Samstag, 19. November 2022

Z. Z. XXXVII [»Weisse Handschuhe« von Walter Graf (2017)]

 


[»Waiting For Lloyd«, Goedart Palm (2022)]



It's better to have something to remember than anything to regret.

[Frank Zappa »The Real Frank Zappa Book« (1989)]




Weisse Handschuhe


Es musste schon gegen vier Uhr morgens gewesen sein, als ich, von der Spiegelgasse her kommend, beinahe mit Christof zusammengestossen wäre, der an der Ecke des Cafés Schober auf mich gewartet zu haben schien. Wenn man jahrein, jahraus durch die Gassen der Altstadt tippelt, kann sich von selbst eine Bekanntschaft mit einem der Anwohner ergeben; da ist weiter nichts dabei. Christof wohnte, obwohl er mindestens so alt war wie ich, noch mit seiner Mutter zusammen, die schon lange ein Pflegefall gewesen wäre. Er kümmerte sich jedoch selber um sie, weil er als Frührentner keiner Arbeit nachzugehen brauchte.

Ich trat, als wir einander begrüssten, einen Schritt zurück. Christof, der immer mit gedämpfter Stimme sprach, als würde er einem ein Geheimnis anvertrauen, hatte die lästige Angewohnheit, sich nahe an einen heranzuschieben. Er war untersetzt und hatte einen massigen Lockenkopf. Seine weissen Gummihandschuhe schimmerten matt in der Dunkelheit. Ohne mir mein zunehmendes Befremden anmerken zu lassen, liess ich seinen Redeschwall über mich ergehen. Ich hörte ihm schon deshalb zu, weil es auch Zeiten gab, in denen er kaum ein Wort hervorbrachte. Dann traf man ihn mitunter monatelang nicht mehr draussen an. Nachts, wenn ich am Brunnen vorüberging und einen Blick zu seinem Fenster hinaufwarf, hob er höchstens eine seiner schlaffen Hände, mit denen er sich auf das Gesims stützte, zum Gruss. Dann zog er wieder wochenlang Nacht für Nacht um die Häuser und spielte den Ordnungshüter im Quartier. Jetzt, wo er lange genug Trübsal geblasen hatte, war er wieder einmal in eine Phase hektischer Betriebsamkeit getreten.

Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was er mir sagen wollte. Christof hatte seinen Nachbarn, der seit einiger Zeit nicht mehr nachhause gekommen war, im Verdacht, ein Dieb zu sein. Entweder befand er sich im Gefängnis oder auf der Flucht vor der Polizei. Laut Christofs Mutter wurde die verlassene Wohnung bald von einem neuen Mieter bezogen. Deshalb habe er das Kellerabteil seines Nachbarn ausgeräumt und all seine Sachen, bei denen es sich bestimmt um lauter Diebesgut handle, auf einen Haufen geworfen. Nun habe er, da seine Mutter keine Polizei im Haus dulde, gedacht, dass ich diesen Haufen einmal inspizieren könnte. Dagegen hatte ich nicht viel einzuwenden: „Warum nicht? Wenn es nicht zu lange dauert…“

Christof wohnte gleich gegenüber. Er zog einen schweren Schlüsselbund hervor und öffnete das halbhohe Eisentor des Hauseingangs. Vor der Haustüre stiess er schimpfend ein Fahrrad, das im Weg stand, beiseite und liess mich eintreten. Er gebärdete sich, als er mich zur Kellertüre führte, wie ein Hausmeister, der dafür verantwortlich war, dass die Hausordnung eingehalten wurde. Ich folgte ihm, nachdem er das Licht angezündet hatte, die Treppe hinunter, deren Stufen unter unseren Schritten knarrten. Ein modriger Geruch erfüllte den Raum, der durch schwärzliche Lattenverschläge unterteilt wurde. Christof zeigte mir das leerstehende Abteil seines Nachbarn. Er hatte tatsächlich alles, was darin aufbewahrt worden war, hinausgeworfen und auf dem Fussboden zu einem Haufen zusammengescharrt. Während er sich abwartend im Hintergrund hielt, ging ich ein paarmal um den Haufen herum und zupfte hie und da etwas daraus hervor, sei es eine Videokassette, ein Taschenbuch oder eine Zeitschrift. Jetzt wurde mir auf einmal klar, warum Christof Handschuhe trug: er wollte keine Fingerabdrücke hinterlassen.

Inzwischen war es für mich wieder an der Zeit, einen Schluck Schnaps zu trinken. Da ich Christof ohnehin nicht für voll nahm, tat ich mir seinetwegen keinen Zwang an, zog meinen Flachmann aus der Brusttasche und setzte ihn an. Dann bückte ich mich nach einem Buch, dessen Umschlag mir ins Auge gesprungen war, und blätterte interessiert darin. Es handelte sich um den Roman „Albino“ von Bruno Schnyder, der anfangs der Achtzigerjahre erschienen war. „Aha“, sagte ich, „so einer ist das also gewesen…“, und steckte das Buch, obwohl seine Seiten von der Feuchtigkeit gewellt waren, kurzerhand ein.

Ich sagte es ja!“, ereiferte sich Christof: „Ein Sausack!“ Er trat einen Schritt vor und stocherte mit der Fussspitze in dem Durcheinander von altem Gerümpel herum, bis er auf ein quadratisches Foto von splitternackten Frauen stiess, die, eng zusammengepfercht, nebeneinander hockten. „Sieh dir nur mal das an!“ An das Originalcover des Doppelalbums von Jimi Hendrix erinnerte ich mich noch so gut, dass ich es mir gar nicht näher anzuschauen brauchte. „Was sagst du nun? Passt doch alles zusammen“, fügte Christof hinzu und angelte mit der Fussspitze ein zerknülltes T-Shirt hervor, auf dem ein nackter Mann, der auf dem Klo sass, abgebildet war. „Oder nicht?“ Dieses Bild von Frank Zappa hatten wir früher einmal als Poster an unsere WC-Türe gehängt.

Christof wollte mich nun, wo ich schon einmal da war, seiner Mutter vorstellen, die zwar im Bett, aber sicher noch wach sei. Sie sollte wohl sehen, dass ein Wachmann sich der Sache, die sie und ihren Sohn beunruhigte, angenommen hätte; der Anblick meiner Uniform sollte ihr das Gefühl geben, dass etwas gegen ihren Nachbarn in die Wege geleitet würde. So folgte ich ihm durch das enge Treppenhaus in den dritten Stock hinauf. Christof, der nicht an Besuch gewöhnt zu sein schien, war sichtlich aufgeregt. Er führte mich in einen dunklen Gang. Vor dem offenen Wohnzimmer, in dem ein Fernseher ohne Ton lief, blieb er stehen und rief mit gedämpfter Stimme: „Ich habe den Zerberus-Mann mitgebracht, um mit ihm nach dem Rechten zu sehen!“ Dann führte er mich an der Küche vorbei, in der noch ein Licht über dem Gasherd brannte, und öffnete die Türe zu seinem Zimmer.

Komm nur herein.“ Die Einrichtung des Zimmers machte mir einen so ärmlichen Eindruck, dass ich zögerte, seiner Aufforderung nachzukommen. Auf der Schwelle stehenbleibend, liess ich meinen Blick über die kahlen Wände schweifen, die einen trüben Gelbstich hatten. Einzig hinter dem Bett war die Wand geschmückt, aber nur mit ein paar Fetzen aus alten Zeitungen. Als Christof sah, worauf mein Blick gefallen war, erklärte er lächelnd: „Das sind eben meine Helden!“ Ich trat näher an sein Bett heran und beugte mich vor. Auf den Schwarzweissfotos, die er sich als Junge ausgeschnitten haben musste, waren Hugo Koblett und andere Radrennrennfahrer aus den Sechzigerjahren zu sehen. Das war freilich etwas anderes als die nackten Weiber und die drogensüchtigen Rockstars seines Ex-Nachbarn.

In diesem Augenblick liess sich die heisere Stimme der alten Frau vernehmen, die im Wohnzimmer lag: „Stoffel!“ „Meine Mutter“, flüsterte Christof und beeilte sich, ihrem Ruf zu folgen. Ich sah mich, während er beruhigend auf sie einredete, vergeblich nach Büchern und Flaschen in seiner trostlosen Bude um. Hier gab es nichts, was mich zum Bleiben einlud. Als Christof vom Bett seiner Mutter zurückkehrte, stand ich wieder auf der Schwelle und schaute auf meine Uhr. „Tut mir leid“, sagte er. „Ich muss sie aufs WC bringen.“ Er wies mich zur Wohnungstür und begleitete mich an die Treppe. Als ich mich, froh, so glimpflich davongekommen zu sein, von ihm verabschiedete, flüsterte er noch mit einem verhaltenen Grinsen: „Meine Mutter sagte, die Zerberus-Leute seien auch nichts…“ …auch nichts wie wer? Sie hatte wohl die Polizei gemeint, von der sie schon x-mal enttäuscht worden sein mochte.


1 Kommentar:

  1. Es macht mich trostlos, weil so perspektivlose Leben nebeneinander stehen. Eine sehr bewegende Beschreibung. Vielleicht hätte ich die Erzählform in der dritten Person vorgezogen, denn der Erzähler lebt in einer vergleichbaren Lebenssituation wie die beschriebenen. Er lässt sich nicht auf die Situation ein sondern weicht ihr aus.

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