Donnerstag, 27. Februar 2020

Bzw. ۲ ۳ ۶ [Moaning - метаморфозы 3 (для Франц Кафка)]




["Bandsäge", Siegfried Feid (2019)]



Die Erfindung des Teufels. Wenn wir vom Teufel besessen sind, dann kann es nicht einer sein, denn sonst lebten wir, wenigstens auf der Erde, ruhig, wie mit Gott, einheitlich, ohne Widerspruch, ohne Überlegung, unseres Hintermannes immer gewiß. Sein Gesicht würde uns nicht erschrecken, denn als Teuflische wären wir bei einiger Empfindlichkeit für diesen Anblick klug genug, lieber eine Hand zu opfern, mit der wir sein Gesicht bedeckt hielten. Wenn uns nur ein einziger Teufel hätte, mit ruhigem ungestörtem Überblick über unser ganzes Wesen und mit augenblicklicher Verfügungsfreiheit, dann hätte er auch genügend Kraft, uns ein ganzes menschliches Leben lang so hoch über dem Geist Gottes in uns zu halten und noch zu schwingen, daß wir auch keinen Schimmer von ihm zu sehen bekämen, also auch von dort nicht beruhigt zu würden. Nur die Menge der Teufel kann unser irdisches Unglück ausmachen. Warum rotten sie einander nicht aus bis auf einen oder warum unterordnen sie sich nicht einem großen Teufel? Beides wäre im Sinne des teuflischen Prinzips, uns möglichst vollkommen zu betrügen. Was nützt denn, solange die Einheitlichkeit fehlt, die peinliche Sorgfalt, die sämtliche Teufel für uns haben? Es ist nur selbstverständlich, daß den Teufeln an dem Ausfallen eines Menschenhaares mehr gelegen sein muß als Gott, denn dem Teufel geht das Haar wirklich verloren, Gott nicht. Nur kommen wir dadurch, solange die vielen Teufel in uns sind, noch immer zu keinem Wohlbefinden. [Franz Kafka, »Tagebücher« (1912)]




["Neue Schuhe", Siegfried Feid (2019)]



Es ist gut denkbar, daß die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereitliegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft. [Franz Kafka, »Tagebücher« (1921)]







3


Veronika wankte aus dem Badezimmer zurück zum Bett. Kein Geruch, obwohl sie sofort nach dem Duschen wieder schwitzte. Oder war der Geruch so komplementär, dass sie ihn nicht bemerkte? Mit all ihrer Patina beugte sie sich den in mühsamer Sorgfalt entstandenen Laubsägearbeiten entgegen, ließ sich sehr viel Zeit, berührte die Verzierungen sanft und zart. Veronika verweilte, unbekümmert ihrer Nacktheit vor Rahmen und Regalen, vor Tuschezeichnungen und Siebdrucken von Freunden aus Jugendtagen.
In Momenten des Innehaltens tauchte unvermittelt das gewitzte, kantige Gesicht des Malermeisters Max auf. Die mit Kaffeepulver auf welliges Papier getuschten Gefäße, das erdige Himmelsgestirn vor bläulichem Hintergrund beschleunigten die Aufeinanderfolge solcher Momente. Manchmal waren sie einfach nur zugegen; kaum nahm man sie wahr. Dann aber rasten die Erinnerungsbilder in Lichtgeschwindigkeit über zahllose Synapsen, Schaltstellen dessen, was irgendwann einmal erlöschen und Raum für andere Gestirne, andere Formationen von Erscheinungen lassen würde.
Veronikas Innehalten bereitete mir eine Gänsehaut (cutis anserina), ja, erschütterte mich für eine Weile. Derartige Erregungen, wie sie nur sehr selten, etwa beim Erlebnis geistlicher Musik, auftraten, erschreckten mich, machten mich fassungslos. Jemand, eine Fremde, wandte sich den Relikten eines in den Ruhestand versetzten, mal müden, mal erleichterten Jägers und Sammlers zu, dessen aufnehmende Sinnesapparatur ansonsten ausschließlich auf die Mundhöhle und die Spitzen seiner beiden Fühlerpaare verteilt waren. Die Erschütterung wuchs schließlich, als sie mir meinen plötzlich ausgetretenen Schweiß behutsam von der Stirne tupfte.
Ausschließlich dem Malermeister Max verdankte ich die zahllosen Ermutigungen, meine Laubsägearbeiten zu vervollkommnen, weiterhin nächtelang an den Verzierungen etwa der Schallplattenregalsysteme zu arbeiten, an deren obere Ränder ich in akribischer Feinarbeit teils Jahreszahlen, teils kurze, kalligraphisch gestaltete Bezeichnungen hineingeschnitzt hatte, die ich mit schwarzem Lack hervorhob, um flink die gewünschte Tagesstimmung herzustellen, sie zu untermalen, wie Max sagte, oder aber sie augenblicklich einzufangen. So zumindest war dies einmal gewesen.
Unablässig betastete Veronika das Relief des Wortes Reinheit auf einem der schmaleren Regalelemente mit ihrem linken Daumen, als wollte sie das Wort selbst zum Klingen bringen. Endlich hatte sie sich offenbar für ein Exemplar entschieden, das ihre Aufmerksamkeit für mehr als einen Moment gefangen nahm. "Musica Viva Pragensis. Trio pro Housle, Violu a Violoncello", las sie mit gedämpfter Stimme, fast fragend, vom Schallplattencover ab. Erwartete sie eine Erklärung? Statt einer Erwiderung bat ich sie, die Schallplatte in das Regal mit der Aufschrift 1967 einzuordnen. Ohnehin war es mir nicht mehr möglich, Schallplatten abzuspielen, da mich unerfindliche Gründe davon abhielten, den Riemen des einst hochwertigen Abspielgerätes zu ersetzen.
Gedankenverloren folgte Veronika meiner Aufforderung und setzte ihr Studium meiner für Außenstehende vermutlich nur schwer nachzuvollziehenden Klassifizierungen fort: Getreidespeicher, Puppen und Tenöre, Frauenabteilung, Belustigungen, Überzeugungstreue, Huld, Narrheiten, Ringkämpfe, Tagessorgen, Kopfschütteln, Vielseitigkeit, Hemmung, Bewegungsfreiheit, Ausdrucksweise, Versorgungen, Mond und Menschen.
Quer verteilt über das aus rund drei Dutzend Elementen bestehende Regalsystem befanden sich außerdem die Jahreszahlen von 1957 – 1975. Mehr als dreißig Jahre waren nunmehr vergangen, in denen ich mich zunehmend Verwesungserscheinungen widmete, die Laubsägearbeiten aber auf nahezu sträfliche Weise vernachlässigt hatte. Unter beinahe physischen Qualen war es mir schließlich gelungen, mich von der Geißel des Sammelns zu lösen, mit der wir die Leerstellen unseres Daseins zu füllen vermeinen, manch einer mit Modelleisenbahnen, andere mit Briefmarken oder etwa, wie beispielsweise Lasemann, der ehemalige Nachbar meiner Eltern, mit leeren Deodosen und anderen Aerosolprodukten aus bereits damals immerhin schon fast fünf Jahrzehnten Industriegeschichte.
Immer seltener überkam mich dieses unerklärliche Gefühl von Wehmut, wenn ich die Schattenwesen auf dem Schallplattencover des Prestige Jazz Quartet betrachtete oder von dem Model auf You get more bounce with Curtis Counce träumte und mir leibhaftig vorstellte, wie es mit seinem Stethoskop meinen Brustkorb abhörte oder mich zu kecken Doktorspielen verführte, von denen ich mich hie und da gern belustigen ließ.
In diesem Moment war es Veronika, die jene alte Leidenschaft in mir zum Leben erweckte, was mich jäh an die unsäglich durchtriebene Masche mit der Briefmarkensammlung erinnerte. Wer, fragte ich mich andererseits sofort, würde wohl in hundert Jahren noch diese eigentümliche Art von Erregung empfinden, wenn er den Geiger auf der Pfote King Kongs vor Augen hätte oder einen forschenden Blick auf den graziösen Grashüpfer von Katy Lied würfe beziehungsweise wer würde jemals wieder eine Telefonzelle benutzen?
Was könnte da für eine Geschichte erzählt werden? Vor mir liegt eine, wie ich finde, wenig ansprechende tannengrüne Mappe mit circa zwanzig Blatt beschriftetem Papier, bestehend aus Ergänzungen, Einfügungen und Korrekturen, die mich momentan eher abschreckt. Wenn man Eier abschreckt, sollten diese innerhalb von zwei Tagen verbraucht werden. Ich fürchte, dass ich, im Falle einer weitergehenden Bearbeitung des Manuskripts, zwangsläufig faule Eier produzieren werde, weswegen es, so denke ich, einigen frischen Wind benötigen würde, um dem Gestank von Ammoniak rechtzeitig entgegenzuwirken. Auch hierfür habe ich in weiser Voraussicht bereits einige Essenzen vorbereitet, die den Gestank überdecken, ihn einhüllen mögen mit dem Duft der Jugend, wie ein Alchemist es täte, der angetrieben von der Illusion der Ewigkeit, das Irdische und Vergängliche vergoldet.
Veronika etwa kannte meinen Hang zur Übertreibung, fürchtete ihn anfangs auch. Herumzualbern musste für sie etwas Fröhliches sein. Hinter meiner Methode grundsätzlichen Übertreibens witterte sie Auflehnung, Distanz und Kritik. Bin ich ein Feigling, weil ich die Dinge nicht beim Namen nenne? Im Ernst, ihr hättet also jemals etwas beim Namen genannt! Dann bitte schön, wie heißt das, wenn ein Mädchen am Morgen aus dem Badezimmer kommt und du kennst sie nicht. „Ich bin's, Veronika, jetzt komm, hör auf!“ Eben war es noch ein Spiel, für Veronika eines unserer Spiele, an die sie sich gewöhnt hatte.
Wovor man sich beispielsweise in die Gestalt eines Käfers flüchten mochte, das war die Frage, warum man denn die andere Frau nicht verlasse, da man doch sie liebe, "oder sagtest du nicht heut' Nacht, du liebtest mich, los, heraus mit der Sprache!" Veronika war auf das Bett gesprungen in ihrem weißen Bademantel, mit dem Turban, ebenfalls blütenweiß, duftend nach Frische und strahlend wie dieser herrliche Morgen im April. So kniete sie über mir, ein anderes Handtuch wie einen Knebel um meinen Hals schlingend, jeder wusste, was diese Art von Folter mit einem machte, Käfer hin oder her, von dem faulen Apfel ganz zu schweigen. Ja, ich liebte sie, warum stellten wir uns die Aufgabe, eine und nur eine Frau zu lieben, was lag daran, selber nur einer und der eine zu sein. Ich würde niemals etwas unternehmen um herauszufinden, ob Veronika mir treu war, was sie schluckte, nur sollte ich mir nicht einbilden, dass sie in dieser Hinsicht mit mir übereinstimmte. Sie heiße so und so, mit mir so und so lange verheiratet, zwei Kinder, erwachsen, wenigstens das, wohnhaft dort und dort, Telefonnummer, "los, wir rufen an! Und hör auf mit dem Gealbere, das ist nicht lustig, woher hast du überhaupt die Idee mit dem Apfel?" Und Fronilein durfte ich sie in solchen Augenblicken auch nicht nennen. "Also das Paradies, Fro..., Veronila, zwei Nackedeis wie wir, die's aber nicht merken..." - "Und ob ich was merke, sei nicht albern, deck das zu, ich merke, dass du mir ausweichst, das merke ich!"
Ich sagte ihr, ich hätte mich doch für sie entschieden, schon oft! Und übrigens würden sie die wahren Gründe, deretwegen ich mich von meiner Frau trennen würde, nicht glücklicher machen, was mich betrifft. Das war nun eine verzweifelte Sache, denn ich wollte ihr diese Gründe eigentlich nicht nennen. Wie schnell lagen die in buchstäblich jeder Beziehung vor! Und dann war die Sache im Grunde entschieden. Es ging nicht darum, Gründe zu haben, das Kind lag im Brunnen, wenn sie ausgesprochen wurden. Die Worte waren die Währung, mit der solche Angelegenheiten beglichen wurden. Nichts schlimmer als eine Frau, die auf die Frage "liebst du mich noch?" nicht mit einer konventionellen Antwort zufrieden war: Aber natürlich, das weißt du doch, Schatz!
Veronika hatte so viel Humor, den Satz mit mir im Chor zu sprechen. Sie wusste um das Heikle der L-Frage. Wenn sie gerade etwas besonders Hässliches getan hatte, fragte sie in der Rolle des hässlich gewordenen Eheweibes etwa Schwäbisch: "Liebscht mi no?", o Wollsocken der Putzfrauen in aller Welt, in denen ein Paar Männerbeine aus einer Kittelschürze herausstaken!
Männer, liebt das Hässliche an euren Frauen! Es ist eure einzige Chance. Das Schöne ist nicht schön, normalerweise nicht. Sollte eurer Frau etwas Schönes in voller Absicht gelungen sein, beschwört es nicht, lebt in diesem heiligen Moment!
Das ist so ein Gedanke, für den ich mich ungefähr einhundert Millionen Mal rechtfertigen musste. Also noch einmal: Eure Frau ist konventioneller Weise schön, wenn sie sich ein wenig Mühe gibt. Es ist übrigens fast sicher, dass sie dabei, sich schön zu machen, etwas völlig anderes im Blick hatte, als das, was ihr schön fandet.
Also durfte man Veronika bewundern, jedenfalls hin und wieder, sogar sagen warum und wofür. Eis, sage ich euch, dünnes, sehr dünnes Eis, politically, falls ihr wisst, was ich meine. Eine Frau zu bewundern bleibt bis auf Weiteres inkorrekt. Die Fassade mit dem Gomringer-Gedicht musste in dem einen Fall überpinselt werden, damit sie aus Protest dagegen noch so circa 500 Mal neu entstand, dann natürlich tatsächlich als eine schmierige Rehabilitation der Brüderles und Busengrabscher der Nation. Straßen und Blumen ging noch, Straßen und Frauen, das musste alarmieren. Glotz nicht, alter Sack! Herrgott, ein Blumenkind, oder sagen wir Blumenkinderenkelkind, eine Art Punk aus dem Kaufhaus. Also nochmal: Straßen und Blumen und Frauen. Verdammt, es musste der Plural sein! Du hattest nicht der Einen ewige Treue vertraglich zugesichert. Auch irgendwie schief, ich fragte Veronika. Warum das also eigentlich nicht gehe. Sie kannte das alte Gomringergedicht, so etwas lernte man heute in der Schule, konkrete Poesie. "Ist nicht die Tochter von dem Gomringer heute der eigentliche Star?" - "Du meinst wegen Bachmann-Preisträgerin?" - "Das weniger, mehr so, weil sie eine Poetry-Slammerin ist." Ich kannte diese Art Veronikas mich darauf zu stoßen, dass ich sozusagen alt war. Nicht so alt wie der alte Gomringer, dem es nur um die Begründung der konkreten Poesie ging, aber eben so alt, in dem was Nora, die Tochter, konkret poetisch machte, besonders den viel gelobten Vortrag, so ausgesprochen töchterlich zu finden. Der Alte war gehakt, weil 1950 und so, da durfte er als Latino irgendwas Zurückgebliebenes über Frauen flöten, zum Beispiel die Sache mit dem Bewunderer in der letzten Zeile. Die meisten Leute hatten das Wort im Urlaub schon mal gesehen, es hieß Aussichtspunkt. Es ging wohl um irgendwelches machistisches Gespanne in dem Gedicht. Von Südländern war in der Hinsicht sowieso nichts anderes zu erwarten. "Ja, und wie findest du nun, dass sie den Text überpinseln?" - "Tja, ehrlich gesagt, finde ich Männer auch schön, auch dass Männer Männer schön finden können, geht sowieso in Ordnung. Dass sie sie schön finden müssten, bevor sie auch mal eine Frau schön finden dürfen, ist so eine Art Quotenregelung. Du weißt, dass ich für Quote bin, so lange die Welt so ungerecht ist, wie sie ist. Also gebt euch einen Ruck, Jungs, vor allem sucht nach der Lyrik von heute. Das macht Nora ja auch, übrigens weiß ich, was dir an ihrem Vortrag nicht gefällt, die Gedichte sind aber gar nicht mal so schlecht."
Darum also mein Spähen nach dem Apfel, den man nach sich hat schmeißen lassen, und der einem im Rücken faulte, zynische Persiflage des Paradiesdramas. Hatte einst Eva uns noch den Apfel gereicht, falsch zwar, weil mit unserer Unterwerfung wenigstens unter Lüge und Betrug rechnend, so war es doch ein süßes Obst, gegen den Willen des Vaters genossen, der uns im Stand der Unschuld gefangen halten wollte. Nackt waren wir, doch unsere Blöße war bedeutungslos. Welche Nacktheit aber war das, die sich ihrer bewusst wurde! O süßer Duft der Verheißung! Was drohte, wenn nicht die Rückverwandlung in den Stand der Unschuld und des Gehorsams!
Warum ich so bindungslos sei, wollte Veronika einmal wissen; weil die Bindungskonformen die Bedingungen der Bindung ignorierten. "Könntest du das noch einmal als Klartext formulieren?", etwas, was ich hasste und wo es galt, sich aus der Affäre zu ziehen, um dem Teufelskreis von Spannung und klärendem Gespräch zu entkommen.
Konventionelle Bindungen konsumierte man wie alles, was zur Verfügung stand oder nicht, aß man nicht auch Brot, ohne je eines gebacken zu haben? Familie, Herrje, man war auch noch darin aufgewachsen, war das jüngere oder ältere von Geschwistern, hatte den Eltern gehorcht. Nun stand man da vor dem ganzen Haufen von Betrug und Hass, den man nicht haben durfte. Oder alles war gut gegangen, was es immerhin auch geben sollte, man konnte getrost das Brot essen ohne es backen zu können. Die Milch der Schwester auch nur anzurühren, was sich in meinem Fall grundsätzlich ausschloss, mochte man den ganz Unschuldigen durchgehen lassen. Das Aroma eines faulenden Obstes war aber ganz unverkennbar. 


Intermezzo


Lieber Max, notwendigerweise übertreibe ich es je nach Antriebskraft mit allem, was mir Elohim mitgegeben hat. Die Übertreibung ist seit jeher meine Lebensdevise, wobei ich nicht mehr genau weiß, seit wann ich mir diese wertvolle Tugend auf mein Banner tagtäglicher Belustigungen geschrieben habe. Es gab sogar Zeiten, in denen die radikale Untertreibung nichts anderes darstellte als eine Übertreibung, in denen beide Haltungen sozusagen ineinanderfielen. Dass Barney Kessel die "Pet Sounds" begleitet hat, wusste ich nicht. Vermutlich hat man ihm ein ordentliches Taschengeld dafür angeboten. God Only Knows war für eine Weile ein Interimsbrenner auf meinem Abspielgerät. Im Anschluss an "Weiß wie Lilien" oder "Ziehn die Schafe" (1926) klingen die "Pet Sounds" (1966) besonders bizarr. Sonnengebräunte kalifornische Studenten planschen sich das Bewusstsein über Agent Orange aus ihren schwitzenden Poren. Was wohl geschehen wäre, wenn die Soldaten bei ihren Bombardements, beziehungsweise grundsätzlich, keine Popmusik, sondern ausschließlich Zwölftonmusik in den Ohren gehabt hätten? Pop kam (und kommt) dem Haschisch gleich, das man den türkischen Soldaten vor der Schlacht einverleibte, um den Blutrausch zu ästhetisieren. Nothing is real and nothing to get hung about. In meiner Zeit als Kellner in der Uferschenke war ich, wie du weißt, gelegentlich auch als Discjockey tätig. Wenn ich ein Stück von Anton Webern in übertriebener Lautstärke, strategisch gezielt, zwischen das beliebige "Easy Listening" pflanzte, gab es stets Szenenapplaus. Es muss so etwas wie eine Begeisterung über den Abgrund des Entsetzens geben, sofern die Dosis erträglich ist und diese dich nicht wirklich juckt.
Gregor



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