Mittwoch, 20. März 2024

Z. Z. XLVII [»Der Tag, an dem ich beinahe Chuck Berrys Gitarre hätte tragen dürfen« aus »Songs About Cars And Girls« von Peter Metz]

 


Haight-Ashbury, wir kommen (2023)«, Goedart Palm]



I grew up thinking art was pictures until I got into music and found I was an artist and didn't paint.

[Chuck Berry]




[Roll over Beethoven]


The Big Band Era is my era. People say, 'Where did you get your style from?' I did the Big Band Era on guitar. That's the best way I could explain it.

[Chuck Berry]


I wanted to play blues. But I wasn't blue enough. I wasn't like Muddy Waters, people who really had it hard. In our house, we had food on the table. We were doing well compared to many. So I concentrated on this fun and frolic, these novelties.

[Chuck Berry]



Der Tag, an dem ich beinahe Chuck Berrys Gitarre hätte tragen dürfen


Natürlich nur beinahe. Aber ohne mich hätte die Eröffnungsfeier vielleicht nie stattgefunden. Denn als ich hörte, dass unsere Agentur Chuck Berry für die Eröffnungsfeier der Leichtathletikweltmeisterschaft 1993 in Stuttgart engagiert hatte, bewarb ich mich sofort. Jede Form des Anbiederns war mir ja zutiefst zuwider, aber hier machte ich eine Ausnahme. Ich wollte sein Fahrer sein oder seine Gitarre tragen, eins von beiden. Ich bekam den Job. Ich sollte Chuck Berry vom Flughafen Stuttgart abholen und zu seinem Auftritt bei der Eröffnungsfeier begleiten. Eigentlich hätte Liza Minelli Nordamerika vertreten sollen, aber die hatte gerade wieder einen Aufenthalt in der Betty-Ford-Klinik gebucht, und so engagierte Andreas, unser cholerischer Chef, kurzerhand Chuck Berry. Hektische Faxe gingen in der Woche vor der Eröffnungsfeier zwischen unserem Büro und Chucks Management hin und her. Wie immer wollte Chuck, der es vorzog, mit leichtem Gepäck zu reisen, eine lokale Begleitband, und die fünf Stuttgarter Musiker, die auserwählt worden waren, mit der lebenden Legende zu spielen, wollten wissen, welche Songs sie üben sollten. Chucks Management antwortete lakonisch, die örtliche Band solle mit Chuck Berrys Repertoire vertraut sein, denn Chuck-Berry würde auf jeden Fall Chuck-Berry-Songs spielen.

Der Tag, an dem ich vielleicht Chuck Berrys Gitarre würde tragen dürfen, kam, und ich fuhr mit Annette, unserer blonden Assistentin für Öffentlichkeitsarbeit, im grossen BMW nach Stuttgart. Bei Heilbronn fing Annette nervös in ihrer Handtasche an zu kramen, fluchte und zischte zwischen den Zähnen hervor: „Wenn Andreas das erfährt, rastet er aus.“ Ich beachtete das nicht weiter, denn ich mochte Annette nicht besonders.

Am Flughafen trafen wir zuerst Andreas, der direkt von einem Termin in Barcelona einflog, dann schlenderte aus der Zollabfertigung ein langer, hagerer, schwarzer Mann mit Gitarrenkoffer auf uns zu: Chuck Berry, neben seinem Gitarrenkoffer eine kleine Sporttasche als einziges Reisegepäck, an seiner Seite ein untersetzter Weisser mit Walrossvisage: sein Bassist, ein alter Kumpel, den er spontan mitgenommen hatte.

Er liess seinen Gitarrenkoffer selbstverständlich keine Sekunde aus den Augen, wie er überhaupt ein äusserst misstrauischer und ständig auf der Lauer liegender Mann war. Er weigerte sich schon am Flughafen, sich von einem Chauffeur fahren zu lassen und bestand darauf, den vom Hauptsponsor bereit gestellten Wagen selbst zu lenken, was den für das Auto verantwortlichen Daimler-Mitarbeiter in sichtliche Verlegenheit setzte: ohne Zweifel hätte er fristlos seine Stelle verloren, wenn Chuck das Fahrzeug an einen Baum gesetzt hätte. Dass Chuck alles über das erst kurz zuvor auf den Markt gekommene Modell wusste, beruhigte ihn; dass Chuck drohte, im Falle einer Verweigerung sofort ins nächste Flugzeug zurück nach St. Louis einzusteigen, machte ihn nervös; und 100 D-Mark, die Andreas ihm zuschob, beruhigten sein Gewissen; Chuck bekam seinen Willen.

Andreas, Annette, der Mann von Daimler und ich fuhren also im BMW durch Stuttgarts Vororte und die Innenstadt zum Neckar-Stadion, hinter uns bei katastrophalen Verkehrsverhältnissen Chuck Berry und Walross-Willy.

Ja, Chuck Berry brauchte keinen Chauffeur, er brauchte nur jemanden, der ihm vorausfuhr in einer fremden Stadt und der ihm den Weg wies zu dem Ort, wo er auftreten sollte. Chuck Berry brauchte auch keine Tourband und keinen Lastwagen, der sein Equipment herumfuhr. Er reiste mit nichts als seinem Gitarrenkoffer, liess sich vom örtlichen Veranstalter einen 100-Watt-Verstärker bereitstellen und erwartete von den lokalen Begleitmusikern nicht mehr und nicht weniger, als dass sie mit seinem Repertoire vertraut waren.

Im Athletendorf verloren wir ihn das erste Mal. Ich musste rückwärts durch hektisch hin und her eilende Aufbauhelfer, Leichtathleten und Funktionäre bis zum Küchenzelt fahren, wo er den Wagen angehalten hatte, um durchs Wagenfenster mit einer der jungen Frauen, die im Catering arbeiteten, zu flirten. Dann folgte er uns zu den Parkplätzen, holte seinen Gitarrenkoffer vom Rücksitz, marschierte in die Stadiongarderobe, eine simple Umkleidekabine mit den typischen an den Wänden befestigten Sitzbänken aus schmalen Holzlatten, nur ergänzt durch einen mit einer weissen Papierdecke bezogenen Biertisch, auf dem Plastikbecher und Fruchtsafttüten standen, die dem ganzen einen Charme von „Jugend trainiert für Olympia“ verliehen. Das war Chuck Berrys Garderobe! Ich will’s mal so sagen: Liza Minelli wäre rückwärts wieder rausmarschiert!

Chuck nahm die Kabine anstandslos in Betrieb, begrüsste die Band, Walross-Willi klopfte mitleidig dem lokalen Bassisten die Schulter, sagte: „Sorry, Boy, I’m the bass player tonight“ und schickte ihn aus der Umkleidekabine.

Chuck besprach kurz den Auftritt, das heisst, er teilte der lokalen Band mit, dass er vertraglich verpflichtet sei, drei Chuck-Berry-Songs zu spielen und dass er genau das tun werde, nicht mehr und nicht weniger, ohne in Details zu gehen, etwa: welche drei Songs er zu spielen gedenke. Dann machte er sich mit dem für den amerikanischen Kontinent vorgesehenen Bühnenpodest vertraut, spielte alleine ein paar Takte und wünschte dann, ins Hotel zurückzufahren, um mit seinem Kumpel, dem Bassisten, vor dem Auftritt noch etwas zu essen.

In der düsteren Empfangshalle des Interconti Stuttgart eilten Heerscharen britischer und amerikanischer Leichtathleten durcheinander. Chuck sicherte für sich und Walross-Willi einen kleinen Tisch und bestellte für beide ein Steak. Beim Beilagensalat zitierte er meinen Chef zu sich. Ohne nähere Erklärungen forderte er eine sofortige Vorauszahlung von 300 US-Dollar in bar auf seine sechsstellige Gesamtgage, widrigenfalls er sich weigern würde, die Bühne zu betreten, Eröffnungsfeier, 70.000 im Stadion, eine Milliarde an den Bildschirmen hin und her. 300 $ in bar, oder die Eröffnungsfeier fände ohne Chuck Berry statt. Andreas hatte das bereits vorausgesehen, denn Chuck war für solche Launen im Showgeschäft nur zu gut bekannt, und er hatte bereits eine Woche zuvor entsprechende Vorkehrungen getroffen. Nachdem Andreas scheinbar klein beigegeben hatte, schlenderte er lässig zu uns herüber und sagte:

Annette, gib mir mal die 300 $!“

Annette hyperventilierte: „Andreas, also, die 300 $, weisst du, heute Morgen war alles so hektisch, ich muss die im Büro vergessen haben.“

Der Chef explodierte, überschüttete Annette mit einem Schwall übelster Beleidigungen und Kündigungsandrohungen, murrte schliesslich: „Alles muss man selbst machen!“, zog mit Unheil verheissender Miene ein Bündel D-Mark-Noten hervor und bewegte seinen gedrungenen, tatkräftigen Cholerikerkörper zur Rezeption. Den sich dort abspielenden Dialog konnte ich aufgrund des allgemeinen babylonischen Sprachwirrwarrs nicht wörtlich verfolgen, doch verrieten der sich in krampfhafter Haltung weiter kontrahierende korpulente Körper und das Mienenspiel meines Chefs, dass dieser einen für ihn ungünstigen Verlauf nahm. Wutentbrannt kehrte er zu unserem Tisch zurück.

Der behauptet, er hätte keine Dollar. Das ganze Hotel voller Amerikaner und der behauptet, er hätte keine Dollar.“

Er war am Überkochen. Plötzlich starrte er mich an: „Jetzt kommt’s auf dich an. Jetzt hat nur noch die Wechselstube am Hauptbahnhof geöffnet.“

In der Tat: es war 17.00 Uhr, die Banken an einem Freitagabend längst geschlossen, der Weg zum Hauptbahnhof in bestenfalls 20 Minuten zu schaffen; jetzt, zur Hauptverkehrszeit war die Fahrt in den berüchtigten Kessel der Stuttgarter Innenstadt kaum in weniger als einer Stunde zu bewältigen, und der Rückweg würde wegen des Grossereignisses eher noch länger dauern.

Und um 19.00 Uhr sollte Chuck zum Auftritt bereit stehen!

Ich wusste, dass ich all diese Gegengründe meinem Chef nicht darlegen musste, denn dessen einzige Antwort wäre ein weiterer Wutanfall gewesen, der in dem ceterum censeo kulminieren würde: „Es ist mir scheissegal, wie und woher du das Geld nimmst, aber bring es!“

Er drückte mir das Notenbündel in die Hand, ich sprang ins Auto und motorvierte über die Stuttgarter Hügel in den Talkessel.

Jetzt ist Stuttgart topografisch gesehen ja ein Arschloch. Wie immer man in die Innenstadt fährt, man muss irgendeinen Buckel hinunterfahren und an der tiefsten Stelle liegt dann der Bahnhof und da treffen sich dann alle.

Die Fahrt trug jedenfalls nichts zur Besserung meines ohnehin angespannten Verhältnisses zum schwäbischen Volkscharakter bei. Verzögertes Anfahren an der Ampel, stures Beharren auf nicht vorhandenem Vorfahrtsrecht, und konsequentes Ignorieren meines immer wieder zwecks Dokumentierens meiner Wichtigkeit aus dem Fenster geschwenkten Durchfahrtsscheins mit dem Logo der WM. Endlich kam der Hauptbahnhof in Sicht. Ich stellte den BMW in zweiter Reihe mit Warnblinker ab und stürmte durch die Bahnhofshalle. Ich kam kaum durch die Tür zur Wechselstube, so standen dort die Inhaber der exotischsten Währungen Schlange. Japaner, Inder, Brasilianer, Anhänger der Teams von Norwegen und Australien.

Verdammter, völkerverbindender Sport“, fluchte ich innerlich. Endlos schienen die in Wahrheit wohl nur sieben bis acht Minuten, die ich warten musste, bis ich an der Reihe war, und schrecklich war der Gedanke, der Schalterbeamte würde direkt vor mir den letzten Dollar-Schein ausgeben. Und mit Yen oder Peso würde Chuck sich nicht zufrieden geben, das stand fest! Endlich hatte ich das Bündel grüner Noten in den Händen. Der BMW war nicht abgeschleppt, und mit einigen tollkühnen Fahrmanövern gelang es mir, noch vor 18.40 Uhr wieder im Interconti zu sein. Mein Boss riss mir das Geld aus den Händen, zählte es Chuck wenig delikat auf den Tisch, woraufhin dieser im selben Moment aufstand, seinen Gitarrenkoffer, der die ganze Zeit neben ihm am Stuhl gelehnt hatte, schnappte und zum Auto ging, Walross-Willi im Schlepptau. Die mitsamt ihrem unglücklichen Bassisten wie auf Kohlen sitzende lokale Band sprang auf, als Chuck die Umkleide betrat. Man begab sich, während die anderen Kontinente bereits ihr Programm abspulten, an den angewiesenen Platz hinter der Bande eines der Zugänge zum Stadioninnenraum. Chuck hatte sich in sein Auftrittsoutfit geworfen. Nun tigerte er in den wenig vorteilhaften, knallengen weissen Synthetikschlaghosen wie ein Sprinter vor dem Start herum. Nur wenige Zentimeter von mir entfernt erlebte ich seine lange, schlaksige Gestalt, seine extrem grossen Hände, seine Spinnenfinger, erlebte ich Chuck Berrys Lampenfieber.

Endlich kam der Aufruf für Amerika. Die Gitarre in der einen, die Stange der Laufbahnumzäunung in der anderen Hand, setzte er im Seitstrecksprung, oder wie immer der turnerische Fachausdruck dafür lautete, über die Bande und spurtete zu seinem Bühnenpodest, wo die Band bereits angespannt wartete. Mit einem hässlichen Geräusch stöpselte er seine Gitarre in den Verstärker, spielte eine Triolenfigur über einen schrägen Jazzakkord, und mit einem Zwinkern in den Augenwinkeln, emporgezogenen Brauen und einem schelmischen Grinsen sang er in die Pause, in die überraschte Stille der 70.000 Zuschauer, der Athleten auf dem Rasen und der lokalen Band die entscheidenden elf Worte: „Just like to hear some of that Rock and Roll Music.“

Walross-Willi winkte der Band mit seinem Schnauzbart zu und gab so das Zeichen zum Einsatz, und, ja, wenn es wirklich drauf ankommt, sich zu bewegen, geht nichts über Rock’n’Roll Musik. Und das dachten tatsächlich alle im Stadion: sie hüpften und schleuderten ihre Beine fort, die Teams aus Nicaragua und Holland genauso wie die Fans aus dem Senegal und der Türkei. Und Chuck Berry spielte drei Chuck Berry-Songs, „Sweet Little Sixteen“ und „Roll over Beethoven“ oder etwas in der Art, und nach acht Minuten war die Show vorbei. Chuck stürmte munter, als wäre er 20 Jahre jünger, über die Bande, verstaute die Gitarre im Koffer, den Koffer auf dem Rücksitz des Mercedes und dann war er in die schwäbische Nacht verschwunden. Und ich durfte zwar nicht seine Gitarre tragen, aber irgendwie war es auch mir zu verdanken, dass die Eröffnungsfeier nicht ins Wasser fiel.


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