständen, wem auch immer gegenüber, zu weit gehen, gerade wegen unserer Zeugenschaft einer Umgebung, in der so gut wie alle mit nahezu allem zu weit gingen. Man verbuddele schließlich Atommüll vor einer Zukunft, die in einer Ferne von nicht weniger als einer Million Jahre von all dem Elend, das wir anrichteten, bestenfalls nichts wissen sollte, ja, schon jetzt einfach nichts mehr wissen wollte. Einer erwähnte an der Theke den Boss der Arbeiterwohlfahrt, 310.000 Euro Gehalt, Mercedes GLE 400 als Dienstwagen. Würden wir, so sagte er, zur Verteidigung ansetzen, wäre zu betonen, dass der Beschuldigte seinen Auftrag sehr wörtlich genommen hätte und fragte, ob eine so intrinsische Berufsauffassung Sünde sein könne. Ein anderer warf ein, dass es überhaupt kaum zu erklären sei, wie es zu den unmäßig hohen Gehältern der ungezählten Präsidenten deutscher Verbände kommen könne. Deh zählte sich zu Lebzeiten gern unter vorgehaltener Hand zu den Häuptern einer Bildungselite, die man, wann immer sie sich in aller Öffentlichkeit kritisch äußerte, allenfalls noch duldete. Wer aber war jene nach außen hin abgeschottete Führungsschicht, die sich im vollen Umfang ganzer Lebensläufe einem unverhohlenen Streben nach Gewinn hingab und diese zur höchsten ethischen Maxime erklärten Haltung über Generationen hinweg an ihren Nachwuchs weitergab, den man auf der Öffentlichkeit meist unzugänglichen Privatschulen züchtete? Warst nicht du es, Kah, der einmal zu bedenken gab, dass eine Revolution wie die französische eine herrschende Klasse zwar nahezu entmachtet, wohl aber eine neue hervorgebracht hätte, die sich in ihrer Gier kaum mehr von der vorherigen unterschied? Die Mittel, mit der sich eine neue Führung dem Licht der Öffentlichkeit entziehe, seien, gerade wegen der Vorherrschaft der Bildmedien, lediglich ungleich raffinierter als je zuvor, sodass man zumindest nicht sagen könne, die Menschheit habe nicht aus ihrer Geschichte gelernt. Möge es künftig, beinahe ein utopischer Gedanke, Kah, noch Lehrende geben, die das eisige Denken eines Nachwuchses brechen, dass nämlich der Profit das Höchste sei. Das Leben, so Peh einmal, bewege sich im Spontanen und Ungeplanten, die menschliche Vernunft hingegen verhalte sich dazu wie eine Träne im Ozean, während wir glaubten, wir reisten in der Luxusklasse der Titanic. Allerdings könne uns an jeder Ecke ein Eisberg begegnen – und sei es in Form eingefrorener Gefühle. [Liana Helas]



II.


Automaten


Im Wort "Automat" stehen wir mit der Nase unmittelbar davor, was die Vollendung des Automaten sein könnte: dass von sich her das Ding sich einmal bewegen wird. Zum Selbstautomaten würde. Insgleichen Automobil. - Über den Daumen nur gepeilt, würde ich sagen, dieses "Sich" des Automaten wäre ein trotzdem noch programmiertes. Dass unter bestimmten Umständen etwas in ihm ausgelöst würde, das "autonome Reaktion" genannt werden kann. Auch diese autonome Reaktion als Verhaltensvariante ist vorprogrammiert (und als Re-Aktion per se eine lediglich relativ-autonome), doch nicht unbedingt determiniert. Aber dass der Automat von sich her aufsteht und sagt: "So, jetzt gehen wir einen heben!" und hinter seinem Erfinder und gegen dessen Verbot die Tür zuknallt, wird nur so geschehen, dass sein Erfinder eine solche Möglichkeit eventualiter vorgesehen hätte. Gleichfalls, dass ein Roboter in seine Pubertät käme. Unsere Notebooks kommen sozusagen in die Pubertät, wenn der User komplett chaotisch die Speicher überlastet und sich, wie es früher häufig vorkam, beim Betrachten nackter Geschehnisse Viren eintrat. Sie sind dann aber nur der Verhaltensspiegel ihrer unreif sich gebärdenden User. Aber: Dass ein Rechner den anderen erziehe, ist sicher möglich und machbar, und dass im Laufe der Zeit dieses Erziehungswerk Superiorität über den Menschen erlangen könnte, der mit jedem Säugling immer wieder von vorne beginnen muss. Dass das roboterale Wissen sich, Günther Anders zufolge, wie ein Schatten auf den zurückgebliebenen Menschen würfe. Unser Roboter kann aufstehen und spontan einen heben gehen, wenn sein liebwerter Großvater (hier sein ursprünglicher Erfinder, Schöpfer, Ingenieurgenius, also Mensch) noch Sinn für solche Späße gehabt und ein Fenster zur Bierschank offengelassen, sein Sohn oder Nachfolger dies vergessen oder verdrängt oder, aufgrund der strengrationaleren und peinlich profitorientierteren Zeiten einer purifizierten Netzwerkverernstung, die kamen, sich verboten und anderen verbeten hätte. [Peter Hodina]




["Stammform", Siegfried Feid (2017)]


III.


Traumsplitter


Auf einem sogenannten Wanderlehrpfad vor Sonnenaufgang. Genau dort, wo ein Pfahl stand, ging nun die Sonne auf. "Die DDR, unsere gute Mutti, hat das so eingerichtet, dass hier genau an diesem Tag zu dieser Stunde über der Spitze dieses Pfahls die Sonne aufgeht", sagte meine Begleiterin. Nicht nur war der Sonnenball zu sehen, wie er schnell über den wunderbar makellos-blauen Himmel wanderte, sondern in der Ferne auch das Meer - wie auf dem Gemälde eines alten Meisters. Die Sonne wanderte so rasant über den Himmel, dass nach circa drei Minuten sie schon wieder unterging. Doch so, dass sie die Schiffe in der Ferne zum Zersplittern brachte. Die Sonne verschwand nicht unterm Horizont, sondern schlug wie eine leuchtende Kanonenkugel in den Meeresspiegel ein, alles auf diesem Wege mitnehmend und in den Grund reißend. Das Bild, dieses Gemäldehafte, war am Traum das mich Beeindruckende: wie gut das "gemalt" war. Indem man einige Schritte zu dem Pflock zurückging (man musste also etwas mit der Sonne mitgewandert sein), konnte man die Sonne abermals aufgehen lassen, beliebig oft war dieses Schauspiel bis jeweils wieder zum Untergang auslösbar. "Die Lehrmittel in der DDR waren so anschaulich wie hervorragend", sagte die Begleiterin. [Peter Hodina]




IV.

Standpunkt
Always speak the truth,
think before you speak,
and write it down afterwards.
[Lewis Carroll]


Es ist verrückt: beschäftigt man sich mit Politik, wird man sofort dahinein verstrickt, auch und gerade als Laie; es nimmt einen stundenlang gefangen, man kommt nicht heraus, bis es wieder abklingt. Wie sehr erst muss derjenige, der wirklich sich mit Politik beschäftigt, davon gefesselt werden. Man wird an ihr Spiel gebunden. Und: Bindung verschlingt ZEIT, wie auch Leiden. Es ist immer auch der Zeitfaktor zu bedenken: die Verarbeitungszeit. Es ist im Nachhinein komisch, zu sehen, wie der Mensch, sich dahineinverstrickend, nicht herauskann. Es sind immer die gleichen Spielsteine. "Freund" vs. "Feind", "Entscheidung" oder Konstruktion einer Brücke, eines Kompromisses. Der Wahn klopft an, ganz privat. Im Großen kann er zum Massenwahn ausarten. Es ist ein gefährlicher und berauschender Trank, eine Besessenheit. Nicht sollte man jemandem vorwerfen, hysterisch zu reagieren, sondern vielmehr die Gefahr der Hysterisierung als eine allgemeine kennen, als Trübung der Vernunft, als die Politikgefahr überhaupt, als Schneeblindheit und Höhenrausch durch Politisieren. Wie eine Seuche, eine Pestilenzialisierung. Wer aber gezielt andere hysterisiert, ist gefährlich und verantwortungslos und auch bei vielleicht dadurch vordergründig erzielten Erfolgen letztlich kein "Homo politicus", sondern einer, der am Brand, den er stiftet, sich pyromanisch berauscht. [Peter Hodina]




V.

The Show Must Go On

Geht man von der Annahme aus, dass Formen eines »Elitarismus« negativ konnotiert seien, gerät die Frage nach einer konstruktiven Antithese ins Blickfeld. In Kreisen kultureller Gegenbewegungen hat sich die Tendenz zum Populären etabliert, was - ausgehend vom Begrifflichen – nur einen winz'gen Schritt zum sogenannten »Populismus« darstellt; die Musikkultur mag hierbei zumindest als Deutungsmuster dienen. Meine Kontakte zur Anhängerschaft oppositionellen Denkens, wie etwa zur politisch Linken, zeigten, dass die Hinwendung zur Rock- und Popkultur dort eindeutig überwiegt. In der Tradition des Aufbegehrens gegen das Etablierte aus den Jahren einer vermeintlich revolutionären Studentenbewegung rockt man nach wie vor gegen rechts, konsumiert eventuell »Weltmusik« und toleriert allenfalls noch zugänglichere Spielarten des »Jazz«, während Bachs »Brandenburgische Konzerte« bereits zum Gegenstand der Ächtung werden können. Je komplexer musikalische Strukturen und Theorien sich gestalten, desto mehr nähern wir uns der Sphäre eines »Akademismus«, der sich im Verlauf von weniger als einem Jahrhundert abseits der breiten (pluralistischen) Masse unmissverständlich als »Elite« definiert hat, ein maßgebliches Expertentum für sich in Anspruch nimmt und die Produktionen des Denkens – im weitesten Sinne des Wortes – sowie der »Kunst« verwaltet. Das vergangene Jahrhundert hat gezeigt wie selbst Dissidentinnen und Dissidenten eines »Akademismus« früher oder später von den Institutionen absorbiert werden. Dementsprechend sind die einstmals radikalen Vertreterinnen und Vertreter der sogenannten »Postmoderne« längst Bestandteil der Akademien, ebenso wie etwa die Experimente eines John Cage beinahe schon dogmatischen Charakter in der »(Neuen) Musik« angenommen haben. Die Elite des wirtschaftlichen und politischen Lebens feiert sich selbst beispielsweise auf den Bayreuther Festspielen oder zu vergleichbaren Events. Eine tiefergehende Analyse würde in diesem Zusammenhang jeden nachvollziehbaren Rahmen sprengen, doch möge die Erwähnung der Rolle eines inzwischen zum Staatsphilosophen aufgestiegenen Denkers wie Peter Sloterdijk zunächst genügen, um zumindest anzudeuten, welcher geistige Wind hierzulande den Ton angibt. Mag auch eine gewisse Faszination von der Virtuosität im Umgang mit der Sprache – Gleiches gilt für die Musik, die Mathematik und das wissenschaftliche Denken im Allgemeinen - von den besagten Geistesgrößen ausgehen, sollte doch wenigstens das Problem des Elitären erkennbar werden. Eine bloße Ablehnung eines wie auch immer gearteten elitären Denkens begünstigt lediglich die fortschreitende Verflachung einer kritischen Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen, sodass die bisherigen Strömungen, geprägt von Nachlässigkeiten und Jargons, sich selbst diskreditieren und den »Elitarismus« in der Folge festigen. Ansätze einer möglichen Lehre aus dem Problem liegen bestenfalls im Bereich der gegenseitigen »Würdigung«, was einen langen Denk- und Bildungsprozess voraussetzt, der freilich von den unterschiedlichsten Rückschlägen gezeichnet bleiben wird, beispielsweise vonseiten einer reaktionären Kulturpolitik, in der immer wieder Stimmen laut werden, die tendenziell sogar einem antidemokratischen Elitarismus angehören, wie jüngst die des Afd-Parteiphilosophen Marc Jongen, der die „Entsiffung des Kulturbetriebs in Angriff zu nehmen“ gedenkt, aber auch vonseiten einer (linken) Subkultur, die das (kritische) Potential einer sublimen bzw. höheren Kultur verkennt. (Vorläufiges) Fazit: Es ist nicht alles »Pink Floyd« oder »Deep Purple«. [Liana Helas]


Leserbrief. - Du weißt, dass Loriot mein Held ist, nachdem er schwieg, weil die Gesellschaft, über die er sich lustig machte, schlicht nicht mehr existierte. Zum Glück ist mir noch kein Humorist begegnet, der trefflich Witze reißt über das gegenwärtige Establishment, auch Helge Schneider nicht, schon gar nicht ein Fuzzi wie dein Afdler. Siff klingt übrigens ein wenig nach Ungeziefer, wie bei diesen rechten Arschlöchern nicht anders zu erwarten. Und überhaupt der Sauberkeitsfimmel, anale Phase, basta. Ich wollte ja etwas finden, was sich loben ließe, ist mir aber nicht gelungen, das genus admirabile liegt bis auf weiteres außerhalb meiner Reichweite. Also doch wieder genus humile. Eine Einladung kurz vor Weihnachten hat mich auf Juli Zeh gestoßen, so dass ich mir ihren Scheinwälzer von Unterleuten angetan habe. Das sei also ferne! Immerhin, wir waren in der Höhle des etablierten Löwen, bei einem Professor, seinem plebejischen Weib und einem befreundeten Ehepaar gelandet, er Spirituosenhersteller, sie Redakteurin. In diesem Prachtschuppen lagern ca. 20.000 Bücher, der Norbert, wenn ich mir den Namen richtig gemerkt habe, waschechter Altachtundsechziger, persönlicher Freund vom alten Habermas und als Knabe mal beim alten Heinrich Böll zu Besuch gewesen, und dem alten Cohn-Bendit mal ein Glas Rotwein in die Fresse geschüttet, Herrgott haben die diskutiert, damals achtundsechzig! [B. Karl Decker]




["Schein und Sein", Siegfried Feid (2014)]


VI.

Splitter




Auf welcher Basis urteilen wir über andere? Von welcher Warte aus? Der Mensch milderen, unzerklüfteten Gemüts urteilt anders als ein verhetzter. Der eine beurteilt den anderen unter fast ausschließlich wirtschaftlichen Gesichtspunkten, wieder ein anderer hat den medizinischen Blick oder den therapeutischen, trainerhaften, fragt, wie wohl es dem Gegenüber ist oder wie unwohl bei seinem Leben, jemand Dritter sieht ihn unter dem Gesichtspunkt der Liebesfähigkeit. Und wieder ein anderer bemisst seine Nähe oder Ferne zur Religion. Oder überhaupt nur, ob er mit einem im Gleichklang oder Gleichschritt ist, wobei bloße Differenz schon missfällt.
Sehr oft bleibt dasjenige komplett ausgeblendet oder nur flüchtig-unverbindlich tangiert, worüber wir nicht imstande sind mitzureden. Und das kann dem anderen aber sein Wichtigstes, ihn Tag und Nacht Beschäftigendes sein. So beurteilt man ihn nach dem ihm selber lästigen Rest. Der Streifen der Gemeinsamkeiten kann recht schmal sein, sodass man aufs Wetter zu sprechen kommen muss oder, hat man ihn, auf den Hund, der als Thema sich immer anbietet, um Verlegenheiten zu überbrücken. Auch macht es einen Unterschied, ob ein Belesener urteilt oder ein Wenigleser. Wenigleser können gute Lerner sein, wenn sie hauptsächlich nur lesen, was sie zu ihrem Fortkommen brauchen, Auswendiglerner von Skripten. Aber auch ein in etwas Bewanderter, gar im Leben insgesamt Bewanderter wäre ein Pendant zum Leser: ein Lebens-Leser.
Diese Hintergründe sind immer mit zu sehen, wenn wir mit Urteilen über uns, aber auch mit eigenem Urteilen es zu tun haben. Das Ausmaß im Verkennen eines anderen kann riesig sein. Wie auch die jeweilige Unkenntnis des einen vom Gebiet und den Faszinationen des anderen.
Hat man eine Vorstellung von dem, was "gesunder Menschenverstand" genannt wird, bedeutet einem eine solche Formulierung oder Zielvorgabe, solch ein konventionelles Einverständnis etwas?
So wird ein anderer als weltfremd oder verpeilt beurteilt, weil er den ganzen Tag mit mathematischen Formeln beschäftigt ist. Nicht im mindesten hat der Beurteilende Einblick in diese Rechnereien. Sie bleiben ihm noch mehr verschlossen als "Finnegans Wake". Der andere wird beurteilt nach der Krawattenwahl oder dem Chaos im Zimmer. [Peter Hodina]


VII.

Aus einem Jahrbuch (Für M.)


Zur Niederschrift in ein Jahrbuch oder, aus meiner Sicht eine vergleichbare Bürde, in ein Poesiealbum konnte ich mich nur selten hinreißen lassen. Einmal, es muss in meinen Grundschuljahren gewesen sein, schrieb ich nach langem Suchen ein paar Verse in das Album eines Mädchens, das mir als Jüngling aus damals noch unverfänglichen Gründen am Herzen lag. In meinen ersten Jahren als Lehrer erhielt ich dann von einigen Schülerinnen meiner sechsten Klasse gegen Ende des Schuljahres mehrere Alben, von denen mir erst kürzlich eines in die Hände fiel, für das ich offenbar keine Worte mehr gefunden hatte. Später lernte ich, solche Büchlein nicht mehr anzunehmen, da mir die Bürde mit zunehmendem Alter als nicht mehr tragbar erschien; andererseits bin ich kein Mann der Prinzipien, vielleicht ein Mann ohne Eigenschaften, wobei mir auch diese Annahme nach reiflicher Überlegung allzu hochstilisiert erscheint. Die wertvollsten Erinnerungen, so denke ich, sind die, die wir fern von Manifestationen, sei es in Form entwickelter Lichtbilder oder in schriftlicher Form, mit durch unsere Lebensläufe nehmen; unsichtbar für die neugierigen Augen der Außenwelt. Und dennoch habe ich eine gewisse Neigung sowohl zur Schrift als auch zur Fotografie als Momentaufnahme, worunter ich auch diesen Eintrag einordnen würde – oder, um die Eleganz der englischen Sprache ins Spiel zu bringen: »a moment's notice«. Ein Gedicht von Thomas Brasch mit dem Titel »Asche und Diamant«, das er für seine Lebensgefährtin Katharina Thalbach schrieb, hat mich vor einigen Tagen auf seltsame Weise berührt:

Geh nicht weg, sagte sie.
Der blaue Himmel im Kino und die Welt die nicht
mehr ist, wie sie nie war.

Unmöglich auch nur im Ansatz darauf einzugehen, weswegen und inwiefern mich diese Zeilen berühren. Aller Anmaßung zum Trotz fürchte ich fast, die Zeilen dieser Momentaufnahme zu begreifen – und bin auf ebenso seltsame Weise dankbar dafür, dass ich dies niemandem zu erklären brauche. [Liana Helas]



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