Freitag, 20. März 2020

Bzw. ۲ ۳ ۸ [Serenity - метаморфозы 5 (для Франц Кафка)]




["Hamburger", Siegfried Feid (2019)]


Er frißt den Abfall vom eigenen Tisch; dadurch wird er zwar ein Weilchen lang satter als alle, verlernt aber oben vom Tisch zu essen; dadurch hört dann aber auch der Abfall auf. [Franz Kafka, »Nachgelassene Schriften« (1918)]



["Zentrum der Macht", Siegfried Feid (2018)]





Er ist ein freier und gesicherter Bürger der Erde, denn er ist an eine Kette gelegt, die lang genug ist, um ihm alle irdischen Räume frei zu geben und doch nur so lang, daß nichts ihn über die Grenzen der Erde reißen kann. Gleichzeitig aber ist er auch ein freier und gesicherter Bürger des Himmels, denn er ist auch an eine ähnlich berechnete Himmelskette gelegt. Will er nun auf die Erde, drosselt ihn das Halsband des Himmels, will er in den Himmel, jenes der Erde. Und trotzdem hat er alle Möglichkeiten und fühlt es, ja er weigert sich sogar, das Ganze auf einen Fehler bei der ersten Fesselung zurückzuführen. [Franz Kafka, »Nachgelassene Schriften« (1918)]






5


 Gregor,
 heute zum ersten Mal wieder so etwas wie Inspiration gespürt, du kennst das sicherlich, wenn das Gefühl weg ist, kann man sich nicht vorstellen es jemals wieder zu haben, und wenn es da ist, ist es ganz klar.
Es meldet sich gewöhnlich mit meinen üblichen Obsessionen. Nr. eins, mein Held geht an einem monströsen Parkplatz vorbei, der perverserweise beinahe das komplette Zentrum der Kleinstadt einnimmt, eigentlich logisch, weil drumherum eingekauft wird, genauer gesagt, geshopt, du weißt, dass das meinen Erzählnerv kitzelt ... Dabei ist es ein Ritual und sollte mit meinem Verständnis rechnen. Shopping ist so etwas wie das Herausreißen von Herzen bei (erst noch) lebendigem Leib, vorzugsweise eigens dazu herangezogener Prinzen und Prinzessinnen. Nicht, dass die Priester die Herzen äßen und davon, ich betone, davon fett würden. Das sind sie durch die gewöhnliche privilegierte Lebensweise der Elite, ganz normales Fett, sozusagen. Mein Held geht an diesem Parkplatz vorbei, den irgend eine Fernsehshow vollständig mit Ambulanzen beparkt hat, jedes einzelne der Hunderte geparkter Autos ein monströser Krankenwagen in den üblichen grellen Signallackierungen, etwa auf die Art, die Wagen im Stau von Mr. Hulo, nicht gerade mit Martinshorn, im Gegenteil, sozusagen ganz normal geparkt. Eine Art Showmaster tritt an den Passanten heran, um ihn zu fragen, ob ihm in der Stadt am heutigen Tage etwas Besonderes aufgefallen sei. Es ist ihm nichts aufgefallen. Wie ich in die Geschichte noch einbringen könnte, dass Krankenwagen seit Kindertagen zu den Schrecken zählen, die ihn in unzähligen Alpträumen heimgesucht haben, weiß ich nicht, wie gesagt, ich bin ja selber der Held, Krankenwagen gehören zu meinen Obsessionen; dafür taub sein zu können, erhöht meiner Ansicht nach ihren Schrecken.
Wundere dich nicht, dass ich ein paar Schritte weiter an einem Leichenwagen vorbeikam, den der Bestatter auf dem Parkplatz vor seinem Laden lüftete. Von einem Leichenwagen überfahren zu werden, gehört, glaube ich, schon zum Repertoire, woran ich erkenne, dass die Inspiration im Abklingen begriffen war; ich hatte dann noch eine weitere, dem Gefühl nach eine strukturelle, an die ich mich aber wegen des fehlenden Bildes nicht erinnern kann. Meine Seele ist irgendwie in Aufruhr, ich weiß nicht, was es ist, werde meine Nase in den Wind halten. Es wurmt mich auch etwas und ich weiß nicht, wann die Beule, in der dieser Wurm heranwächst in seinem Eiter, platzt. So nebenbei hatte ich gestern aus der eigenartigen Abwesenheit heraus, die mich befällt, einen kleinen Verkehrsunfall. Die Sache ist völlig ohne irgendeine Aufregung an mir vorübergegangen; am heftigsten fühlte ich den damit einhergehenden Zeitverlust. Dabei muss die arme Frau, der ich die dämliche Beule gefahren habe, ja viel mehr Zeit aufbringen, während ich bloß einmal mit der Versicherung telefoniert habe und wahrscheinlich einen Brief lesen muss, in dem sie mir die Erhöhung der Prämie mitteilen. Material für eine unsere Spinnereien wäre die Tatsache, dass ihr Bordcomputer meldet, dass ich ihr den Abstandsmelder kaputt gefahren habe. Irgendein Vogel kreist über mir, ich wollte, es wäre ein Schutzengel, wüsste aber, wenn die neuerdings schwarz wären. Schließe mich in dein Abendgebet ein.
Dein Max


Max,
Schöpfung aus dem Shop, etwa aus den News des tagtäglichen Trashs im Net zu holen, Instantschöpfung mit einer kleinen Plastikkelle als Gimmick, vielleicht gibt dir das noch ein mehr wenig Inspiration. In meinem Abendgebet gratulierst du Franziskus zu seiner guten Absicht, seinen brandneuen Lambo meistbietend zu einem weltverbessernden Zweck zu versteigern, beispielsweise bei Christie's, wo man schließlich gerade Leonardos Christus für 450.000.000$ dem großen Unbekannten preisgab. Bemerkenswert ist des Weiteren, dass sich Moderatorinnen, deren Namen ich mir nicht merken kann, regelmäßig frisch verlieben; gewiss leben sie alle in den moderaten Häusern, die ihre Liebhaber ihnen kaufen und deren Preis letztlich, wie nahezu alles andere auch, beliebig ist. Die Beliebigkeit diktiert die Abendgebete in gleichem Maße wie den Alltag, in dessen Belanglosigkeit sich gelegentlich kleine Intrigantinnen mengen, die ihre libidinösen Störungen dem lyrischen Ich obsessiv entgegenschleudern. Über eine dieser Intrigantinnen schreibt der Held gewiss, sobald ihm die Sinne danach stehen und sofern ihm zwischenzeitlich nicht eine andere beliebige Begebenheit dringlicher erscheint. Übrigens habe ich mich längst in diese Art Briefroman verliebt, die sich mit jeder Art von Alltäglichem bis hinein ins Weltalltägliche verbinden lässt, das von Wurmlöchern (und anderen Spinnereien) bekanntlich nur so strotzt. Einen sehr poetischen Abstandsmelder fand ich jüngst im Vorwort zu Tennessee Williams' "Cat on a Hot Tin Roof",  wovon ich dir bei unserer nächsten Begegnung gern Näheres, Person-to-Person gewissermaßen, berichten will.


Bzw.,
G.


Post scriptum: Vierzig Tage. - »Noli me tangere« lautet die Parole, das Zeichen, ja, der Schlachtruf gekrönter Zeitläufte, welchen wir unsere Kränze spenden. [Z. Z.]



(Vorläufiger) Epilog



Einmal wurde Kafka gefragt, ob er so einsam sei wie Kaspar Hauser. "Viel einsamer", antwortete er, "ich bin so einsam wie Franz Kafka."
Ob es ihm je auch so gegangen sei, wie Mick Jäger, wollte ein Freund Gregors wissen, dass er niemanden finde, der ihn befriedigen könnte. "Nein", sagte Gregor, "ich finde erst niemanden, der ein Verlangen in mir weckte." - "Echt jetzt, und du bist sicher, du hast nicht, ich meine, über so was kann man heute offen reden. Verstehst du, wenn du dich nicht richtig fit fühlst, das ist das erste, was ich bei meinem Urologen auf'm Plakat lese. Nicht dass du meinst, bei mir wär's schon so weit, ohne Scheiß' jetzt, ich glaube, das geht sogar auf Kasse." - "Gab's das Zeug nicht schon immer, hieß nur anders und war bestimmt auch primitiver, auf den Groschenheften hinten, wo's auch immer was gegen Haarausfall gibt und diese Seniorenmobile?"
Das Gespräch hatte eine Wendung genommen, bei der es dem Freund nicht mehr recht geheuer war. Irgendwie war ihm an diesem Tag das Wort satisfaction durch den Kopf gegangen, wie er Gregor erzählt hatte, und dann war der Ohrwurm von dem alten Lied da und wollte nicht mehr verschwinden. Alte Zeiten, herrje! Gregor erinnerte sich, dass er einmal eine Weile an dem Wort herumgekaut hatte, die Stones hatten für ihn etwas Onkelhaftes, und er fragte sich, was ihn eigentlich gegen sie aufbrachte. Ernstlich von ihnen hörte er erst, als man von ihnen gehört haben musste. Kennst du das und das? Er jedenfalls kannte es nicht, konnte sich auch nicht vorstellen, dass man all die englischen Texte verstehen könnte. Satisfaction konnte man auch nicht übersetzen, das klang nach Aufklärung und Oswald Kolle. Tatsächlich müsste man mal überprüfen, ob es in dem Lied wirklich auch darum geht. Manchmal bildete man sich Sachen ein und blieb drauf hängen. Gregor kannte das. Wenn es aber so war, dass Mick Jagger keine Befriedigung finden konnte, das was ihn und seine Jungs daran hinderte, hatten sie jedenfalls gehörig aus dem Weg geräumt. Irgendwie klangen alle sexuellen Wörter auf Deutsch nach Ehehygiene und FKK, Erregung, ein peinliches Wort. Und es traf auch nicht die Sache, auf höchst ärgerliche Weise sogar. Wer hatte nicht Erektionen zu den unpassendsten Gelegenheiten, beispielsweise aus bloßer Müdigkeit! Excitement, dachte Gregor, oder was er neulich einmal ausprobierte, auch weil er es aus einem Lied kannte, sogar aus einem ziemlich alten: thrill. "Das sag mal auf Deutsch", sprach er zu sich selber, so wie er es oft tat, besonders seit er sich zu einem guten Kameraden geworden war. Es war nicht so, dass man selber einfach versagte. Man steckte darinnen in einer Blase aus Versagen. So musste es Menschen im Mittelalter gegangen sein, die sich umzingelt sahen von einer unbegreiflichen Natur, von einem unfassbaren Mangel an allem Möglichen. Dabei gab es immer auch welche, die keinen Mangel litten, und die gesegnet waren mit Wissen. Es hatte etwas damit zu tun, dass man eine Barriere überwand, das hatten wohl auch die Stones gemacht, und Millionen Fans konnten diese Barriere auf diese Weise auch für sich überwunden finden. Das war wie in den alten Mythen, es genügte den Ritus exakt zu vollziehen, und er entfaltete seine Wirkung. Eingeweiht musste man allerdings sein, Gregor war es nicht, diese Weihe hatte er nicht empfangen. Er wusste es, dass er nicht darum gebeten hatte, was man eben dann doch tun musste. Niemand erteilte dir irgendwelche Weihen, wenn du nicht wenigstens das Haupt senken willst. Lerne also die angesagten Sachen und bringe sie vorsichtig ein, so dass die anderen nicht merken, dass es eine gelernte Sache ist. Sie wollen nicht an ihre eigene Demütigung erinnert werden. Vergleiche darfst du schon gleich gar nicht anstellen, weshalb der Freund auch irgendwie bereute das Thema angeschnitten zu haben. Gregor war komisch, ein netter Kerl eigentlich, aber komisch. Andauernd kam man mit ihm in komische Situationen, bei den einfachsten Sachen eigentlich.

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