Mittwoch, 27. November 2019

S / W 12 & 13 – [عشق]



["L'Extase", Jean Benner (1896)]


Als es an der Zeit war über Liebe zu schreiben,
brach die Feder entzwei, und das Papier riss.
 [Dschalal ad-Din al-Rumi]



["Iranische Miniatur"]


Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.
 [Dschalal ad-Din al-Rumi]





12






"I was always looking
Left and right
Always crashing in the same car"
(David Bowie)



Das fremde Eigentum verwende er auch in diesem Omnibus lediglich, um seine Hinterlassenschaft in friedlicher Absicht den Insassen mitzuteilen, sofern man ihm überhaupt Audienz erteilte. Ledig sei er freilich in all den Jahren geblieben, wenngleich er einmal kurz verheiratet gewesen sei, ein Vorwand vonseiten einer Begleiterin, die es nach Almania gezogen habe; ledig sei er nun endlich auch all der Verpflichtungen, die man ihm zugemutet habe. Bei vielen weiteren Vogelweibchen habe ihn der Verdacht, sie könnten vielleicht irgendwo einen Barcode verstecken, vielleicht hinter den Ohren oder am Gesäß, meist in die Flucht geschlagen. Einmal seien sie auf einem Marktplatz mit Fähnchen in der Hand über ihn hergefallen. "CDU!, CDU!, CDU!", hätten sie ihm im Chor zugerufen, ja, skandiert hätten sie es. Einmal nur habe es ihm eine Musikantin, eine Saxophonistin, ergänzte er schmunzelnd, nach Strich und Faden besorgt, so sage man doch; geblasen habe sie, manchmal langsam, manchmal zielstrebig, gezwitschert habe sie wie eine Misteldrossel, wie eine Mönchsgrasmücke - ein kurzes Intermezzo indessen; wie eine Moorente sei er alsbald davongewatschelt, nachdem sie ihn aus ihrem Haus gejagt hätte. Gen Osten sei er geflüchtet, seiner inneren Tauchente folgend, untergetaucht sei er in diesem Omnibus. Eine sanftmütige Frau mittleren Alters habe lange in der Reihe vor ihm am Fensterplatz gesessen und ihren Kopf oft auf die Schulter ihres Begleiters gelegt, der die meiste Zeit mit gespitztem Bleistift etwas in ein Notizbuch eintrug. "Nennen Sie mich nicht Saeed, nennen Sie mich Rosen, Volkstribun, Rienzi, nennen Sie mich Mozafer", sagte der Exilant. "Ich setzte mich zurück, lehnte meinen Kopf gegen die Wand und machte die Augen zu, als hätte ich für immer nichts mehr sehen wollen. Da hörte ich ein gewaltiges Geräusch, als hätte jemand die Anwesenden zum Abmarsch aufstellen wollen. Ich wurde neugierig, machte die Augen auf und sah, dass sich die Frau, die rechts neben mir saß, in ein großes, weißes Tuch schnaubte. Forty-five, forty-five! Where have all these years gone?, sprach sie in einem fort." In Samarkand seien die meisten Insassen ausgestiegen; man wisse nicht, warum.





13



"By this contrivance, the machinery
of my work is of a species by itself;
two contrary motions
are introduced into it, and reconciled,
which were thought to be at variance with each other.
In a word,
my work is digressive,
and it is progressive too,—and at the same time."
(Laurence Sterne)




"Die Idee eine Reinkarnation beispielsweise meines Großvaters zu sein war mir erst lange nicht auszureden. Zu verlockend ist eben die Vorstellung auf diese Weise an alten Baustellen den einen oder anderen Pfahl doch noch einzurammen, Größenwahn des Enkelknirpses, der nicht den Vater tötet, es aber besser machen will, und gar noch als der Großvater, ein regelrechter Superödipus.""Und der heiratet dann konsequenterweise seine Großmutter", das war inzwischen die Art Bäumlers einen Welck’schen Ball aufzufangen. Dieser nahm es gelassen, immerhin war es nicht leicht gewesen Bäumler überhaupt auf die Spur zu setzen. Und die Sache, um die es ging, war ja längst erledigt. Tatsächlich hatte er auch bei all seinen Versuchen mit dem G-Komplex, wie er jetzt überrascht sah, auffällig wenig der Großmutter gedacht. Herr Freud würde so seine Ansichten in Bezug auf ein derartiges Vergessen gehabt haben. Bäumler, der aus einer Tüte eine Salzbrezel aß, wobei es seine Art war akribisch mit dem feuchten Finger Krümel aufzulesen und in den Mund zu stecken, blieb interessiert, wohl auch wegen seines gelungenen Scherzes. Wie immer lachte er nicht, blickte Welck auch nicht an, sondern beschäftigte sich mit seiner Tüte, Stücke der Brezel abbrechend, wodurch es keine Pause wurde, die zwischen ihnen entstanden war. "Überhaupt", begann Welck darum, ohne sich mit der Tatsache zu beschäftigen, dass Bäumler eine Spitze gegen ihn vom Stapel gelassen hatte, "ist Reinkarnation Blödsinn, weil hochtrabend."
Reinkarnation war also hochtrabend und damit von vornherein nicht zu gebrauchen. Wiedergeborene kamen, Bäumler kannte Welcks Masche ja nun in- und auswendig, aus einem Himmel, in dem es mehr oder weniger genauso zuging wie hier auf Erden. Warum also es nicht in Gottes Namen dann als wiedergeborener Großvater versuchen. Bäumler verkniff sich die Frage, aber Welck war ohnehin nicht mehr zu bremsen. "Weil jeder sowieso schon sein wiedergeborener Großvater und so weiter ist." "War da nicht doch noch etwas mit der Großmutter?", versuchte es Bäumler dann trotzdem, wenn auch etwas lahm, und Welck überging auch dieses Mal den Einwurf kommentarlos. Überhaupt sehe man den Großvater, Vater und so weiter mit den Augen des Enkels, Kindes, was man sehe, im Grunde egal was, das sei in erster Linie man selber. Sich selber allerdings sehe man auch mit eben diesen Augen, nämlich eines selber. Herrgott, Bäumler hatte es vorausgesehen, fußkitzelnder Kitzler eines Fußes, und so weiter. "Und so weiter", sagte Welck gerade wieder. Worauf es ankomme bei der Wiedergeburt, das sei das Wissen darum an sich. Die Wiedergeborenen erkannten sich gegenseitig an gewissen Zeichen. Dieses Erkennen setzte eine gewisse Schulung der Aufmerksamkeit voraus, wobei es wie bei anderen Disziplinen auch hin und wieder solche mit einer gewissen Naturbegabung in diesem Fach gab. Normalerweise wurde das Wissen um sein Wiedergeborensein in einem äußerst langwierigen und schwierigen Prozess erworben. Man konnte sich regelrechte Kurse dazu denken, was aber in schöner Regelmäßigkeit auf besagte hochtrabende Formen wie Reinkarnation hinauslief. Dann schon lieber die Alltagsmethode, wo man sich vom anderen absah, worauf es in dieser Hinsicht ankam. Wiedergeborenen war auf keine Weise ihr Wissen um diese Tatsache auszureden, schon deshalb, weil sie nur mit Wissenden darüber sprachen. Das war nun auch nur wieder so eine Redensart, denn das Sprechen geschah gar nicht in verbaler Art, als ob man auch eine Tatsache wie diese überhaupt in Worte fassen konnte! Das war ja sozusagen der absolute Ausnahmefall. Ob Bäumler einmal Leute hätte sich darüber unterhalten hören, welche Farbe für sie Zahlen hätten? Ja, über so etwas habe er schon sprechen gehört und es noch immer für vollkommenen Blödsinn gehalten. Erstaunlich nur, dass Leute, die so drauf wären, trotz krasser Nichtübereinstimmungen im Einzelfall von der Sache insgesamt nicht abzubringen seien. "Eben", entgegnete deshalb Welck. Bestimmte Erzählungen vom Jenseits offenbarten gerade durch ihre Ausschmückungen krasses Unwissen und Wichtigtuerei. Wer Gott wirklich gesehen hatte, sprach mit der Leichtigkeit dessen, dem ein alter Mann Leid tat, der mal gerade eben zurecht kam. Höchstens dass nicht auszudenken wäre, welche Folgen der eine oder andere Schnitzer alter Leute hätte, wären sie zufällig Gott. Ob ein Beispiel gefällig sei? "Ich denke mal", entgegnete Bäumler, "Gott fährt nicht bloß Auto wie viele Alte, die's vielleicht besser lassen sollten." Welck, dem das Beispiel auch schon einmal eingefallen war, nickte beifällig. Und vom Sterben sprach er so, wie man sprechen muss angesichts der Ängste uneingeweihter Zuhörer, wobei sich sein Blick ins Weite dessen verlor, was er eben darüber wusste. Bestenfalls, dass er sich seines ersten Todes erinnerte, der ihn nicht in jene schwarze Leere geworfen hatte, als die man ihn sich vorstellt, solange man noch ahnungslos ist. 
Die Wiedergeborenen sind so wenig wiedergeboren wie der Heiland von den Toten auferstanden ist, das allerdings nur den Ungläubigen. Sie selber setzen gegen alle Realität die höhere Realität einer strikten Unmöglichkeit, die sie allen entgegenhalten, die sie auf eine schnöde Diesseitigkeit zurückwerfen wollen. Ja, alles, wofür es sich auf Erden zu leben lohnt, muss überirdisch sein. Das dann allerdings auf sehr weltliche Art und Weise, denn Religion ansonsten ist Kitsch. Darum der liebe Gott im Unterhemd und mit Hosenträgern, wie er mal wieder nicht bemerkt, dass er auf der einen Seite die Backe nicht richtig rasiert. Ein wenig im Stress ist er auch, höflichkeitshalber lässt man ihn nicht merken, dass man es mit ihm nicht mehr so genau nimmt. Er ist in dem Alter, wo andere schon lange im Heim sind; ob so etwas für Gott prinzipiell ausgeschlossen ist, wäre noch die Frage. Oder eben häusliche Pflege, ein kleines Auto mit den unvermeidlichen Aufklebern, von wegen Caritas, Pflege mit Respekt und dergleichen, sozusagen vor der Himmelstür. Der alte Herr winkt ab, Rasieren, Schuhe anziehen, sie soll einfach einen Moment bei ihm hier sitzen, bevor sie weiter müsse, in Ruhe den Eintrag in ihre Kladde machen, das gehe schon in Ordnung, schließlich sei er ja Gott. "Der liebe Gott?" - "Ja, ja, ganz richtig, der Einfachheit halber", was das Mädchen dann aber doch gar nicht zu Ende gehört hatte, sie musste weiter. Gott spielte ein wenig den lieben Gott, weil man von ihm nichts anderes erwartete, was sollte man machen? Es waren wieder jede Menge Neue zu empfangen, die einigermaßen bleich um die verblichene Nase ausschauen würden. Manche waren auch beim dritten, vierten Mal noch komisch, gewöhnen sollten sie sich wenigstens ans Sterben, wenn's auch, zugegebenermaßen, aus menschlicher Sicht nicht zu verstehen war!
Welck war Gott auf diese Weise einmal sehr nahe gekommen. Natürlich nicht beim ersten Mal. Es war Gottes Vergesslichkeit, die ihn gerührt hatte. Die anderen in der Versammlung wollten durchaus nicht glauben, dass es Gott selber war, der die Ansprache hielt und waren auch sonst einigermaßen durch den Wind.
In der Absicht den TV-14 C zu verfolgen, nutzte Bäumler die Gelegenheit das Steuer zu übernehmen, als der Busfahrer am Wegesrand Datteln kaufen wollte.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen