Dienstag, 2. April 2019

The Gas Station (Variationen) [= S / W 5.9]



["Flowers", Michelle Schneider (2019)]



I keep hearin' you're concerned about my happiness
But all that thought you're givin' me is conscience I guess
If I was walkin' in your shoes, I wouldn't worry none
While you 'n' your friends are worried about me I'm havin' lots of fun

Countin' flowers on the wall
That don't bother me at all
Playin' solitaire till dawn with a deck of fifty-one
Smokin' cigarettes and watchin' Captain Kangaroo
Now don't tell me I've nothin' to do

Last night I dressed in tails, pretended I was on the town
As long as I can dream it's hard to slow this swinger down
So please don't give a thought to me, I'm really doin' fine
You can always find me here, I'm havin' quite a time

Countin' flowers on the wall
That don't bother me at all
Playin' solitaire till dawn with a deck of fifty-one
Smokin' cigarettes and watchin' Captain Kangaroo
Now don't tell me I've nothin' to do

It's good to see you, I must go, I know I look a fright
Anyway my eyes are not accustomed to this light
And my shoes are not accustomed to this hard concrete
So I must go back to my room and make my day complete

Countin' flowers on the wall
That don't bother me at all
Playin' solitaire till dawn with a deck of fifty-one
Smokin' cigarettes and watchin' Captain Kangaroo
Now don't tell me I've nothin' to do

Don't tell me I've nothin' to do
[Lewis Dewitt]




["Small Car", Michelle Schneider (2019)]



Every chance
Every chance that I take
An' take it on the road
Those kilometers
And the red lights
I was always looking left an' right

Oh, but I'm always crashing in the same car

Jasmine
I saw you peeping
As I pushed my foot down to the floor
I was just goin' round an' round
The hotel garage
Must have been touching close to ninety-four

Oh, but I'm always crashing in the same car
[David Bowie]






5. 9 Nozzle



Die Richterin, eine bleiche Fledermaus, wie sie auf dem Gang an den Wartenden vorbeihuscht; ihre ledernen Flügel, das Gesicht zu groß für eine Fledermaus, auch die Füße, noch dazu in hochanständigen Damenschuhen mit Blockabsatz; der General, der die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Braue hebend über dem Monokel, das niemand sieht; Gewalt in seinen Gedanken, die Frau, die ihn dazu stachelt; Haldol, das in der Geschlossenen für Ruhe sorgt und einen penetranten Geruch, die Furcht vor den Ausbrüchen, die es verhindert; Conley, der sich derart in Wut schimpft, dass er das Telefon bei den Hörnern packt und es auf den Tisch schlägt, bis man seinen Inhalt rasseln hört. Da es immer noch funktioniert, reißt er die Schnur aus der Wand und das Fenster auf, wohindurch es zwei Sekunden später krachend auf der Straße landet. Herr Hoffmann, der bleich und beflissen die Einzelteile in den dritten Stock nach oben bringt, jedenfalls würde es kein weiteres Aufsehen auf der Straße geben. Die Richterin, die solche Vorkommnisse in ihr Diktafon spricht, und zwar in der ersten Person dessen, der die Aussage gemacht hat. "The fuckin' judge made me tell this rotten story and repeated it in her crazy translation probably to get it written by Mrs. Brown."

Dr. Reich, der schon vor dem Zweiten Weltkrieg Gerichtsverhandlungen mitgemacht hat. Der Richter sei ein solcher Säufer gewesen, dass man dachte seine rote Nase müsse ihm jeden Moment explodieren. Schwarz, weiß, rot seien aber die Farben der Epoche gewesen. Kinder, die Tücher schwangen um einem zu zeigen, wo man parken könne; bevor man nicht einen der Jungen als Aufpasser bestimmt hatte, würden sie sich gegenseitig an die Gurgel gehen, wem der Job gehörte. Natürlich wollte man gar keinen Aufpasser, das Auto gewaschen schon gar nicht mit der schmutzigen Brühe und den Fetzen, die sie bloß hatten. Alle waren immerzu arm, kein Gedanke an irgendeine Besserung, bloß etwas zum Leben haben.

Das Gerichtsverfahren nahm indessen seinen Verlauf dergestalt, dass der Anwalt einer offenbaren Lüge durch entsprechende Fragen eine neue Richtung gab, nicht etwa um der Wahrheit ihre zweifelhafte Ehre zu erweisen, sondern vielmehr dahingehend, dass sie in ihrer Unverschämtheit erst in der Weise drastisch würde, wie das unter den gegebenen Umständen notwendig war. Rohlfs, der sah, wie die Vertreter der gegnerischen Partei fassungslos zwischen ihm und der Richterin hin und her blickten, fühlte gerade noch, dass das Schifflein des Verfahrens sich offenbar in die vom Anwalt gewünschte Richtung bewegte, denn der hakte munter nach, die Empörung der Gefoppten sichtbar ignorierend.

Die Richterin würde also nur das nicht glauben, was sie für widerlegbar hielt, widerlegbar im Rahmen eines von ihr leistbaren Aufwandes an Gedanken und Darlegungsarbeit. Die streitenden Parteien waren ihr wirklich gleichgültig, eine irgend geartete Peinlichkeit der Situation zu empfinden erlaubte sie sich aus beruflichen Gründen nicht, auch kannte man sich bei Gericht, und die beiden Strolche der Gegenpartei mochten nicht das erste Mal vor ihr sitzen, waren jedenfalls gerichtsbekannt. Auf welche Weise der Zeuge sich in diese Angelegenheit verirrt haben mochte, stand dahin, spielte wohl auch weiter keine große Rolle. Zu den Demütigungen eines Gerichtsverfahrens gehörten die langen Wartezeiten auf seltsamen Fluren, mehr oder weniger in Blick- und sogar Hörweite der Gegenpartei. Auch ging man aneinander vorüber auf dem Weg zur Toilette, oder begegnete sich auf der Treppe, da man zum Rauchen das Gebäude verlassen musste.

Immer standen ja Parteien in einer Art Sonntagskleider beim Eingang zum Gericht, nervlich in offensichtlicher Zerrüttung befindlich, rauchend, gestikulierend, empört. Jemand, dessen elegante Kleidung sich von der der übrigen dahingehend unterschied, dass er sie offenbar regelmäßig trug, war der Anwalt, sichtlich entspannter daher auch, da es für ihn ja nicht um Sieg oder Niederlage ging, sondern um etwas mehr oder weniger; das Honorar stand selbstredend von vorneherein fest.

Natürlich gab es auch Anwälte, deren Auftritte an Peinlichkeit die der übrigen Beteiligten um ein Erhebliches übertraf, zumal im Talar als frechem Pendant zum Habit des Richters oder der Richterin, deren Seriosität schon eher außer Zweifel stand. Da wurde mit großer Geste belehrt, in unverschämter Weise rhetorisch gefragt, am liebsten gleich drei, vier, fünf rhetorische Fragen hintereinander.

Neben den solchermaßen redegewaltigen Verteidigern gab es jene, die ihrer zweifelhaften Kundschaft an Verwegenheit des Aussehens in nichts nachstanden, also selber auch Ohrringe und langes Nackenhaar trugen, womöglich noch dauergewellt und geölt bei tiefbraunem Gesicht.

Im Gegensatz zu den Strolchen, die sie vetraten, waren sie aber gerade einem teueren Sportwagen entstiegen, und ihre, wenn auch reißerische Aufmachung war doch ganz offensichtlich ebenso teuer. Unter dem Talar mochten allenfalls noch ein paar allzu spitze Schuhe herausschauen, an deren Absätzen etwas sonderbar war, worauf man aber nicht kam. Ihre Beiträge zum Verfahren wirkten seltsam eingelernt, fachmännisch und in ihrer Korrektheit vielleicht umso wirksamer. Originalität war nicht gerade sehr erforderlich bei Gericht. Auch warteten schon mehrere weitere Parteien auf den Fluren und Treppen, eine Art des Alltags, die einem ansonsten natürlich verborgen blieb.

Der Anwalt, der Lügen vortragen ließ und sie durch entsprechende Fragen noch etwas unwahrer, aber passender machte; der General, dessen Strategie bis auf Weiteres auf dem Gebiet der Flutungen liegt, angestachelt von seiner hysterischen Frau; wieder die Richterin, die die Klagen solcher Verhaltenssonderlinge für Anliegen von Bürgern halten muss, worüber sie sich in Fortbildungen orientiert; Bob, der versucht seine Psychologin herumzukriegen, welche Energie diese in der Weise der asiatischen Kampfkünste versucht umzulenken auf den Alkoholismus ihres Sergeants, der sie sehr wohl herumbekommt, sagt er; Wilhelmy, der den Feierabend verschläft und deshalb beinahe zu spät zum Dienst in seine Diskothek kommt; die Honda Goldwing, mit der er davonbraust; Pia, die am Telefon eine abgrundtief verruchte Stimme machen kann, wovon sie behauptet, dass sie es bei Bob täte; der blaue Transporter, der einmal weiß gewesen sein muss; die bleiche Richterin, die privat nie Schwarz trägt, Blau macht sie allerdings ebenso bleich; das Tankstellencafe, in dem gerade Schichtwechsel ist, ein Augenblick des Friedens; der Regen, wie er die Straße zu einem schwarzen Spiegel macht, kollossale Neubauten werden darin weich; Rohlfs' Tritte hinter Dr. Reich auf der eisernen Stiege; das Benzin, das man als Kind so gerne riecht; die Gartentoilette mit ihrem Gestank nach Fäulnis und Teer, nie konnte Rohlfs dort auf dem hölzernen Abtritt sitzen ohne den Gedanken, dass man sehr wohl hineinfallen könnte. Das Kreischen von Frau Bauer: Gott demm focken Horspiss, "Gott" und "Piss" verstand sie wohl. Rohlfs' VW Variant, der auf seine Weise auch amerikanisch war, zumal mit den Aufkleberchen auf der Stoßstange für die Gas Station der Base.

"Gud morning, Bop, hau a ju?" Bob war allseits beliebt in der Kommandantur, leider konnte man mit ihm weiter nichts sprechen, weil er kein Deutsch verstand. Das Kuriosum der Anwesenheit eines Amerikaners im Büro schloss man je nach Gemüt herzlich in das Alltägliche ein. "Fine, Mr Prinz, how are you this morning?" - "Gud, senk ju, gud, Bop." - "Never could make up my mind what this guy is working around here in this office. Have you got any idea, Rohlfs. Well, you don't either", dann weil Rohlfs die Schultern zuckte. Tatsächlich taten ja alle nichts, da es sich um eine Kommandoeinheit handelte, der rein auf dem Papier für den Ernstfall eine komplette Kompanie zugeordnet war und deren Führungsmannschaft sich eben immer sozusagen im Einsatz befand. Rohlfs, der grundsätzlich am Sinn und der Rechtfertigung des Militärs zweifelte, musste sich von Dr. Reich erklären lassen, wozu die Bundeswehr überhaupt da sei: "Damit die Amerikaner den Job nicht machen. Oder was glauben Sie? Wenn die Bundeswehr heute hier irgend eine Position räumt, dass die Russen die dann besetzen? Da rücken morgen die Amis ein." Denn es durfte kein Vakuum entstehen. Das System der Wahrung der eigenen Interessen war sozusagen konsistent und duldete nicht die geringste Lücke. Dr. Reich sah das ohne die geringste innere Anteilnahme wie ein Naturgesetz. Rohlfs' innere Auflehnung dagegen nahm er hin wie die eines Kindes, das er in diesen Dingen wohl war. Bob, der nicht verstand, holte derweilen Bier, auch eines für Dr. Reich, der mit einer großen Schere einen meterlangen Streifen aus dem Fernschreiber in die einzelnen messages zerschnitt. Frau Bauer hatte unten Kaffee gekocht, von dem sie welchen nach oben brachte, mit teils echter, teils übertriebener Empörung sprach sie zu Bob: "You Bier trinken, no, Bop", was Bob auch verstand, jetzt diskutierte man die Uhrzeit. Um zehn Uhr trank man kein Bier. Um zehn Uhr erst das erste Bier zu trinken und wer weiß, vielleicht bis zum Mittag überhaupt nur dieses eine, und überhaupt: "How are you, sunshine, Mrs. Bower?" Frau Bauer ging es nicht gut, befand sich, wie Rohlfs vermutete, in einer Ehekrise. Auf welche Weise sie das Bob vermittelte, war ihm nicht klar. Aber es bestand eine besondere Vertrautheit zwischen ihr und ihm, wie Bob überhaupt ein Mensch war, der Nähe vermittelte. Auf die Frage, wie es ihr gehe, antworteten Blicke, die Bob verstand. "Come on, leave that stupid coffee, wait a minute, I get you a beer, too, let crazy Captain Hartmann downstairs wait a little while." Frau Bauer hatte sich wieder gefasst und kreischte: "Bier, no, Bop! Zehn Uhr!", worauf sie das Büro auch wieder verließ. Dr. Reich, der diese Szenen wortlos, aber mit sarkastischen Blicken beobachtete, fuhr fort mit seinen Papieren zu hantieren. Er sei sicher, sprach Bob, dass sie scharf auf ihn sei, wenn sie nur nicht so dumm wäre! Damit meinte er, so dumm auf ihren Mann nicht zu pfeifen, wenn er sich eben nicht für sie interessiere. Bob selber stellte keine besonderen Ansprüche an die Klugheit einer Frau. Möglicherweise war Frau Bauer wiederum klug genug, das gerade zu erkennen.

Meggi gehörte zu den Frauen, die man auf der Straße kennenlernte, weil sie Freundin eines Freundes von Rohlfs war. Sie war mit einem Mountain-Bike unterwegs, das matt schwarz gestrichen war, obwohl es noch relativ neu sein musste, denn diese Räder kamen gerade erst auf den Markt. So aber waren alle Aufkleber wie Markenzeichen usw. getilgt, so dass man gewissermaßen lediglich die unbestreitbare Tatsache seiner Außergewöhnlichkeit vor Augen hatte: die dicken Stollenreifen, die aufwändige Schaltung und den breiten Lenker, der den Fahrer völlig anders als Radfahrer präsentierte, als man das bisher kannte. In diesem Falle ja die Radfahrerin, gleichermaßen schwarz gekleidet, sogar eine veritable Schornsteinfegerjacke tragend, bei der man mit Bändern die Ärmel zuschnürte, die uniformartig geknöpft und an einigen Stellen mit Leder besetzt war.

Aus dieser männlichen Finsternis blickte oberhalb eines leichten Schals, der mit Goldfäden durchwirkt war, ein Mädchengesicht von strahlender Schönheit. Die Haare fein, aber wellig und dunkelbraun, den klobigen Lenker mit radfahrbehandschuhten Händen haltend, stand sie über das Rad gegrätscht für ein paar freundschaftliche Worte bei Rohlfs und Christoph beim samstäglichen Straßefegen. Meggi sei das, erklärte der, als sie schon ein Stück die steile Straße hinaufgeradelt war, hier ein paar Straßen weiter. Rohlfs fragte sich, ob er auch solche Märchenwesen hier ein paar Straßen weiter kannte, um die Begegnung aber auch wieder völlig zu vergessen, wie er überhaupt vergessen wollte, wenn es denn möglich war. Diese Herbsttage waren einem Spätsommer der Trennung gefolgt, dessen Befreiung gerade dabei war in Trauer und Einsamkeit umzuschlagen.

Christoph war der Freund, der Rohlfs die Treue hielt über die verschiedenen Trennungen hinweg, was nicht leicht sein musste, denn die Zerwürfnisse gründeten ja ausschließlich in Liebesdingen, woraus sich der Verrat an der Freundschaft, die die Liebe ja immer auch ist, erst ergab. Es litten alle mit, wenn man sich trennte, während sie von der Entscheidung ausgeschlossen waren, wodurch sich die Beziehungen im Freundeskreis verkomplizierten, mehr als das in der Familie der Fall wäre. Es gab ja auch die Paare, die sich nach einer Trennung freundschaftlich verbunden blieben. So blieben auch Freunde Freund gewesener Freundinnen Rohlfs', man besuchte Kurse gemeinsam, traf sich bei Parties, weil ja das Leben weiter ging wie zuvor, es war Rohlfs, der einen Kreis verlassen hatte. Die wenigeren folgten ihm in die Gesellschaft der neuen Beziehung. Diese Wochen waren die, in denen sich ein Sturm legte, so dass das Gewissen, dessen Stimme darin untergegangen war, sich nach und nach Gehör verschaffen konnte. Sogar einen schändlichen Rückfall in die alte Liebe hatte es gegeben, heiß und reißend, wie eine Flamme noch einmal an einem Scheit leckte, bevor das Feuer in ein erstickendes Schwelen sank, eine sich dahinschleppende würgende Reue.

Autos waren das, womit man in Deutschland nahezu alles zum Ausdruck bringen konnte, woran die Seele hing und was in Reichweite des Geistes lag. Der Führerschein war die tatsächliche Erwachseneninitiation geworden, ihn nicht zu besitzen konnte man damit vergleichen vor einigen Jahrzehnten Nichtraucher zu sein. Fahrschulen kreuzten vor Gymnasien, um eine Freistunde zu bitten wegen der Führerscheinprüfung, so mussten frühere Schülergenerationen zur Musterung eingerückt sein. Die Lehrer waren stolz erwachsene Schüler zu haben. Kaum, dass je einer bei der theoretischen Prüfung durchfiel, für die wurde gelernt, endlich ein wirklicher Lernstoff, bei dem man sich darauf verlassen konnte, dass Vorbereitung und Test tatsächlich übereinstimmten, keine Spielräume für Ansichten, auf die es im späteren Leben ohnehin nicht ankam! Dafür war der Prüfer im Praktischen umso hundertfünfzigprozentiger, wofür man ihn dann aber gemeinsam mit dem Fahrlehrer umso inbrünstiger hasste. Kein Gedanke, dass der Prüfer aus derselben Zunft kam, dann aber wenigstens ein Abtrünniger, wenn nicht ein Verräter war. Aber auch diese Prüfungen wurden ja in ihrer überwiegenden Mehrzahl bestanden und man besaß die Fahrerlaubnis, teils zusammengespart, aber natürlich auch von den Eltern und den Großeltern mitfinanziert. Was, wenn nicht der Führerschein, machte einen in Deutschland zu einem vollgültigen Glied der Gesellschaft. Fehlte noch der Wagen. Was früher ein mehr oder weniger schrottreifes Schätzchen gewesen wäre, war heutzutage so neu wie die übrigen Karossen auch, etwas kleiner vielleicht, so wie früher der Zweitwagen für die Frauen. Schließlich rechnete es sich nicht mehr ein Auto über das vorgeschriebene Maß der Wartungen hinaus reparieren zu lassen. Die Werkstattkosten hatten einfach mit denen der Produktion gleichgezogen. Hauptsächlich aber hatten die Ingenieure die Technik der Fahrzeuge so konzipiert, dass nicht mehr einzelne Fehler ermittelt werden konnten. Der Computer las eine Komponente aus, in der ein Fehler gleich welcher Art sich lokalisieren ließ. Diese Komponente wurde dann mit all ihren intakten Bestandteilen und darunter der Defekt mit dem geringsten Aufwand aus - und das entsprechende Ersatzteil wieder eingebaut. Eine Frage danach, was nun letztlich verschlissen war, konnte der Techniker nicht mehr beantworten, ohnehin interessierte das auch niemanden. Konsens war, dass man bestimmte Summen in ein älteres Fahrzeug nicht mehr steckte, wobei der Referenzwert der eventuelle Verkaufspreis war. Auch wechselte die Automode ungefähr so wie die übrige Mode auch. Ein Auto fuhr zwar, und es wurde auf Teufelkommraus gefahren, aber es war eben auch ein Lifestyleprodukt, das von Geschmack und Rang seines Besitzers kündete.

Da kaum jemand die gewaltig gestiegene Motorleistung noch so alltäglicher Autos beherrschen konnte, hatten die Ingenieure elektronische Fahrhilfen eingebaut, und so sah man denn dieselben ängstlichen überaufrechtsitzenden Fahrerinnen, immer schon das Kinn ein wenig zu hoch über dem Steuer, wie sie mit einem Wagen abbogen, der nächst zweihundert PS hatte und ebenso viele Kilometer in der Stunde fuhr. Desgleichen dicke Männer hinter grünen Gläsern, Großväter, was immer fuhr und steuerte, in schnittigen Wagen, keiner älter als zwei, drei Jahre. Das Auto leistete, was so leicht keine Kirche, keine bürgerliche Wohlanständigkeit zu leisten vermöchte. Darinnen war Staub gewischt und gesaugt, man saß wie in Wohnzimmern auf Sessel und Sofa, noch dazu mit Gurt, was wären Überfluss und Luxus ohne das Feigenblatt der Sicherheit! Auch die Motorleistung war recht eigentlich der Sicherheit geschuldet, dieses Mal der aktiven, wie es hieß. Da man den Schritt vom Atomzeitalter ins Informationszeitalter aufgeschlossen mitgetan hat, besaß der Wagen wenn möglich einen Bildschirm, wie er uns so glücklich schon seit den sechziger Jahren die Wohnzimmer versüßt hatte, nun aber aus dem Stand der Unberührbarkeit erlöst.

Wandel geschah ja bekanntlich aufgrund von Missverständnissen, oder vielmehr indem man etwas ganz besonders im Sinne einer bestehenden Norm tat, deren Gründe man aber nicht überschaute. Es hatte etwas von Jahrmarktskarussellen, in denen man den Kindern Lenkräder gab, so viele Sitzplätze ein Auto hatte. Kaum sah man allerdings je tatsächlich ein solches Auto bis auf den letzten Platz besetzt, jedes Kind eifrig ein Lenkrad haltend. Wohl aber saß hier und da vereinzelt ein kleiner Junge auf einem Rücksitz und drehte sein Steuer.

Rohlfs wollte glauben, auf diese Weise führten mehr oder weniger alle das Ruder ihres Lebens, würde das Schiff des Daseins durch die Zeit gesteuert. Da wir in industriellen Zeiten lebten, natürlich mit industrieller Geschwindigkeit, nicht zu reden von informationeller, gebremst eigentlich nur durch die Schranken, die der Konsum auferlegt: mehrere Handytelefonate gleichzeitig waren einfach nicht zu führen, wenigstens konnte man am Bildschirm telefonieren oder beim Autofahren, an jedem Ort sowieso. Dann aber auch wiederum rezeptiv, lediglich analog, aber immerhin. Möglich, dass beispielsweise das Hantieren mit dem Handy die Menschen einander wirklich näher brachte, indem man den anderen bei einer Aktivität sah, die man selber positiv bewertete.

Seine sonstige Andersartigkeit wurde auf diese Weise zur Folklore, die die Welt um eine Farbe bereicherte. Das Telefonieren in einer fremden Sprache hatte vielleicht noch Argwohn geweckt, nicht zuletzt fragte man sich, ob der Staat Asylanten wohl auch noch das Handy bezahlte. Die gemeinsame Wertschätzung des letzten Schreis der Internetkommunikation hatte aber letztlich etwas Verbindendes.

Beim Handy war noch die Rechtfertigung seines Besitzes durch einen eventuellen Notfall erforderlich. Eltern, die ihren Kindern ein offensichtlich so unnötiges aber darum umso begehrteres Gerät schließlich doch kauften, wollten glauben, es könne in einzelnen besonderen Fällen doch einmal nützlich sein. Dabei war es einfach nur eine Ausstattung, wie sie eben üblich geworden war, zum Beispiel gab es eine Zeit, wo man das Handy vor sich auf den Tisch legte, das heißt, man musste es auf eine bestimmte Art auf den Tisch werfen, etwa so, wie man einen Schlüsselbund auf den Tisch warf. So konnten durchaus einige Handys auf einem Tisch zu liegen kommen, wenn mehrere Erwachsene zusammensaßen. Hin und wieder griff man danach um etwa eingehende Botschaften nachzusehen und nach einer kurzen Beurteilung das Handy wieder lässig auf den Tisch zu werfen. Diese Generation Handys musste eigens für diesen kleinen Wurf ausgestattet gewesen sein. Die aktuellen eigneten sich dafür weniger. Da ihre Botschaften in großen farbigen Bildern übermittelt wurden, erging man sich in eingehender Betrachtung. Die Möglichkeiten auf dem Bildschirm doch noch etwas Interessantes zu finden waren praktisch unbegrenzt, weshalb dann wohl das Wegwerfende bei Ende der Nutzung keine geeignete Geste wäre. Vielmehr wurden diese Handys, flach wie sie waren, in enge Jeanstaschen oder sonstige Behältnisse zurückgezwängt. Rohlfs wollte glauben, dass das Telefon heute hauptsächlich dazu genutzt wurde, um aus einer wenigstens technisch erzeugten Distanz heraus Kontakt haben zu können.

Das  Telefon überwand nicht, es schuf Distanz, die unbedingt nötig war für Kommunikation in einer völlig distanzlosen Gesellschaft. Bastionen von Förmlichkeiten, scheinbar von einer älteren und darum in Frage gestellten Generation erfunden und verteidigt, waren radikal geschliffen worden, wodurch ein Höchstmaß neuer Formen erforderlich wurde. Was man dort preisgab, war allein durch die Tatsache, dass man es durch das allgemein anerkannte Medium kommunizierte, so weit entindividualisiert, dass eine persönliche Verantwortung dafür praktisch entfiel.

Wohin auch immer man ihn verschleppte, es galt die verbleibende Zeit für weitere Notizen zu nutzen, zumal man ihn, bedingt durch den seit geraumer Zeit anhaltenden Sprühregen, der die Aufmerksamkeit des Fahrers beanspruchte und die anderen einlullte, zu sich kommen ließ.

Er stand unter dem Einfluss von Mars, mit Venus im Aszendenten, und alles deutete darauf hin, dass er sich wie der Gekreuzigte mit ausgebreiteten Armen dem nächsten Grenzpolizisten in die Arme werfen würde.

Allein die Tatsache, dass er sich wiederholt eingenässt hatte, musste einem erfahrenen Beamten seine Situation auf glaubwürdige Weise verdeutlichen. Andererseits, so vergewisserte er sich mit halb zugekniffenen Augen, wirkte sein Äußeres wie das eines dahergelaufenen Wegelagerers.

Palle, hieran konnte nunmehr keinerlei Zweifel mehr bestehen, war für seine missliche Lage verantwortlich. Wie lange wollte man ihm gegenüber, einem immer noch teilweise lebendigen Geschöpf, das seine Gliedmaßen mit ein wenig Mühe wieder zu kontrollieren in der Lage war, dieses schändliche Detail noch verschweigen?

Wie Judas hatte Palle, so Saeed, für eine Reihe nicht unerheblicher Prämien - von insgesamt 30 Tausend Dollar war die Rede – Reich gegenüber auf infame Weise in schriftlicher Form Bericht erstattet. Selbst Tage, an denen er das Personal angeblich nicht ordnungsgemäß gegrüßt hatte, wurden ihm zur Last gelegt.

Das unbefugte Herunterladen und Verfügbarmachen von Musikdateien auf Rechnern der Dienststelle sowie sein solidarisches Verhältnis zu Saeed waren vermutlich die wesentlichen Hauptanklagepunkte gegen ihn.

Was hielt ihn davon ab Reich mit einem gezielten Schlag außer Gefecht zu setzen? Indes versöhnte ihn die durch das zarte Summen Lucias hervorgerufene weiche Atmosphäre, welche die Erinnerung an den Geschmack des Begehrens in ihm weckte. Erneut näherten sich ihm ihre Knie, ihre Haare, der Geruch ihrer Hände, ihre Brüste und ihr Mund. "Schlucken Sie's runter, Rohlfs, ich hab' nicht die ganze Nacht Zeit." Das Letzte, was er bewusst wahrnahm, waren Erinnerungen an Saeed und der bittere Geschmack der Pille. "Wissen Sie, was OIC bedeutet, Rohlfs?" - Rohlfs wusste es nicht. "Officer in charge", erklärte Dr. Reich, der wohl selber oft genug Offizier vom Dienst gewesen sein mochte, wenn Rohlfs sich auch nichts Genaueres darunter vorstellen konnte.

Er wusste, dass Dr. Reich im Krieg Hauptmann gewesen war und von den Offizieren der Bundeswehr nichts hielt, schon gar nicht von solchen wie dem Oberstleutnant, der von der Polizei auf diesen Drückerposten gekommen war. In der Kommandantur vertrat er einen anderen Spezialisten, den Rohlfs überhaupt nur zweimal gesehen hatte, weil er sozusagen dauerkrank war.

Niemand hätte sagen können, was er eigentlich hatte, ein älterer Herr, der, einmal in Zivil zu Besuch auf der Dienststelle, weil er irgendwelche Unterlagen aus seinem Büro holen wollte, eine Aura verbitterten Schweigens um sich verbreitete.

Rohlfs, der ihm auch nicht vorgestellt wurde, kam sich in seiner Gegenwart vor wie ein Ungeziefer, an dem sich der Kommandant, krank wie er nun einmal war, nicht auch noch verunreinigen wollte.

Ein anderes Mal kam er wirklich, was Rohlfs  überraschte, in seiner blauen Luftwaffenuniform mit den gelben Kragenspiegeln und den silbernen Litzen, und zwar einen einzigen Tag zum Dienst. Offenbar war eine Frist verstrichen, für die man sich maximal krank schreiben lassen durfte.

Im Haus herrschte dann auch eine Atmosphäre, als sei eine Leiche aufgebahrt. Man sprach mit gedämpfter Stimme, Bob meinte, es sei in fünfundzwanzig Jahren bei der Army der erste Tag, an dem ihm auch nicht der kleinste Schluck Bier schmecken wolle.

Also hatten sie auch in Korea und in Vietnam Bier getrunken, ging es Rohlfs durch den Kopf, aber dieser eine Tote falle einem mehr auf die Seele, als all die Strangulierten und die vom Napalm Verbrannten im Krieg.

Jedenfalls stand Conleys Flasche auf dem Schreibtisch, eine rechte Ausnahme wollte er wegen des crazy Lieutenant Colonels nicht machen. Nach den üblichen Litaneien der Commitments, auch die lustlos, ohne die üblichen Frotzeleien und Flüche, saß er mit seiner Woody-Allen-Lesebrille und las.

"Sowieso pisswarm, das Zeug", hielt er die Flasche mit zwei Fingern am Hals und trug sie zur Toilette, wo er sie ins Waschbecken ausgoss um wieder geräuschvoll ächzend hinter dem Schreibtisch Platz zu nehmen und sich weiter in die Lektüre eines jener Romane zu vertiefen, von denen er immer welche bei sich trug, und die er quer in der Mitte durchriss und mit einem abfälligen Kommentar in den Papierkorb warf, wenn er sie ausgelesen hatte.

"Du meinst, er ist gar kein verdammter Spion?" - "Wo wird der kleine Spinner ein Spion sein! Dieser Witzbold Palle will ihn ein wenig hochnehmen und treibt seinen Unfug mit ihm. Außerdem will er sich etwas lieb Kind beim Alten machen, und der braucht seinen Spion, wenn er befördert werden will. Hier auf diesem Abstellgleis musst du dir eben ´nen Feind erfinden, Herrgott nochmal. Denkst du, ich kenn´ die Saubande nicht?" Tatsächlich hatte sich eine Art Hysterie ausgebreitet. So Saeed, den Rohlfs erst nur flüchtig kannte, weil er auf der Hauptstelle saß, wohin er nur hin und wieder einmal kam, obwohl er selber auch zur Einheit gehörte, aber er war in die Kommandantur abgeordnet. Für die Übung mussten alle, die sprachlich etwas draufhatten, mit zu den Baracks, wo man dann hauptsächlich herumsaß. Weder Rohlfs noch Saeed wussten, was es eigentlich zu tun geben könnte. Darüber wunderten sich die Amis selber am wenigsten.

Über die verschiedenen Grade der Geheimhaltung witzelte man herum, und dass natürlich auch der Captain keine Ahnung hatte, weshalb er nervös von einem Office ins andere lief. Nicht dass man etwa aufstand und Meldung machte, wenn er wieder einmal auf der einen Seite ins Zimmer kam um es auf der anderen Seite wieder zu verlassen.

Irgend ein Herumgealbere wurde unterbrochen, und alle blickten dem Offizier hinterher. Das Gelächter, das prompt erschallte, wenn er die Tür hinter sich geschlossen hatte, klang so, als gelte es ihm, was aber nicht stimmte, höchstens dass man ihm mit Blicken gefolgt war; er war der Captain, sollte er sagen, wenn er irgendetwas wollte.

Sie alle hier könnten eigentlich etwas Dope gebrauchen, sagte ein hagerer Bursche, den sie abwechselnd Jimmy oder Shmitty nannten. Er hatte ein pickliges Gesicht und trug die Dientsbrille der GIs, Woody Allen musste sie einfach aus seiner Armyzeit behalten haben. Niemand würde sich vorgestellt haben, dass diese Jungen als Zivilisten Hippies waren. Sergeant Schmitt mit hüftlangen Haaren und John Lennons winziger Nickelbrille, der jetzt, allerdings ohne Krawatte, weil Sommer war, die Khaki-Uniform der Army trug, auf seinem Stuhl lümmelte und den üblichen Kaffee aus einem Styroporbecher trank, den sie immer stundenlang auf der Warmhalteplatte der Kaffeemaschine stehen hatten. Es wäre das erste Mal gewesen, dass Rohlfs gesehen hätte, wie jemand frischen machte. Man rauchte. Niemand brauchte einen anderen um eine Zigarette anzuschnorren, auch drehte keiner, weil ja jeder GI monatlich vier Stangen Zigaretten auf seiner Ration Card hatte. Was in diesem Büro normalerweise eigentlich gearbeitet wurde, ließ sich in keiner Weise erkennen. Es gab  die typischen Einrichtungsgegenstände, in Blechschränken standen oder stapelten sich Unterlagen. Saeed, der das Herumhängen bald satt hatte, las in Kafkas Brief an den Vater. Für die Dauer der Übung trug er eine Art Phantasieuniform. Einer der Kollegen vom Kommando hatte ihm ein paar Sachen aus seinem Reservistenseesack ausgeliehen, es wäre den Amis nicht begreiflich zu machen gewesen, dass ein Zivilangestellter eben in Zivil die Übung mitmachte. Sgt. Schmitt, der als Hippie wohl auch irgendetwas studiert hatte, grinste über Saeeds Eifer, mit dem er Bleistifteintragungen in sein ramponiertes Taschenbuch machte.

"So you´re trying to help old Kafka to convince his father to show some respect, right, Saeed?"

Halluzinogene Vorstellungen von Reich als seinem persönlichen Sekretär und sich selbst mit Zügen Saeeds, dem Fremden im Amt, durchkreuzten seine Sinne und ließen ihn von Zeit zu Zeit hell auflachen. Rohlfs hörte sich selbst im Tonfall Saeeds, als sei er mit ihm verschmolzen, eins mit ihm.

Er rückte die kleine runde Hornbrille, Saeeds Wahrzeichen, auf seiner Nase zurecht und gab Reich mit iranischem Akzent herablassende Anweisungen. "Husch, husch zum Diktat, Herr Reich! Jedenfalls nicht husch, husch zum Mittagstisch! Und vergessen Sie Ihren Stenographieblock nicht!"

Gelegentlich nahm Reich in seinen Allmachtsfantasien die Gestalt Frau Bauers oder Palles an. "Schreiben Sie, Reich! Fügen Sie sich einfach dem Diktat! Schnelligkeit und Leistung, Reich. Schnelligkeit und Leistung. Das funktioniert. The eyes of strangers will creep upon my papers and notebooks by the dawn's early light."

Rohlfs wägte sich in den Erinnerungen eines Anderen in trügerischer Sicherheit, während der Transporter mit sich erhöhender Geschwindigkeit in Richtung Szeged fuhr.

Das Schlagwerk des Sprühregens und das Pfeifen orkanartiger Böen verliehen seinem Rausch einen symphonischen Charakter.


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