Sonntag, 20. Juli 2025

Z. Z. LIX [»Hound Dog XIII« (2025)]

 


[»Mann mit dem Radio (Homo sapiens)«, Kurt Weinhold (1929)]



As early as 1930 Schoenberg wrote: "Radio is an enemy, a ruthless enemy marching irresistibly forward, and any resistance is hopeless"; it "force-feeds us music . . . regardless of whether we want to hear it, or whether we can grasp it," with the result that music becomes just noise, a noise among other noises. Radio was the tiny stream it all began with. Then came other technical means for reproducing, proliferating, amplifying sound, and the stream became an enormous river. If in the past people would listen to music out of love for music, nowadays it roars everywhere and all the time, "regardless whether we want to hear it," it roars from loudspeakers, in cars, in restaurants, in elevators, in the streets, in waiting rooms, in gyms, in the earpieces of Walkmans, music rewritten, reorchestrated, abridged, and stretched out, fragments of rock, of jazz, of opera, a flood of everything jumbled together so that we don't know who composed it (music become noise is anonymous), so that we can't tell beginning from end (music become noise has no form): sewage-water music in which music is dying. [Milan Kundera »Ignorance« (2000)]



Hound Dog



You ain't nothin' but a hound dog
Cryin' all the time
Well, you ain't never caught no rabbit
You ain't no friend of mine

[Jerry Leiber & Mike Stoller]



Wie esoterische Literatur, so bedeuten die Texte des Evangeliums dem Unglauben nichts, dem Glauben aber alles. Der Unglaube liest diese symbolischen Texte wie Berichte voller Fehler. Der Ungläubige legt ein Bild von Picasso auf eine Waage und findet es zu leicht oder zu schwer. Die Ungläubigen glauben nicht nichts, sondern irgendetwas.

Die berüchtigte Komik, eigene Hässlichkeiten aufs Korn zu nehmen und damit den Wind aus den Segeln der Kritiker; solche gleichermaßen als Angriff auf deren Wohlanständigkeit und ihre Prüderie, die ja das, worüber sie unglücklich ist, bedeckt und bemäntelt. Zwar ist der Witz auch eine Bemäntelung, aber doch sarkastisch eine Form der Gewinnung von Distanz und darum befreiend. Entrüstung, die der Komik wegen des Mitreißenden ihres Tempos nur wenig entgegenzusetzen hat.

Verhalten gründet beispielsweise ganz einfach auch in einem Stil. Relevant für das Hervorbringen einer Aktivität wäre ihre strukturelle Ähnlichkeit mit anderen, Handeln also im Sinne des Stils. Auf diese Weise genösse der Akteur gewissermaßen sich selber als Vertreter oder gar Schöpfer eines Stils. Unter dieser Voraussetzung wären die Gegenstände ihm wenn nicht gleichgültig, so kämen sie ihm doch gerade recht, ja sie kommen ihm geradezu entgegen, da er sie als Spiegel seiner selbst erlebt; so wie der Maler ein Bild malen will und nicht über die Last der Ausführung der Details klagt, wenn er sie nur in seinem Sinne darstellen darf. Er schafft geradezu Welt, indem die Gegenstände untereinander Verwandtschaft zeigen. Darin bilden sie Existenz ab. So wie in der wahren Welt die Dinge ihre Gegenständlichkeit besitzen, so besitzen die künstlerischen Gegenstände Stil. Dabei bilden die Kunstwerke untereinander Kontexte, mit deren Hintergründen sich das einzelne Kunstwerk ins Verhältnis setzt. Stildifferenz ist Bestandteil des Stils genauso wie die Differenz des Kunstwerks zur Realität.

Liegengelassenes heute in die Hände zu nehmen, die inzwischen alt und ruhig geworden sind, keiner Tapferkeit mehr bedürfen; solches niederschreibend die Frage bedenkend, ob es in diesem Alter noch gestattet sei und nun in Ruhe festzuhalten, was sich weder beruhigen noch festhalten ließ zu seiner Zeit! Als man sich wand vor Unüberwindlichem, wäre man da ehrlicher gewesen, und verbarg heutige Ruhe und Festigkeit nicht gerade das Wesen dessen, was sich offenbaren sollte? Allerdings: Bekenntnisse aus der Not heraus, waren sie nicht ebenso unerträglich wie die Not selber? Und wieder andererseits, dass der Offenbarung überwundener Not die Schalheit droht.

Das Radio war nicht abzuschließen wie später der Fernsehapparat in seinem Schleiflackschränkchen mit den beiden Türen und dem Schlüsselloch darin. Dabei hätte es eines Schlosses eigentlich weniger bedurft angesichts des Fernsehprogramms, das das Fernsehen auf wenige Abendstunden begrenzte, während derer ohnehin strenge Aufsicht der Erwachsenen obwaltete. Es waren die Zeiten, als man früh ins Bett musste, weil man ein Kind war, das seinen Schlaf brauchte, wie es hieß, schon wegen der Schule. Dass es geschah, weil die Erwachsenen am Abend ihre Ruhe haben wollten, ahnte man halbwegs, erlaubte sich aber nur begrenzten Groll, weil gegen sie nicht aufzukommen war, was auch noch auf unabsehbare Zeit so bleiben sollte. Zimmer für sie allein, wo Kinder vor eigenen Bildschirmen saßen und von Erwachsenen nicht gestört werden wollten, hätte sich niemand vorstellen können, natürlich auch nicht die Kinder selber.

Tagsüber war man dafür hin und wieder durchaus allein in der Wohnung, und das Radio sendete zu jeder Stunde. Wenn man es rechtzeitig ausschaltete, war es auch wieder kalt, bis die Mutter nach Hause kam. Albin fand, dass man roch, dass der Staub in dem Apparat inzwischen heiß geworden war, aber die Mutter schien es nicht zu merken. Sie hatte ein feines Gespür dafür, Dingen nicht auf den Grund zu gehen, die man nicht ändern konnte. Es war eins der Geheimnisse ihrer Autorität, die erst eines Tages an ihre Grenzen stoßen sollte, wie sich bei den Schwestern bereits erwies.

Wie die Stimmen in das Radio hineinkamen, aus dem sie heraustönten, diese Frage stellte man Kindern und kam sich dabei witzig vor. Als ob Kinder sich vorstellten, hinter dieser goldartig schimmernden Stoffverkleidung würde jemand sitzen, gar ein ganzes Orchester, wie sollte das gehen? Aber seltsam und darum umso aufregender war und blieb es. Allein schon, wie der Apparat sich aufwärmte, bevor man überhaupt etwas hörte, höchstens etwas Knistern! Das gelbliche Leuchten der Skala war allerdings gleich zur Stelle, wenn man einschaltete, wobei man darauf achten musste, die Taste auch richtig durchgedrückt zu haben, sonst befand man sich gewissermaßen im Leerlauf. Die Mittelwelle kam am leichtesten in die Gänge, indem nämlich das grüne Auge sich bald schärfte. Man musste das nicht magisch finden, wie es genannt wurde. Das anfängliche Graugrün wurde zum feinsten Strich im leuchtenden Grün. Drehte man jetzt am Lautstärkeknopf mit seinen feinen Rillen und der goldenen Mittelkappe, aber vorsichtig, es konnte sehr laut werden, dann dudelte es aus dem Radio, oder eine sonore Männerstimme sprach ernst, oder verbreitete gute Laune, je nachdem.

Die zarte Erinnerung an die, deren wir gedenken, am Leben zu erhalten, darf Wahrheit genannt werden, sie behutsam weiterzugeben, kaum wahrnehmbar für die Vielen, Geschichte; manches verblasst unaufhaltsam, Mutmaßungen um Inges Silberblick etwa, den sie davongetragen habe, weil ein Kriegsheimkehrer oder gar ein Amerikaner sie genotzüchtigt habe, ihre feinsinnige und aufgeschlossene Wesensart, gelegentlich beflügelt durch eine beinahe schon karnevaleske Fröhlichkeit und Freude am Mundartlichen, Helmut, ihr einbeiniger Lebensmensch, der Kriegsversehrte, seine amourösen Avancen, homme de lettres, dozierend und ironisch, die unerschütterliche Gewissenhaftigkeit, mit der er las, stets nur Auserlesenes, Unkorrektkeiten aufspürend, Verbesserungen vornehmend, Helmut und Inge, ein Mainzer Ehepaar, das sie geworden waren, in Trümmern sich einander nähernd, um die zwanzig Jahre alt allenfalls einst.

Ebensolche zwanzig Jahre später hatten sie sich fortgepflanzt als kindliche Erinnerungen des Betrachters von Onkel und Tante damals. Dieses Kind, meist versunken in die kleinen Schallplatten aus zum Teil biegsamem Vinyl, manche zerbrachen wohl auch unter dem unbedarften Griff des Fünfjährigen, eine Waschmitteltrommel randvoll mit Tonträgern, auf denen mit wenigen Ausnahmen die Zahl „45“ ins Auge stach, Umdrehungen pro Minute, wie man ihm erklärte, die nicht nur den Gesang des Muezzin zum Leben erweckten, sondern auch die Stimme von Connie Francis, Souvenirs, oder Elvis Presleys Hound Dog, Googoosh und die frühen Beatles. „Warum gebt ihr dem Jungen denn Schallplatten zum Spielen? Er soll doch lesen“, meinten Onkel und Tante, was er aber doch tat! „45“, las er, die Zahl, um die sich alles drehte, bald dann auch die „33“.

In umgekehrter Reihenfolge hatte es Inge mit diesen Zahlen getroffen, „33“ aufwachsend im Rausch der Epoche, Faszination und Bann von Hitlerjugend und BDM, martialisch-romantische Lieder, Heldentum und Athletismus: Wir Mädel singen. Furchtbar gern hätte sie ihre kleine Cousine Ursel zur Mitgliedschaft verführt, doch deren Vater Alois verabscheute die Braunen und gestattete dies nicht. Nach „45“ wählten Inge und Helmut die antiautoritäre Erziehung für ihre beiden Mädchen: es war verpönt, jemandem die Hand zu geben; viel mehr verstanden die Kinder ohnehin nicht.

Aber der Horst, das ist doch der Sohn von unserem Schupo.

Da kann er ja nun auch nichts dafür, so wenig wie seine beiden Brüder. Eltern hat man nun einmal. Meine habe ich mir auch nicht ausgesucht. Du schon, oder?

Wenn du das meinst, ja, irgendwie. Klar muss ich hier mitarbeiten, das ist nun einmal so, wenn ein Geschäft da ist. Als wir klein waren, meine Schwester und ich, haben wir Bäckerei gespielt und auch so kleine Sachen schon geholfen. Und jetzt helfen wir auch, weil es bei den Verkäuferinnen immer mal hakt. Tasse Kaffee ohne alles, wie immer?

Wie immer.

Kathrin saß an einem der beiden Tische, die in der Bäckerei aufgestellt waren. Durchs Fenster hatte man die Gastwirtschaft gegenüber im Blick, wo sie seit einiger Zeit begonnen hatte zu arbeiten. Der Bus fuhr nur jede Stunde einmal hierher ins Dorf. Die Bäckerei schloss um Punkt sechs. Es war schön noch eine Weile an diesem Caféhaustisch so brav zu sitzen. Drüben roch es gleich nach verschüttetem Bier und Männerwirtschaft.

So, der Kaffee, ohne alles. Lass dir ruhig Zeit, bis ich hier rauskomme, wird es leicht sieben.

Wie genau nimmt es denn dein Chef?

Nicht sonderlich, Hauptsache, ich bleibe bis zum Schluss. Da fährt dann längst kein Bus mehr. Den Rest der Nacht kann ich mich oben in dem kleinen Kabuff aufs Ohr legen. Meistens schaffe ich dann den ersten Bus am Morgen, richtig schlafen kann ich nur in meinem eigenen Bett.

Und deine Eltern machen da nicht Rabatz?

Rabatz, das war mal. Weißt du, ich bin ausgezogen. Eigentlich haben sie mich rausgeschmissen. So lange du deine Füße unter unseren Tisch stellst, und so weiter. Ich finde, das ist ein Rausschmiss.

Im Jahre 1917, das anbrach, litt Alois wieder unter einer Bronchitis, diesmal jedoch unter einer so hartnäckigen, dass sie sich trotz Trinkens und Inhalierens von Salbeitee nicht bändigen ließ. Der Husten war nun freilich nicht wie sonst durch das Rezitieren der Reden von tragischen Helden ausgelöst – die Mutter, die gerade an ganz andere Dinge dachte, erschrak oft, wenn er plötzlich Schreie der Wut, des Schreckens oder der Todesangst ausstieß -, sondern von etwas ganz anderem. Zwar hatte er vor noch nicht allzu langer Zeit einige zerfledderte Reclambändchen, die Hebbels Nibelungentragödie enthielten, gekauft, und Leo Fabers Vater band sie zu einem schmucken kleinen Buch zusammen, er hatte vorher Shakespeares Werke in imitiertes Pergament gebunden, das Alois mit einer Andacht berührte, als ob es das echte einer Gutenbergbibel gewesen wäre, und Alois schrie die Anklagen des von Hagen Tronjes Speer durchbohrten Siegfried in den Wald seines Zimmers hinein und ließ Kriemhilds Hass darin widerhallen. Aber die Ursache der Bronchitis war eine andere. Dr. Wagschal hörte Geräusche in Alois' Lunge, die nicht von lautem Rezitieren, sondern von einem Lungenspitzenkatarrh herrührten. Er verordnete ihm Tuberkolin, das Heilmittel, das Robert Koch, der Forscher und Nobelpreisträger, entwickelt hatte.

Die Geräusche waren dieselben, die er bei Alois' Mutter hörte, die laufend hustete und ausspie, ohne dass sie je etwas rezitiert hätte. Sie kamen bei ihr nicht aus den Lungenspitzen, sondern aus den Kavernen, die ihre Lunge durchlöcherten. Bei beiden, bei Mutter und Sohn, war die Kriegsfurie am Werk, die den armen Leuten nicht zu essen gab, was sie notwendig gebraucht hätten. Alois' Befinden besserte sich indessen rasch; seine Beschwerden ließen nach und verschwanden nach einiger Zeit ganz. Bei seiner Mutter verschwanden sie nicht; sie hustete, spuckte, ängstigte sich noch zwei Jahre lang und ging dann elend zugrunde.

Das Zusammensein der Freunde nahm im März 1917 ein plötzliches Ende. Leo Faber schied mit der Obersekundareife aus der Oberrealschule aus, er hatte genug von dem Kram, und machte sich daran, in der Werkstatt seines Vaters das Buchbinden zu erlernen. Es war nicht die Sache seines Herzens, nur die seiner Hände und Augen, aber er brachte es über sich, die Zeit damit auszufüllen, bis sich etwas Besseres finden würde. Und es fand sich! Insgeheim stand ihm immer schon nur eines vor Augen, und Alois wusste, was es war. Die Schwärmerei fürs Theater, die ihn von Jugend an erfüllt hatte, nahm deutlichere Konturen in Leos Geist an: er wollte Schauspieler werden. Der lebenskluge Vater verwies ihm solche Flausen, und Leo musste seinen Tod abwarten – sein Vater war herzleidend -, ehe er seinen Herzenswunsch Wirklichkeit werden sah. Seine Mutter war todunglücklich, als sie einsehen musste, dass Leo von dieser fixen Idee nicht abzubringen war. Sie zog Alois, als sie allein mit ihm im Zimmer war, ins Vertrauen und bat ihn, ihrem Sohn von dieser üblen Sache abzuraten. Alois wusste wohl, dass ein Schauspielerleben seine Schattenseiten hat, stimmte der Frau zu und versprach ihr, in diesem Sinne auf Leo einzuwirken. So überzeugt schien er von seiner Meinung, und vielleicht war er es in diesem Augenblick wirklich, dass Leos Mutter Hoffnung schöpfte; sie vertraute ihm. Andererseits war er sich im Klaren darüber, dass der Freund niemals auf seinen Wunsch verzichten werde; er würde an ihm festhalten, mochten die Schattenseiten so dunkel sein, wie sie wollten.

Er erzählte Leo von dem Gespräch, das er mit seiner Mutter geführt hatte, doch dieser winkte lächelnd ab. Er war sich seiner Sache sicher, da gab es kein Zurück. Alois hingegen war etwas bedrückt; er wusste, dass er keinen festen Standpunkt eingenommen, den Freund nicht gestützt, sondern ihn allein gelassen hatte. Du hast keinen Charakter!, sagte er sich. Doch kam das wohl daher, entschuldigte er sich, dass er mit Leos Mutter mitfühlte, dass er auch ihr gerecht werden wollte.

Wer sich sich durchsetzen will, kann nicht gerecht sein. Er muss es auf sich nehmen, anderen Unrecht zu tun. Leo tat es. Mütterchen konnte sich des beständigen Drängens schließlich nicht mehr erwehren; sie ließ den Sohn auf die Schauspielschule Kutscher nach München ziehen; das Geschäft vermietete sie. Ihre Vorstellungen von Ehrbarkeit und Solidität, ihre Wünsche nach einem gesicherten und wohlsituierten Leben des Sohnes musste sie begraben. Alois kam seltener als früher in die Willigisstraße, schließlich überhaupt nicht mehr. Er hat die Mutter des Freundes nicht wiedergesehen.

Alois' Enkel schaute zu seinem einbeinigen Onkel auf, der, was er schon früh erfuhr, Erinnerungen an Gespräche mit dem Großvater bewahrte, die er hin und wieder bruchstückartig mit anderen teilte; Gespräche über Stil und Relevanz, Realitäten und Realismus, insbesondere über Kafkas Verwandlung führten Helmut und Alois, Gespräche, die den Enkel hellhörig werden ließen. Über seine letzten Lebensjahre hinweg habe Alois bloß noch vom Bett oder Rollstuhl aus mit anderen gesprochen, da etwas in ihm das Gehen verboten hätte.

Die künstlerische Phantasie ist keine Tochter der Luft, sie ist mit der Realität verknüpft: Der Mensch ist ein antwortendes, ein arbeitendes Wesen.

Dass nämlich der Aufsteiger das Normengefüge von außen sieht und darum nicht weiß, aus welchen Gründen hier etwas getan wird: Nun kommt er ständig in Verlegenheit, weil er einen Gegenstand immer vom Ergebnis her betrachtet, wo doch aufgrund der Umstände ein Problem wohl Lösungen kennt in unbegrenzter Zahl, wenn auch nicht beliebige. Wie allerdings soll unterschieden werden zwischen Unbegrenztheit und Beliebigkeit ohne Kenntnis der Gründe?

Der Stumpfsinn ist gigantisch.

Warum es Gott nicht gibt?

Damit er nicht zu haben sei.

Kompetenz des Stils ist seine Anwendbarkeit auf die Gegenstände. Kompetenz des Künstlers ist die der Anwendung eines oder verschiedener Stile auf einen Gegenstand. Personal ist dabei die Urheberschaft des Künstlers hinsichtlich eines Stils in gleicher Weise wie bei der Originalität eines Werkes. Dabei dürfen sich die Stile eines Künstlers bis zum Widerspruch unterscheiden, auch in ein und demselben Werk. Der Stilbruch wird nicht in jedem Fall ein Werk beeinträchtigen, wenn nämlich nicht Missgeschick vorliegt, sondern Absicht, und wenn diese Absicht auf der Linie der Gesamthervorbringung liegt.

Ein Stil ist das Mittel, das es erlaubt, einen Gegenstand immer wieder in demselben Sinne darzustellen. Zufällige Abweichungen wirken dabei nicht störend, im Gegenteil, sie tragen zur Lebendigkeit und zur Authentizität der Darstellung bei. Das Entfallen des Zwanges eines identischen Abbildes verleiht dem Stil den Charakter eines Mediums, mit Hilfe dessen sich das Subjekt anhand seines Gegenstandes selbst darstellt. Selbstdarstellung des Schöpfers enthebt das Subjekt des Leides, das der Tatsache entspringt, dem Dasein unterworfen zu sein. Der schöpferische Mensch kehrt seine Unterworfenheit unter das Dasein um, indem er die von ihm ergriffenen Gegenstände zu Objekten seiner Sicht der Dinge macht. Die Autonomie des Künstlers verwandelt das Leid am Dasein zur Freude. Stil ist die Logik des Kunstwerks. Den Zeitstilen sind die Personalstile gefolgt. Im gleichen Maße, wie sie dem Künstler Erfüllung schenken, versperren sie dem Aspiranten den Weg, indem sie den Lernenden prinzipiell zum Epigonentum verurteilen.



Freitag, 20. Juni 2025

Z. Z. LVIII [»Sir Albin and the Flames XII« (2025)]

 



[»Paradise Lost«, Goedart Palm (2013)]
 


Jeder Morgen unterrichtet uns über die Neuigkeiten des Erdkreises. Und doch sind wir an merkwürdigen Geschichten arm. Woher kommt das? Das kommt, weil keine Begebenheit uns mehr erreicht, die nicht schon mit Erklärungen durchsetzt ist. Mit anderen Worten: beinah nichts mehr, was geschieht, kommt der Erzählung, beinah alles der Information zugute. Es ist nämlich schon die halbe Kunst des Erzählens, eine Geschichte, indem man sie wiedergibt, von Erklärungen freizuhalten. [Walter Benjamin »Kleine Kunst-Stücke: Kunst zu erzählen« (1928 – 1935)]




[»Wie wir dieses Kino geliebt haben...«, Goedart Palm (2023)]




Sir Albin and the Flames


Wer wollte sich wundern darüber, wie materialistisch und somit habgierig eine Jugend sei, die nach dem Strohhalm des Guten griff, das ihre Eltern noch so üppig besaßen und in das sie sie hineinstaffiert hatten, Wunschkinder, die sie am besten waren! Ja, sie sollten es immer noch besser haben und mehr von allem, nach dem Vorbild derer, denen das Mehr von allem als das galt, wovon sie dachten, das sei der amerikanische Traum, als was dieser sich auch verkaufte.

Wie man denn eben wohnte in dieser Zeit, als immerzu noch vom Krieg geredet wurde, und mehr noch von jenen Jahren direkt danach, als Wohnen hieß, dass man heizen konnte, und kochen. Selber erinnerte man sich nicht daran, dass es kaum etwas zu kochen gab, wenn man da gerade erst geboren war. Sogar an den Vater nur wenig, der bald nach der Entlassung aus der Wehrmacht eine Arbeitsstelle in seinem alten Beruf gefunden hatte, dann aber schwer krank wurde und starb. Da war man gerade in die erste Klasse gekommen. Jetzt sollte aufgewachsen werden als Junge ohne Vater, dafür mit drei Müttern, denn es gab ja zwei Schwestern, ältere, sehr viel ältere. Man musste umziehen in eine Wohnung, die das Sozialamt besorgt hatte. Küche, daneben das Schlafzimmer mit dem Doppelbett, das man sich jetzt zu dritt teilte. Die ältere der Schwestern war im Streit fortgegangen um Hals über Kopf zu heiraten. Hier also die Küche, in die man die Wohnung direkt von der Straße aus betrat. Der Küchenschrank, schon einige Male angestrichen, mit dem Brotfach aus Blech, in dem die Krümel säuerlich rochen. Teller aus gelblichem Steingut für den Alltag, auch die große Schüssel, in der der Kuchenteig gerührt wurde: Butter, Eier, Zucker, rühren, bis es nicht mehr knirscht. Der Radiotisch mit einem gehäkelten Deckchen darauf, das Radio, in dem man die Stimme sogar von jemandem hören konnte, wie er sang, und der schon gar nicht mehr lebte: Richard Tauber. Ob sich die Mutter für den interessierte, eigentlich kaum, aber den Namen kannte sie und wusste eben, dass er schon tot war. Auch Hans Albers sang im Radio, aber der lebte noch. Was es genau mit der Reeperbahn auf sich hatte, da machten die Erwachsenen so Andeutungen und verständigten sich mit Blicken. Es gab Dinge, die waren nichts für Kinder. Man hatte das Gefühl, dass es dabei mehr oder weniger immer um dasselbe ging, und womit die Erwachsenen großtaten.

Es schlief sich etwas besser im Ehebett der Eltern, als die Schwester dauerhaft auf das Küchensofa ausgewichen war, was aber ein Streitpunkt blieb, weil es seinen Ausgangspunkt darin gefunden hatte, dass sie inzwischen auch später nach Hause kam, worüber es schon zwischen der ältesten Schwester und der Mutter zum Zerwürfnis gekommen war. Fernsehen gab es so bald noch nicht, das Radio lief so leise, dass sich dabei schlafen ließ, während die Mutter mit Handarbeiten beschäftigt war und so die Uhrzeit des Nachhausekommens der Tochter überwachte.

Die Wirklichkeit, eine einzige Version von etwas, was in unendlich vielen Varianten auch existieren könnte: Die Frage nach dem Warum des Seins ist diesem so wenig angemessen wie die nach der Farbe einer mathematischen Formel. Die Unzulässigkeit einer Fragestellung lässt sich auch anders leicht anschaulich machen. Sie entspricht nämlich der Verletzung einer Spielregel. Natürlich kann der Turm in jeder beliebigen Weise ziehen, aber man spielt dann nicht mehr Schach.

Nun also die fünfziger, sechziger Jahre, die das schreiend Neue auf das Alte und noch Ältere aufpfropften. Was dreißig, vierzig Jahre alt war, war dieses sehr, weil es die Jahrzehnte waren, die mit neuen Techniken neue Materialien in den Alltag brachten. Alles, was mit Elektrizität zu tun hatte, war in Kunststoffe gefügt, denen der Strom, sie leicht oder sehr erhitzend, Düfte entweichen ließ, bitter giftig wie das Bakelit, und deren Ersatz durch weniger Bedenkliches erst noch erfunden werden musste, was aber angesichts der schieren Menge bezüglich der Belastung durch Produktgifte nicht für Besserung sorgen konnte; im Gegenteil, die früheren wenigen sehr giftigen Stoffe schadeten vergleichsweise wenig.

Überhaupt war es eine Welt des Weniger, niemand sorgte sich hinsichtlich eines Zuviels, was sollte das auch sein? Würde es jemals zu viel von etwas geben, was man sich doch gerade deshalb so sehr wünschte, weil man es nicht besaß, jedenfalls niemand, den man kannte. Überfluss und Mangel, ganz offensichtlich die zwei Seiten ein und derselben Medaille, woraus sich erklärt, dass der Übergang vom einen zum anderen unbemerkt geschah.

Das wahrhaft Bedeutende ereignete sich, entgegen der allseits verbreiteten Meinung, nicht im Verborgenen, sondern im Licht des hellen Tages und vor aller Augen. So wird denn auch hier kein Geheimnis enthüllt, oder aus den Tiefen irgendeiner verklärten Vergangenheit hervorgeholt und im schönsten erzählenden Imperfekt in seinen Elementen wie Perlen auf einer Schnur fein aufgefädelt. Das Geheimnis, wenn es denn eines ist, besteht darin, wie man sich plötzlich, weil eine Geschichte erzählt wird, interessieren kann für Dinge, die man im Allgemeinen für uninteressant, weil alltäglich hält. Im Gegenteil, uninteressant wäre eine Geschichte voll des Unwahrscheinlichen und Übertriebenen, die Erstaunen erzeugen wollte, während das Publikum sich allenfalls fragt, ob der auf diese Weise zustande gekommene Kunstgenuss seinen Preis rechtfertigt.

Heldentum ist Gegenstand von Geschichten, die man sich darüber erzählt, weshalb man Helden in der Wirklichkeit natürlich vergeblich sucht. Auch Individualität ist eine solche Illusion wie das Heldentum und darum ein Gegenstand, dessen gerade die Massengesellschaft in besonderem Maße bedarf.

Forscht man nun nach einem Helden, sagen wir, wie Elvis einer war, so geht man nicht fehl, wenn man seine Geschichte jemandem erzählt, für den Elvis ein Held war, ja der Held seines Lebens. Es mochten noch andere Helden hinzukommen, aber jeder war etwas blasser als der vorige und sein Bild verschwamm im Dunst ferner Bläue. Die Leuchtkraft jenes ersten aber ließ keineswegs jemals nach, im Gegenteil, Licht aller wahren Helden, weiter und heller strahlte es in dem Maße, wie die Liebe in der Wärme des Herzens seines Bewunderers wuchs in seliger Erinnerung.



Montag, 19. Mai 2025

Z. Z. LVII [»Fugenthema: Die Musik der Zahlen« aus Val Sidals »Fakeforce – Himmels Körper« (2024)]

 


[»Fugue«, Wassily Kandinsky (1914)]




Das ist es: wir leben mit Toten, und die denken nicht um.

[»Triptychon«, Max Frisch (1976 - 1979)]





[»J. S. Bach: The Art of Fugue, Contrapunctus IV«, Glenn Gould]







Fugenthema – Die Musik der Zahlen

(Präludium zur Fakeforce-Staffel II - Nocebo)





Das Licht war weich.

Es tropfte durch die geschlossenen Läden wie gestauter Atem.

Frieda hörte nichts. Aber das war falsch.

Sie hörte.

Die Welt hatte sich zurückgezogen.

Was blieb, war ein Pochen – Paukenschläge auf dem Zwerchfell.

Die zerschnittene, zerschlissene Zeit hat nur eine im Unterton eingefaltete Struktur liegengelassen.

Frieda wollte nicht enden. Nicht so.

Mit aller Kraft hörte sie in ihr Herz hinein.

Pochen.

Pochen.

Continuo.

Und dann entfaltete sich der erste Unterschied: eine Oktave.

In ihr trug jede Zahl einen Ton.

Und alle Töne auf Fourieres Flöte gespielt.

Sie lag still.

Doch die Zahlen bewegten sich.

Sie waren keine Zeichen mehr, sondern Intervalle.

11 war ein Fa. 13 ein La. 5 sprang wie eine Dominante. 2 fiel wie eine Subdominante zurück. Es war kein Klang im Raum, und doch war alles Musik.

In ihrem Inneren erklang eine Tonleiter:

 Do → Re → Mi → Fa → So → La → Ti → Do'

Frieda wusste: n mod 8 war kein Rest. Es war eine Stimme.

Sie erinnerte sich. An die Zahl 11. Wie oft sie sie gedreht hatte. Wie sie ihr in den Träumen begegnet war. Aber jetzt wusste sie: 11 fiel. Es wollte nicht aufsteigen. Es wollte zurück. Die Musik wollte nicht klingen. Die 11 war eine Lücke in der Partitur.

Ein Schatten bewegte sich.

Keine Stimme.

Kein Bild.

Aber ein Hauch von Präsenz.

Sie nannte sie Emmy. Aber das war nicht ihr Name.

Larissa war nicht da.

Und doch spielte sie.

Frieda spürte es in den Fingerspitzen.

Die Struktur der Musik kam von außen, aber sie war in ihr.

Ein Kanon, der sich selbst schrieb.

Noch keine Fuge. Noch keine Gegenstimme. Aber ein Motiv.

Klar wie ein erstes Licht auf mattem Glas.

Das Präludium hatte begonnen.

 

Ein Akkord formte sich. Modulo 8. Drei Stimmen, aber nur zwei waren zu hören.

Die dritte war noch stumm.

Frieda lächelte in sich hinein. „Die Zahlen wollen singen.“

Der Monitor über ihrem Bett zeigte Standbild. Ein kleiner Fisch schwamm durch das Glas. Und in der Luft hing etwas, das wie ein letzter Klang war, der noch nicht ganz angekommen war.

Und irgendwo – vielleicht in einem anderen Traum, vielleicht in einer anderen Stimme – stimmte jemand die erste Zeile der Fuge an.

Ein Dreiklang wagte die Entfaltung Modulo 8.



DUX:   Re→ → → Mi→ → → Do→ → →La→ → → So→ → →11

 

COMES:                         Mi→→→Fa→→→ Re→→→ Re→→→ Do









Drei Stimmen, aber nur zwei waren zu hören.

Die Dritte musste warten.



cadenza

 

den Text geschrieben.

das Kriegstagebuch zitiert.

die Figuren erfunden.

die Beweise geliefert.

gesehen, was niemand sehen wollte.

gerechnet, was nie messbar war.

die Sprache mit Absicht zerlegt.

alles verdichtet.

mich selbst versteckt.

alles verloren, was mir genommen wurde.

war nicht im Krieg.

aus einem toten Winkel gekommen.

über das Leben gestolpert.

das Kind im Dreck liegen gelassen.

weitergemacht.

diesen Text beendet.

ihn ausgedruckt.

ihn gebunden.

ihn veröffentlicht.

habe es getan.

Ich bin’s nicht gewesen.



Samstag, 19. April 2025

Z. Z. LVI [»Aus dem Noktarium« von Walter Graf (1975 - 1995)]

 


[»Transparence«, Goedart Palm (2013)]



In allen Häusern, an denen er vorbeikam, war es dunkel. Er hatte Zeit, angenehm spürte er die Nachtkühle auf der Haut, in seinen Ohren summte das Blut. Für einen Augenblick schien es ihm, als sei er der einzige Mensch auf der Welt, und er streckte sich innerlich. [Gert Loschütz »Das erleuchtete Fenster. Erzählungen« (2007)]




[»Nightsong«, Paola Prestini (2008)]




Versunken in die Nacht. So wie man manchmal den Kopf senkt, um nachzudenken, so ganz versunken sein in die Nacht. Ringsum schlafen die Menschen. Eine kleine Schauspielerei, eine unschuldige Selbsttäuschung, daß sie in Häusern schlafen, in festen Betten, unter festem Dach, ausgestreckt oder geduckt auf Matratzen, in Tüchern, unter Decken, in Wirklichkeit haben sie sich zusammengefunden wie damals einmal und wie später in wüster Gegend, ein Lager im Freien, eine unübersehbare Zahl Menschen, ein Heer, ein Volk, unter kaltem Himmel auf kalter Erde, hingeworfen wo man früher stand, die Stirn auf den Arm gedrückt, das Gesicht gegen den Boden hin, ruhig atmend. Und du wachst, bist einer der Wächter, findest den nächsten durch Schwenken des brennenden Holzes aus dem Reisighaufen neben dir. Warum wachst du? Einer muß wachen, heißt es. Einer muß da sein. [Franz Kafka »Nachts. Prosaskizze« (1920)]





[»Feeling Blue«, Goedart Palm (2013)]




Through endless night the earth whirls toward a creation unknown...

[Henry Miller »Tropic of Cancer« (1934)]





[»Night Fantasies«, Elliott Carter (1980)]




What hath night to do with sleep?

[John Milton »Paradise Lost« (1667)]





Aus dem Noktarium





Auf den Dachterrassen liegend, räkeln sich die Frauen nackt im Mondschein, um sich von ihm bleichen zu lassen.



Nach Mitternacht. Der Rollladen ist hinter dem letzten Gast heruntergerasselt. Die Strassenampel schwankt im Wind; ihr Lichtschein pendelt über den Fussgängerstreifen. In den Pfützen spiegeln sich die Blinklichter wider: rote und grüne Schlieren, die auf dem Asphalt verzittern.

Ein Mann hockt auf dem Rinnstein; er hat den Kopf in den aufgestülpten Kragen seiner Jacke gezogen und lauscht dem Glucksen des Regenwassers, das unter seinen Absätzen durchrinnt. Der Wirt, der hinter ihm seine Kneipe dichtgemacht hat, wirft noch einen Blick durch das Fenster, ehe er den Vorhang zieht.




[»Blue Fruits«, Goedart Palm (2013)]




Betrunkene Seehunde robben sich aus der überschwemmten Tiefgarage; der Bierschaum glitzert in ihren Schnauzhaaren.



Die Fenster des Erdgeschosses sind mit Schaltafeln verbarrikadiert. Der Keller steht unter Wasser. Auf der Treppe liegen die Überreste der Tauben, die sich an den Wänden ihren Kopf eingeschossen haben. Der Aasgeruch, der das Treppenhaus erfüllt, hält den Nachtwächter davon ab, die oberen Stockwerke zu inspizieren. Er begnügt sich damit, den Schein seiner Taschenlampe im Kreis herumschweifen zu lassen.

 

Frauen waten, ihre Röcke schürzend, durch den Morast. Bei jedem Schritt scheppern die Pfannen, die sie auf dem Rücken tragen. Wenn der Zug über den Bahndamm rattert, bleiben sie, von seinem Licht geblendet, stehen und halten den Atem an, bis er vorüber ist. Manch eine von ihnen würde jetzt lieber in einem der Waggons sitzen und, in Erwartung der baldigen Heimkunft, vor sich hin träumen; aber es geht weiter, es geht immer weiter so. Schritt für Schritt ins Ungewisse, scheppernde Pfannen auf dem Rücken.




[»Old TV-Set«, Goedart Palm (2013)]




Traum: In der leeren Bar im 1. Stock des Restaurants Cantina, wo ich nachts, wenn ich in der Altstadt unterwegs bin, jeweils meine Dienstpause zubringe, wurde ich regelmässig von einer Nigerianerin empfangen, die, in der dunklen Garderobennische auf einer Matratze liegend, bereits nackt ausgezogen war, wenn ich erschien, als gälte es, ja keine Zeit zu verlieren; nicht einmal den Kopf hob sie zu meiner Begrüssung; höchstens, dass sie, mein stillschweigendes Einverständnis voraussetzend, wohlig ihre Glieder dehnte, wenn ich den Vorhang zurückschlug… Ich trat an ihr Lager und liess mich seufzend in ihre Arme sinken, zwischen ihre Schenkel, die so schwarz waren wie die Nacht, aus der ich gekommen war.



Gäbe es ein Haus, das ich mein Eigen nennen könnte, so wäre es die Nacht.



Pause in der Personalkantine der NZZ-Redaktion. Ich hatte mich mit der wärmenden Suppe, die mir der Koch geschöpft hatte, in einen stillen Winkel gesetzt. Durch die Fensterscheiben, in denen sich die gedämpften Lampen spiegelten, sah ich die ersten Schneeflocken fallen. Die Fassade des Opernhauses auf der gegenüberliegenden Strassenseite war in ein oranges Licht getaucht. Im Radio, das der Koch hinter dem Buffet eingeschaltet hatte, lief heimwehselige Country-Musik. Mein Gesicht über die dampfende Suppe geneigt, hatte ich mit Löffeln innegehalten; ich schaute und lauschte nur noch.




[»Nocturne for Jûshichigen«, Toshio Hosokawa (1982)]




Sie streckt ihren Arm aus den schweissfeuchten Leintüchern und tastet im Dunkeln nach dem Nachttopf. Mit einem trägen Seitenschwung lässt sie sich aus dem Bett plumpsen. Sie rafft das Nachthemd hoch und verteilt ihre Masse auf dem Topf, den sie sich untergesetzt hat. Kichernd blinzelt sie zwischen den Strähnen, die ihr ins Gesicht hängen, hervor. Die weissen Gestalten, die sich immerzu um ihr Bett drehen, heute sind sie ihr freundlich gesinnt. Sie vermeint in ihnen abwechselnd ihren Vater und ihre Mutter und ihren Grossvater und ihre Grossmutter zu erkennen, und nickt ihnen aufmunternd zu. Dass sie dabei mit den Fingern im Kot, der sich in ihrem Nachttopf aufgehäuft hat, herumstochert, das merkt sie nicht. Sie wäre jetzt ganz zufrieden; wenn sie bloss wüsste, wie sie nun eigentlich heisst: Marianne oder Annemarie? Diese Frage beschäftigt sie seit langem schon.



Traum: Obwohl ich meinen Dienst erst angetreten habe, ist es in der Altstadt bereits stockfinster. Während ich auf der Niederdorfstrasse in Richtung Hirschenplatz gehe, streben die Passanten, von denen ich in der bedrohlichen Dunkelheit nur schemenhafte Gestalten zu erkennen vermag, alle in die Gegenrichtung, als hätten sie Angst, die Strassenbahn zu verpassen… Die Luft wird, je weiter ich gehe, umso stickiger. Aber ich merke erst jetzt, wo die letzten Nachzügler an mir vorüberhasten, dass es inmitten der Altstadt zu einer Katastrophe gekommen sein muss, einem Brand von unabsehbaren Ausmassen, der, eine schwarze Rauchwolke vor sich her schiebend, die Menge in Panik versetzt hat. Hätte ich auf der Stelle kehrtgemacht, um den anderen zu folgen, so wäre ich der drohenden Gefahr vielleicht noch entronnen. Stattdessen gehe ich weiter, hustend und tränenden Auges weiter, geradewegs auf den undurchdringlichen Qualm, der sich zwischen den Häusern heranwälzt, zu, bis er mich verschlungen hat.




[»Nocturnes, op. 9 No. 2«, Frédéric Chopin (1832)]




Es hört und hört nicht auf zu regnen; der Keller steht schon unter Wasser. Schwarze Fledermäuse, durch die Dachluke hereingeschwirrt, liegen zerschmettert auf dem Estrich. Die Glühbirne, die von der Decke hängt, hat im Kreis zu schwingen begonnen. Im Badezimmer kniet brabbelnd ein Mann neben der Wanne, in der – ist es die Möglichkeit? – ein Krokodil sich reckt, von gelben Flechten überzogen… Es ist der Vater, der betrunken von seinem Nachtdienst nachhause gekommen ist.



Link liebte die Nacht. Sobald die Dämmerung anbrach, begann er sich draussen in seinem Element zu fühlen. War er untertags zur Beute seiner Sinneseindrücke geworden, so gehörte er nachts wieder sich selbst. Das Tageslicht hatte ihn, indem es seine Aufmerksamkeit auf die Vielfalt der Dinge lenkte, seiner Innenwelt abspenstig gemacht; aber nun, wo die Dinge in den Schatten zurücktraten, gewann er wieder die Oberhand über sie; es war, als würden seine Sinne sich nunmehr nach innen öffnen.

Nichts förderte seine Verbundenheit mit den Anderen stärker als die nächtliche Einsamkeit. Gerade ihre Abwesenheit vermittelte ihm das Bewusstsein ihrer Gegenwart. Wären sie leibhaftig zugegen gewesen, sie hätten ihm nicht so nahe sein können wie in den einsamen Stunden, die er ihrem Andenken widmete, als wären sie bereits gestorben. Die Schranke, die ihn im Alltag von den Anderen trennte, wurde in der Dunkelheit aufgehoben. Insofern war die Nacht eine Vorwegnahme des Todes, der ihn endgültig mit ihnen verbinden würde.




[»4 Nachtstücke, op. 23«, Robert Schumann (1839)]




Von einer gewissen Stunde an sind auf der Strasse fast nur noch Penner, Säufer, Huren und Junkies anzutreffen. Selbst die sogenannten rechtschaffenen Leute erscheinen in einem schiefen Licht: so begegnet mir der Prokurist, der mir noch vor wenigen Stunden mit einer wichtigtuerischen Gebärde seine Unterschrift ins Rapportbuch gesetzt hat, unversehens in der Gestalt eines der Homos wieder, die ich aus der Bedürfnisanstalt, in welcher sie sich miteinander eingeschlossen haben, hinausweisen muss… Als Nachtwächter sieht man die Welt von einer anderen Seite als diejenigen, die am Tag arbeiten. Die Kategorien, in die sich die Leute sonst einzuteilen pflegen, gelten in der Nacht nicht mehr – am allerwenigsten in der Fastnacht, wo die Unterschiede, die zwischen Klassen, Rassen, Geschlechtern und Nationalitäten bestehen, mutwillig aufgehoben werden. Solange sie in ihren gesellschaftlichen Vorurteilen befangen bleiben, sind die Menschen unerträglich. Was sie miteinander auszusöhnen vermag, ist einzig und allein der anarchische Zug an ihnen, den die Nacht zur Geltung bringt.



Liegenbleiben, wie man vor Stunden, als es noch dämmerte, eingeschlafen ist. Kein Licht anzünden, um die Dunkelheit, die sich in der Zwischenzeit ausgebreitet hat, nicht zu verscheuchen. Reglos liegenbleiben, damit der Bann nicht gelöst wird. Ganz Auge, ganz Ohr sein, gespannt darauf, was man nun, wo kaum noch etwas zu hören und zu sehen ist, wahrnehmen wird. Abwarten, bis das letzte Geräusch verstummt ist, als hätte man ein Lauschen entdeckt, das sich umso mehr lohnt, je weniger es vernimmt.

Ob man endlich einen Blick auf das, was einem sonst immer entgeht, erhascht, wenn die Wände, vom Scheinwerfer des letzten Autos gestreift, das draussen um die Verkehrstafel biegt, wieder in die Dunkelheit zurückgesunken sind? Erst dann, wenn sich nichts mehr zwischen den Blick und die Dunkelheit, nichts mehr zwischen das Gehör und die Stille schiebt, erst dann vielleicht gibt das Geheimnis vollends sich preis.




[»Homage to the School of Barbizon (Nocturne)«, Goedart Palm (2015)]




Der Morgen hat die Hausblöcke in Milch getaucht. In den Fensterscheiben spiegeln sich leuchtende Wolken. Aus dem Hinterhof steigt das Gurren der Tauben, die zwischen den Kontainern die Abfälle verlesen. Schlaftrunken kommt die erste Strassenbahn aus dem Depot geholpert; der Kopf des Wagenführers, der vor Müdigkeit vornübergekippt ist, fällt von einer Seite auf die andere. Auf der Traminsel liegt eine abgehäutete Kuh. Der Strassenkehrer zündet sich eine Zigarette an, bevor er den dampfenden Kadaver mit Sägemehl bestreut. Eine Hausfrau beugt sich im Negligé aus dem Fenster, um den Laden festzumachen; ihre Brüste quellen, vom Schlaf aufgeweicht, über den Saum ihres Unterrocks. Aus dem Hintergrund schellt ihr Wecker.